Svenja Flasspöhler: Streiten

„Warum also streite ich? Davon und von der Frage, was Streiten heisst, handelt dieses Buch.“ Svenja Flasspöhler gilt als streitlustig, als jemand, der gerne angreifbare Positionen vertritt. Doch in ihr wohnt eine ganz andere Erfahrung: die eines Trennungskinds, das mit der Angst vor Streit und Eskalation aufgewachsen ist. In ihrem persönlich-philosophischen Essay zeigt sie, dass über das Streiten nachzudenken vor allem heisst, sich von Illusionen zu befreien. Ein Streit ist kein herrschaftsfreier Diskurs, sondern es geht um Macht: Der Abgrund der Vernichtung ist immer als Möglichkeit präsent. Gleichzeitig ist es gerade der Streit in seiner Unversöhnlichkeit, der uns vorantreibt und Veränderung bewirkt.

Svenja Flasspöhler: Streiten. Hanser Berlin 2024.

Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse

Narin ist neun, als in dem ezidischen Dorf am Tigris Planierraupen auftauchen. Ihre Heimat soll einem Dammbauprojekt der türkischen Regierung weichen. Die Grossmutter, fest entschlossen, die Enkelin an einem ungestörten Ort taufen zu lassen, bereitet alles für die Reise ins heilige Lalisch-Tal vor. Kurz vor Aufbruch stösst Narin auf das Grab eines gewissen Arthur – direkt neben dem ihrer Ururgrossmutter Leila. Wer war dieser „König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere“, der Junge aus dem viktorianischen London, von den Ufern der verschmutzten Themse? Und was hat er mit Narins eigener Vertreibung zu tun? Vergangenheit und Gegenwart werden zu einem Roman über sich kreuzende menschliche Schicksale und die macht jahrhundertealter Konflikte verwoben.

Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse, Hanser C. 2024.

Verlage stellen sich vor: Neofelis Verlag

Der Neofelis Verlag ist seit 2011 ein unabhängiger kulturwissenschaftlicher Verlag mit Sitz in Berlin. In einem kleinen Team publizieren wir zu Kultur, Politik und Gesellschaft. Programmschwerpunkte sind Human-Animal Studies, Theater, Film, Medien, Fotografie, Literatur, Architektur, Kunst, Jüdische & Israel-Studien, Politik, Geschichte, Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie Theatertexte.

Verlagsprofil

Im Vordergrund steht ein Interesse an aktuellen sozialen, politischen und kulturellen Fragen in der (post )migrantischen Gesellschaft und den Chancen eines gerechten, interkulturellen Zusammenlebens. Wir setzen auf interdisziplinäre Herangehensweisen, um uns diesen Debatten und ihren historischen Zusammenhängen zu nähern.

Unterschiedliche wissenschaftliche, essayistische und künstlerische Erkenntnisweisen und Darstellungsformen stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander, viele Veröffentlichungen agieren an den Schnittstellen von Wissenschaft, Kunst, Literatur und Theater. Diese Diversität der Stimmen und Methoden geht einher mit Kritik an Geschichtsverdrängung und nach wie vor verbreiteten diskriminierenden, antisemitischen und rassistischen Strukturen.

Unsere Publikationen

Seit 2012 nimmt die Reihe Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne einen zentralen Platz in unserem Programm ein.

Ebenfalls seit 2012 erscheint mit Tierstudien die erste deutschsprachige Zeitschrift für Human-Animal Studies, die sowohl in wissenschaftlichen und als auch künstlerischen Beiträgen Fragen menschlichen und tierlichen Zusammenlebens in den Blick nimmt.

In der Reihe Relationen. Essays zur Gegenwart erscheinen seit 2014 kurze politische Essays als Interventionen in aktuelle Debatten.

Mit dem Verein Drama Panorama: Forum für Übersetzung und Theater e.V. bringt Neofelis seit 2018 eine Buchreihe mit internationalen Theatertexten heraus, die aktuelle kulturelle, künstlerische und politische Diskurse benachbarter und fernerer Gesellschaften einem deutschsprachigen Publikum zugänglich macht. Im Fokus steht, wie soziale und politische Fragen auf den Bühnen anderer Länder verhandelt werden und welche Reflexionsräume diese Kontexte hier eröffnen, z.B. im Hinblick auf Krieg, Klassenfragen, queere oder afrofeministische Positionen.

