Die Abstiegsgesellschaft

Oliver Nachtwey – Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne.
Suhrkamp. 2016

Oliver Nachtwey liefert mit seinem Buch „Die Abstiegsgesellschaft“ ein Fundament für zeitnahe Gesellschaftskritik. Er erläutert den Weg vom sozialen Aufstieg der Nachkriegszeit hin zum Status quo wachsender Prekarisierung. Mit den Methoden der Kritischen Theorie analysiert er die Gegenwart und wirft ein Licht auf aktuelle Formen des Aufbegehrens.

Wie Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ – eine autobiographische Erzählung aus der französischen Arbeiter*innenklasse des letzten Jahrhunderts – wurde auch Oliver Nachtweys „Die Abstiegsgesellschaft“ rasch zum Bestseller. Das mag daran liegen, dass sich die beiden doch sehr unterschiedlichen Bücher in ihrer Diagnose der Gesellschaft ähneln. Beide münden in die Aufforderung an die Linke sich wieder vermehrt dem Begriff der Klasse anzunehmen. In Zeiten, in welchen die strukturell bedingte Chancenungleichheit ansteigt und sich ein guter Teil der davon Betroffenen rechtspopulistischen Parteien zuwendet, scheint dieser Aufruf auf fruchtbaren Boden zu fallen.

Nun ist Nachtweys Buch keineswegs bloss das deutsche Pendant zu Eribons soziologisch gehaltvoller Erzählung. Während Eribon sein Buch autobiographisch aufzieht, bleibt Nachtwey ganz und gar klassischer Soziologe. Anstatt beim Erlebten zu beginnen, knüpft Nachtwey an Daten und Erhebungen an. Das mag auch biographische Gründe haben. Während Eribon als homosexueller Unterschichtsjunge sowohl klassenbedingte wie genderspezifische Diskriminierung am eigenen Leibe zu spüren bekam – und es schliesslich dennoch auf journalistischen Umwegen und entgegen allen Statistiken zum Soziologieprofessor gebracht hat –, wirkt der Lebenslauf von Oliver Nachtwey eher konform. Geboren 1975 im beschaulichen Unna (NRW), 2003 in Hamburg zum Volkswirt diplomiert, promovierte er 2008 in Göttingen zur Frage der Legitimität einer Marktsozialökonomie. Danach arbeitete er einige Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Jena, Trier und Darmstadt, sowie als Fellow am geschichtsträchtigen Frankfurter Institut für Sozialforschung. Ab August dieses Jahres tritt er die Professur für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel an.

Neben der Form unterscheidet die beiden Bücher auch der geographische Fokus. Eribon verbindet seine Studie eng mit dem Unterschichtsmilieu der französischen Vorstadt Reims, welchem er selber entstammt. Auf beeindruckende Weise verdeutlicht er, wie sich in diesem Kontext die Grenzen zwischen den Klassen verstärkt haben und deutet an, weshalb sich die Betroffenen von linken Parteien, die sie früher gewählt haben, verraten fühlen. Nachtwey dagegen nimmt vor allem die Verhältnisse in Deutschland in den Blick. Das Verdikt bleibt – wie gesagt – ein Ähnliches: Bei den westlichen Gesellschaften von heute handelt es sich um im Abstieg begriffene.

Vom Fahrstuhl zur Rolltreppe

Eine eingängige Metapher verbildlicht diese Diagnose: Die aktuelle Gesellschaft, so Nachtwey, gleicht einer nach unten verlaufenden Rolltreppe. Diese Metapher gewinnt an Kontur, wenn man sie dem Begriff des Fahrstuhleffekts gegenüberstellt. Diese spezifisch deutsche Umschreibung der ökonomischen Trickle-down-Theorie wurde von Ulrich Beck geprägt und besagt, dass in den ersten dreissig Jahren der Nachkriegszeit – trotz zuweilen grosser Unterschiede zwischen Arm und Reich – letztlich alle gesellschaftlichen Schichten vom Aufschwung profitierten. Alle nahmen Platz im Aufzug des Wirtschaftswunders. Zudem ging der wirtschaftliche Aufstieg meist mit sozialem Aufstieg einher. Die soziale Mobilität war hoch, soziale Klassenschranken wurden abgetragen, Bildungschancen nahmen zu, der Sozialstaat wurde ausgebaut und war weithin akzeptiert.

