Der Freund der Toten

Jess Kidd – Der Freund der Toten
DuMont Buchverlag , 2017
übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Wir schreiben das Jahr 1976: Der 26-jährige Mahony, ein Dubliner Grossstädter mit langen Haaren und noch weiteren Hosen, macht sich auf ins verschlafene Dorf Mulderrig, um mehr über seine Herkunft zu erfahren. Denn laut einem Schreiben, das dem Waisenkind Mahony nach dem Tod einer Schwester des Ordens, der ihn aufgezogen hat, übergeben wurde, stammte seine leibliche Mutter aus eben diesem Dorf. Seine Mutter hiess Orla Sweeney, und ihren Sohn nannte sie Francis. Sie und ihr kleiner Junge verschwanden 1950 spurlos. Was ist damals geschehen?

Bereits auf der ersten Seite wird klar, dass Mahonys Mutter nicht mehr am Leben ist. Die damals 16-jährige Orla starb eines gewaltsamen Todes – sie wurde vom Vater ihres Kindes getötet und ihre Leiche auf einer geheimnisvollen Insel im Fluss des Waldes oberhalb des Dorfes verscharrt. Wie durch ein Wunder wurde der kleine Junge gerettet – der Wald hatte ihn unsichtbar werden lassen.

Das nächste Kapitel spielt 26 Jahre später und wir kommen mit Mahony in Mulderrig an. Herrlich wird die überschaubare und auch etwas beengende Dorfszenerie mitsamt ihren (Un-)Gestalten von Jess Kidd beschrieben; wir lernen Tadgh, den fettleibigen, furzenden Schankwirt, kennen, die Betreiberin des Lebensmittelgeschäfts, den griesgrämigen, schleimigen Priester und einige weitere denkwürdige Figuren mehr. Alle glauben sich zu kennen, und der Alltag des Dorfes ist mehr als voraussehbar geworden. Doch mit Mahonys Ankunft ändert sich dies schlagartig: Denn der gutaussehende junge zieht nicht nur die bewundernden Blicke der unverheirateten (und verheirateten) Frauen des Dorfes auf sich, sondern auch der Toten. Der Autorin gelingt es, die überraschende Tatsache, dass der junge Mann die Toten sehen und sogar mit ihnen reden kann, so feinfühlig und so nebenbei einzuführen, dass sie ganz natürlich erscheint. Er tut dies nämlich völlig unaufgeregt, ohne Angst und voller Respekt. Die Schatten der Verstorbenen sind omnipräsent, und sie freuen sich ungemein, endlich mal wieder von jemandem „gesehen“ zu werden. Dass Mahony diese Gabe von seiner Mutter geerbt hat, wird man erst im Lauf der Geschichte erfahren.

Mahony verschweigt erst einmal, dass er der Sohn von Orla Sweeney ist. Denn schon bald merkt er, dass das Dorf gar nicht gut auf dieses düstere Kapitel der Geschichte Mulderrigs zu sprechen ist. In den letzten 26 Jahren hatte sich das Dorf darauf geeinigt, die Ereignisse aus dem Jahr 1950 zu vergessen. Man war sich einig, dass ihr Verschwinden für die Dorfgemeinschaft das Beste war, denn schliesslich hatte so eine unverschämte, gottlose und unzüchtige Person in ihren Reihen nichts verloren. Als Mahony mit Hilfe der äusserst charmanten alten Mrs. Cauley, einer ehemaligen berühmten Schauspielerin mit einem grossen Herzen und einem ebenso losen Mundwerk, seiner treuen Gastgeberin Shauna und des toten Mädchens Ida anfängt, Ermittlungen aufzunehmen, wird gehörig Staub aufgewirbelt und nicht nur die lebenden, sondern auch die toten Menschen des Dorfes und die ganze Natur geraten in Unordnung. Voller Spannung springt man als Leser_in zwischen den Jahren 1950 und 1976 hin und her, erfährt in Rückblenden, warum seine Mutter im Dorf so unbeliebt, ja gehasst wurde, und zum Schluss auch, wer Mahonys Mutter getötet hat (und damit, wer sein Vater war).

Dieses Buch ist viel mehr als ein Kriminalroman. Es ist ein Buch über die Suche nach der eigenen Identität, über Freundschaft, über die Liebe, und auch darüber, dass wir auf dieser Welt vielleicht doch nicht so allein sind, wie wir das gerne glauben würden. Jess Kidd schreibt in einer wunderbar leichten, bilderreichen Sprache, und es gelingt ihr, mit Mahony und der alten Miss Cauley besonders liebenswerte Charaktere zu schaffen, die man im Lauf der Lektüre wirklich gern bekommt. Ausserdem ist es beeindruckend, wie sie eine Welt zu beschreiben vermag, in der nicht nur die lebenden Menschen eine Seele haben, sondern auch die Bäume, der Wind, die Tiere und die Toten, die auch als Schatten nicht von uns weichen. Was für ein wunderschönes Buch!