«Du bist Teil eines Versuchs, nämlich, es geht genau darum, was Menschen unter idealen Bedingungen schaffen. Was für eine Welt sie sich bauen. Wie die ausschaut.» (S. 181)
Was passiert hier, was halten wir in den Händen, wer spricht hier, und wo führt das noch hin – das sind Fragen, die einerm als Leserni dieses Buches verwirren können. Dier geneigtre Lesereni könnte sich ausserdem fragen, wieso immer wieder solche Rechtschreibefehler auftauchen, hierbei handelt es sich allerdings nicht um orthographische Schnitzer, sondern um die Umsetzung einer zur Disposition gestellten, gendergerechten Sprache. Ann Cotten nennt dies «Polnisches Gendering», dabei werden «[a]lle für alle Geschlechter nötigen Buchstaben in beliebiger Reihenfolge ans Wortende» gestellt. So entsteht eine im ersten Moment befremdliche, bei ein bisschen Übung aber sehr lesefreundliche, inklusive Wortvariante. (Die auch in dieser Rezension weiterhin (im Kursiv) verwendet wird.)
«Ich bin auch die Erzählerin, ja. Kann ich was dafür? Es schleudert mich, es reisst mich. Ich glaubte immer, es sind die Drogen, manchmal bin ich mir nicht sicher.» (S. 359)
Es geht bunt zu und her in der Welt, die uns Lyophilia eröffnet, es ist tatsächlich alles Erdenkliche möglich, um nicht zu sagen, alles Erdenkliche ist wahrscheinlich. Als Lesende werden wir mitgeschleudert, finden uns an bekannten und unbekannten Orten wieder. Über weite Strecken begleiten wir Zladko, ein Wiener Saxophonist, der sich – meist betrunken oder verkatert – durchs Leben treiben lässt, bis er gemeinsam mit seiner Geliebten Ganja in einem Paralleluniversum landet, in dem alles Gedachte sich sofort materialisiert. Später werden die Lesenden in die Weisheiten der Putztruppe des kosmischen Wartungsdienstes eingeführt, oder werden zu Zaungästen «in einer Kneipe im All», um schliesslich wieder fast 200 Seiten lang die Bevölkerung von «Amore Kafun», einer Asteroid-Kolonie, die einst von einer – mittlerweile bankrotten – Firma betrieben wurde, kennen zu lernen. «Die Anekdoten vom Planeten Amore (KAFUN)» werden einerseits durch die neu implementierte Erzählfigur namens Eien, andererseits durch die Texte welche die Bewohnernnnie an den (von Eien veranstalteten) offenen Literaturclubs vorlesen. Dazu kommen dann noch etwas galaktischer Roadmovie, Zeitreisen durch Gefriertrocknung des Geistes (Lyophilisation) und ein Lebenspartner «im Halbplural». Man sollte sich von diesen wirr anmutenden Handlung aber nicht abschrecken lassen.
«Die Vernunft ist ohnmächtig in dieser neuen, notdürftig von Idee zu Idee aufgespannten Welt.» (S. 317)
Nicht die grobschlächtig anmutenden Geschichten, die sich wie Genre-Parodien lesen, sind es, was hier fasziniert, sondern das freudige Sezieren und Weiterentwickeln der Sprache, aber auch ein sinnliches Feiern ihrer. Ann Cottens Sätze tragen weit, sie schliessen aber auch kurz. Es gilt, all dies mit dem eigenen Kopf zu entdecken, die ungeheuren Tiefen, die sich bisweilen auftun, die möglichen Verzweigungen, Anspielungen und Metaphern. Dabei erlaubt die Verortung der Geschehnisse in einer unbestimmten Zukunft Ann Cotten auch, einen Blick zurück zu werfen. Es handelt sich bei Lyophilia also nicht um einen Roman über eine dystopische Zukunft, sondern in seiner Zukunftsvision viel eher um einen Spiegel, in welchem das Dystopische unserer Gegenwart vermutet werden kann. All dies begleitet von einem Humor, der vom Ironischen auch mal ins Herzliche abrutscht. Die disperse Struktur der verschiedenen Texte, dessen Teile weder in derselben Zeit, noch auf demselben Himmelskörper spielen, werden auf wundersame Weise zusammengehalten, sei es durch irgendeine interne Logik, einen Sprachkosmos, oder vielleicht auch nur durch das sich beständig ausdehnende Universum. Es bleibt jederm selbst überlassen, ob sier Lyophilia als Sammlung einzelner Erzählungen lesen möchte, oder die versammelten Texte vielmehr als ein Gesamtes, als gehöriges Stück Prosa, als ein Textwerk, das so fluid ist, wie die Geschlechter, Persönlichkeiten und Zustände seiner Figuren und Sprache selbst. Es scheint dies die konsequente Umsetzung der Vorstellung zu sein, wie eine Welt aussehen könnte, in der räumlich-zeitliche, gesellschaftliche und logische Umstände nichts Verpflichtendes mehr an sich haben. Ein Kunststück, das vielleicht nur der Literatur gelingen kann.