nichts, was uns passiert

Bettina Wilpert: nichts, was uns passiert.
Verbrecher Verlag 2018.

Es ist Sommer 2014; der Sommer, in welchem Deutschland Fussballweltmeister wird. Anna und Jonas begegnen sich zum ersten Mal im Mai, so erinnert sich Anna, auf den Stufen der Universitätsbibliothek Leipzig. Jonas dagegen berichtet, dass es im Juni war, in einer Kneipe. Auf jeden Fall laufen sich die beiden erneut über den Weg. Sie ziehen zusammen um die Häuser, trinken Wodka, unterhalten sich über Literatur und über Annas Geburtsstadt Winnyzja in der Ukraine, die Jonas, der einen längeren Auslandsaufenthalt in Kiew verbrachte, vage kennt. Betrunken und hungrig landen die beiden schliesslich in Jonas` WG und schlafen miteinander. Um beiden ein peinliches Frühstück zu ersparen, verlässt Anna die WG früh morgens.

Als sie Jonas ein paar Tage später fragt, ob er noch zu ihr kommen will, lehnt er verlegen ab und verweist auf die gerade erst beendete Beziehung mit Lisa. Anna, die keinen Moment an etwas Ernstes dachte, fühlt sich vor den Kopf gestossen und die beiden gehen sich aus dem Weg. Als Annas bester Freund, Hannes, seinen dreissigsten Geburtstag in Jonas’ Garten feiert, ignorieren sich Anna und Jonas erst, kommen dann aber doch ins Gespräch. Anna wird immer betrunkener bis sie schliesslich kaum mehr stehen kann. Hannes und Jonas bringen sie in Jonas’ Zimmer. «Anna sagte, sie hatte einen Filmriss, aber keinen durchgehenden. […] Sie konnte sich erinnern: Dass sie auf Jonas’ Bett lag. Dass er ihre Hose auszog. Sie registrierte erst nicht was passierte. Als sie es merkte, wehrte sie sich, aber er war stärker, drückte sie an den Handgelenken in die Matratze.»

«Jonas sagte, dass es einvernehmlicher Sex war.» Schliesslich hätte er ein Kondom benutzt und sie hätte sich nicht gewehrt. Annas und Jonas’ Aussagen stehen auf derselben Seite des Buches und bilden den dramaturgischen Knotenpunkt des Romans. Dahinter steht die geschickte Wahl der Erzählperspektive. Die Erzählperson – von der man praktisch nichts erfährt – hat mit den Figuren des Romans Interviews geführt und gibt nun das Ausgesagte wieder. Das für sexualisierte Gewalt typische Fehlen nicht beteiligter Zeugen wird so direkt in der Erzählstruktur abgebildet. Zudem wird man als Leser*in implizit in die Beurteilung des Geschehens hineingezogen, da man stets dazu gedrängt wird, in der Sache Stellung zu beziehen. Bettina Wilpert scheint es jedoch nicht darum zu gehen, den Anspruch auf Objektivität durch indirekte Rekonstruktion des Geschehenen zu unterlaufen; was hier geschildert wird, ist real und stets in beklemmender Weise präsent.

Anna zieht sich zurück, verlässt ihre Wohnung über Wochen kaum noch. Erst nachdem sie an einer Familienfeier einen Zusammenbruch hat, bricht sie das Schweigen und spricht mit ihrer Schwester Daria. Diese rät ihr, Jonas anzuzeigen. Anna ist dagegen, die Polizei einzuschalten, sie will in erster Linie, dass Jonas einsieht, was er getan hat und sich entschuldigt. Nach einer zufälligen, für Anna verstörenden Begegnung fährt sie dennoch zur Polizei und erstattet Anzeige. Damit kommt «der Fall», wie Anna selbst ihn zuweilen nennt, in gesellschaftlicher Hinsicht ins Rollen.

An Annas bestem Freund Hannes beispielsweise zeigt Wilpert eindrücklich, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der es naheliegender ist zu glauben, dass das Opfer lügt, als sich einzugestehen, dass ein normaler Mensch – gar ein nahestehender – zum Vergewaltiger werden kann. Doch nicht nur im nahen Umfeld machen sich Abgründe auf. Es gibt beinahe kein anderes Thema mehr «als den gewalttätigen Vergewaltiger und das schutzlose Opfer. Die junge Frau, die betrunken mit einem Mann Sex gehabt und nicht aufgepasst hat.» Alle scheinen gezwungen, Stellung zu beziehen und es kursieren die verschiedensten Anschuldigungen. Schliesslich werden Annas und Jonas’ Namen bekannt und Jonas wird von seinen ehemaligen Mitstreiter*innen der M16, einem linken Kollektiv, ausgeschlossen. Anna wird von einer Awareness-Gruppe angeboten dafür zu sorgen, dass Jonas an weiteren Orten Hausverbot erhält. Ob sie über ihr Erlebnis sprechen möchte, so eine Frage. «Anna war sprachlos. Erlebnis? Erfahrung, das traf es vielleicht. Vergewaltigung war auf jeden Fall der richtige Begriff, sexualisierte Gewalt – auch gut, aber Erlebnis?»

In ihrem Roman schildert Bettina Wilpert die gesellschaftlichen Auswirkungen, die sexualisierte Gewalt nach sich zieht. Sie legt mögliche Affekte und Reaktionen der unmittelbar Betroffenen dar und macht Strukturen und Dynamiken kenntlich. Wilpert beleuchtet zudem juristische Aspekte und verweist nicht zuletzt auf die Tatsache, dass es in den allermeisten Fällen sexueller Straftaten nicht zur Anklage kommt und bei diesen nur in den allerwenigsten zu einem Schuldspruch. Trotz des breit angelegten Unterfangens gelingt es Wilpert, das Urteil über die Tat nicht zu verwässern.