Ab Mitte der 70er Jahre begann die Wirtschaft zu schrumpfen und der Wille zur sozialen Integration schwand zunehmend. Die zunehmende Implementierung von Markt- und Wettbewerbsmechanismen führte zu Privatisierung, Abbau des Sozialstaates und Beschneidung von Bürgerrechten. Es wurden vermehrt befristete und prekäre Arbeitsverhältnisse institutionalisiert, womit schwindende Aufstiegschancen und sinkende Mobilität zwischen den sozialen Klassen einhergingen. So fand sich die untere Mittelschicht auf einer nach unten verlaufenden Rolltreppe wieder. Nicht mehr der Fahrstuhl nach oben, sondern die Tendenz des sozialen Abstiegs, versinnbildlicht das Selbstverständnis grösserer Teile der aktuellen Gesellschaft.

Empirisches Fundament, dialektische Umsicht

Nachtweys Diagnose ist nicht neu. Was sein Buch aber besonders lesenswert macht, ist die Ausgewogenheit zwischen Weitblick und Präzision. Grobe Entwicklungsstriche werden durch umfassende Statistiken und Literaturverweise gestützt, ohne dass sich Nachtwey in den Daten verheddert. In schnörkelloser Sprache verknüpft er so unterschiedliche Themengebiete wie statistische Wirtschaftswissenschaft, die Geschichte der Gewerkschaften und sozialpsychologische Studien zur Autorität; all dies in einer Weise, die auch dem soziologisch ungeschulten Auge einen Überblick erlaubt. Damit unterscheidet er sich, was die sprachliche Form angeht, von vielen seiner Vorgänger am Institut für Sozialforschung. Man denke etwa an die verwickelten Sätze eines Adorno oder an jene von Walter Benjamin. Methodisch dagegen ist das Erbe dieser Denker stets präsent. Eine an Hegel und Marx geschulte, ideologiekritische Gesellschaftsanalyse bildet den Hintergrund von Nachtweys Studie. Neben dem steten Rückbezug auf die Empirie hat das Buch einen durchaus dialektischen Ton; der Einfluss der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Theoriebildung wird stets mitgedacht.

Die dialektische Versiertheit Nachtweys zeigt sich etwa an der Frage, weshalb neoliberale Ideen in den achtziger Jahren in weiten Teilen der Bevölkerung derart grossen Zuspruch fanden. Den neoliberalen Strömungen sei es etwa gelungen, Aspekte der linken Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und am kapitalistischen System für sich zu nutzen. Beispielsweise wurde das Gefühl des Eingeschränkt-seins in der individuellen Selbstentfaltung geschickt mit der These verknüpft, dass verstärkte staatliche Regulierungen Ursache dieser Einschränkungen seien. So wurde eine Komplizenschaft geschaffen zwischen dem individuellen Streben nach mehr Autonomie und der flächendeckenden Einführung von Marktmechanismen in beinahe allen Lebensbereichen. Die Teufelsmühle dieser Komplizenschaft offenbart sich nun, indem scheinbar flexible Arbeitsverhältnisse sich in zunehmend prekäre verwandeln und mit bisweilen perfiden Formen der Selbstausbeutung einhergehen.

Formen des Aufbegehrens

Im letzten Kapitel seines Buches kommt Nachtwey auf unterschiedliche Formen des Aufbegehrens zu sprechen. Es kommen Phänomene wie die Protestbewegung Podemos in Spanien, die rechtsextremen Pegida, die Occupy-Bewegung der Nullerjahre, Demonstrationen gegen den neuen Bahnhof in Stuttgart und Hartz IV oder die Tarifstreiks der Gewerkschaften zur Sprache. Ohne in diese Phänomene vertieft einzutauchen, vermag Nachtwey doch, sie nach Ziel und Triebkräften zu differenzieren. Linken Bewegungen attestiert er durchaus das Potenzial zu Klassenbewegungen zu werden, momentan seien sie jedoch noch weit davon entfernt. Was ihnen vor allem fehle, sei ein Narrativ; eine Vision. Gefragt wäre also ein linker Populismus? Ja, meint Nachtwey im Interview mit der Wochenzeitung (Woz 49/2016), aber ein demokratisch fundierter und sich selbst reflektierender. Und vor allem: ein faktentreuer. Nachtweys Buch liefert dafür ein solides Fundament.