Am Seil

Erich Hackl: Am Seil. Eine Heldengeschichte.
Diogenes 2018

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Die Erzählung Erick Hackls erinnert an Anne Franks Schicksal. Wie letztere in Amsterdam, so verstecken sich Lucia und ihre Mutter Regina Steinig in Wien während der für Juden lebensbedrohlichen Phase des Nationalsozialismus in der Werkstatt eines Freundes. Dieser Freund – Reinhold Duschka – und sein selbstloses und für ihn selbstverständliches Schutzgewähren geben dem Buch den Untertitel «Heldengeschichte». Für Aussenstehende mag diese Zuschreibung der Heldentat durchaus zutreffen, Duschka aber, der für seine Hilfe auch von Yad Vashem ausgezeichnet wird, sieht das gar nicht so. Für ihn ist es völlig klar, seiner Freundin und deren Tochter Unterschlupf zu gewähren.

Die Bedrückung, die die in der Werkstatt Eingesperrten aushalten müssen, die ständige Angst, entdeckt werden zu können, kommen durchaus zum Tragen, hätten aber der Eindringlichkeit halber noch deutlicher gezeichnet werden dürfen. So bleibt eher eine leise Ahnung davon, wie sich Regina und Lucia sowie unzählige andere verstecke Juden gefühlt haben müssen. Sehr schön gelungen ist aber diesbezüglich jene Szene, die eines der wenigen Male schildert, während denen die Versteckten – hier die Tochter Lucia – nach draussen kommen. Reinhold und Lucia machen einen kleinen Ausflug auf den oberhalb der Stadt gelegenen Cobenzl. Da rennt Lucia eine halbe Stunde lang hin und her, ein Zeichen der Freude darüber, wieder mal draussen sein zu dürfen. Die Begeisterung ist so gross, dass Lucia nicht anders kann, als eben dieser durch Hin- und Herlaufen Ausdruck zu verleihen. Hackl evoziert nicht nur ein starkes Bild, sondern vermittelt die Freude durch den blossen Beschrieb von Bewegung und kann so die Gefühle Lucias eindrucksvoll widergeben, vermutlich sogar überzeugender, als wenn er bloss geschrieben hätten, dass sich Lucia unglaublich über diese kurze Freiheit freuen würde. Obwohl Hackl für den Beschrieb dieses Vorgangs Worte bemüht, kommt er hier sozusagen ohne Worte aus.

Der Titel der Geschichte «Am Seil» beschreibt die Erzählung in ihrem wesentlichen Kern. Nicht nur greift er die Tatsache auf, dass Duschka passionierter Bergsteiger ist, sondern umschreibt auch das Verhältnis, das während des Versteckens zwischen Helfer und Versteckten besteht. Lucia und Regina sind auf Duschka essentiell angewiesen, hängen sozusagen an seinem Seil – die einzige Sicherheit, die sie haben –  und bilden mit ihm eine dem Bergsteigen analoge Seilschaft: Vertrauen, Verlässlichkeit, Abhängigkeit und Sicherheit zählen sowohl für Gipfelstürmer als auch für die in der Werkstatt Untergebrachten und deren Behüter.

Die Erzählung beruht auf wahren Begebenheiten und ist so oder ganz ähnlich wirklich vorgefallen. Ein weiterer von Erich Hackl literarisierter Tatsachenbericht, dieses Mal über einen Helden, der keiner sein wollte.