Yusuf Yeşilöz: Der Libellenspiegel

Dass Sahar ein Kind mit einem Mann hat, mit dem sie nicht verheiratet ist, ist für ihre Familie unerhört. Auf dem Papier ist sie mit ihrem Cousin Beyto verheiratet. Dass Beyto schwul ist, erfuhr Sahar erst nach der Zwangsheirat und kurz darauf war Beyto dann auch nach London abgehauen.
Nun kämpft Sahar dafür, dass ihre Tochter Amal und deren Vater, ihr Partner Michael, von der Familie anerkannt werden. Als sie für Michael eine Hose in der Änderungsschneiderei Messo abholt, lernt sie die Schneiderin Juana kennen. Verlust und das Tabuthema Homosexualität prägen auch deren Familiengeschichte. In ihren Gesprächen helfen die beiden Frauen einander dabei, sich aus erstarrten Strukturen zu lösen und den Tabus die Macht zu nehmen. 
Nach «Hochzeitsflug» und «Die Wunschplatane» ist «Der Libellenspiegel» der dritte und wohl letzte Teil einer reibungsvollen Familiengeschichte. Dieses Mal steht die Perspektive der Frauen im Zentrum sowie deren Mut und die Kraft von Freund*innenschaften.

Darja Serenko: Mädchen & Institutionen

Was bedeutet es, in einem totalitären Staat zu leben – und als kleines Rächen im Getriebe für einen solchen zu arbeiten? Dieser Frage widmet sich die erste der beiden Erzählungen in Mädchen & Institutionen, dem literarischen Debüt der 1993 geborenen russischen Autorin Darja Serenko, die im Februar 2022 den Feministischen Antikriegswiderstand mitbegründete.

In der Art eines surreal-grotesken Büroromans, auch «magischer Institutionenrealismus» (72) genannt, erzählt Serenko von einem Pulk namen- und gesichtslos bleibender Mädchen, die zuerst in einer Bezirksbücherei und später in einer staatlichen Galerie arbeiten, wobei die Arbeit selbst an beiden Orten relativ austauschbar bleibt, Hauptsache, sie wird fleissig, aber ja nicht zu eigenständig und ganz im Dienst der herrschenden Ordnung erledigt. Dass Anpassung und notfalls auch Denunziation dabei wichtiger sind als Solidarität, zeigt auch der Umgang der Mädchen miteinander: Während weibliche Kollektive in feministischen Kontexten meist in ihrer Solidarität gefeiert werden, ist das weibliche Kollektiv in dieser Erzählung eher beunruhigend. So haben die Mädchen diverse Gruppenchats, in denen jeweils eines der anderen Mädchen ausgeschlossen wird – in der Absicht, dadurch unbescholten über diese ablästern zu können.

Die fehlende Solidarität zwischen den Mädchen ist aber nur ein Symptom der sehr viel grösseren Misere eines ganzen politischen Systems, das auf Indoktrination und Abschreckung beruht. Dessen Omnipräsenz wird in vielen kleinen Anekdoten beschworen – und fast im selben Augenblick auch aufs Korn genommen. So wird die kürzlich installierte Überwachungskamera von den Mädchen wie eine weitere Kollegin behandelt, «in deren Gegenwart man gewisse Dinge besser nicht sagte» (18). Eines Tages wird den Mädchen zudem ein Porträt von Putin geschickt, mit dem Auftrag, Putins Porträt zu fotokopieren und in jeder Büroräumlichkeit mit Publikumsverkehr aufzuhängen. Am selben Tag erhalten alle Mädchen die dringende Aufforderung, ihre Social-Media-Profile darauf hin zu prüfen, dass sie «keine Nacktaufnahmen, keine Aufnahmen in Unterwäsche, keine Aufnahmen mit tiefausgeschnittenen Kleidern und keine, auf denen die Mitarbeiterin Alkohol trinkt» (30) enthalten. 

Allerdings steckt in diesem Text nicht nur unverhohlene Regimekritik voll bissigem Witz, sondern auch immer wieder Kritik an genereller Prekarität im Arbeitsleben. In wenigen Sätzen schafft es Serenko, die Perspektiven vieler junger Menschen in einer spätmodernen Leistungsgesellschaft einzufangen: «[…] sie würden bis zum Schlafengehen genau drei Stunden haben, um sich das Essen für den nächsten Tag zu kochen, die Ausgaben für die zweite Monatshälfte abzurechen, zu einem Date zu gehen, die Schulaufgaben durchzusehen, ein Glas Wein zu trinken, mit der Vermieterin zu streiten, eine Runde mit dem Hund zu drehen, zu masturbieren und mit den Mädchen am Telefon zu quatschen.» (15)

Zugegeben, so sieht unter kapitalistischen Bedingungen der Alltag vieler Menschen aus, nicht nur in Russland. Aber die Mädchen leben zusätzlich zu diesem tristen Alltag auch noch in einer Diktatur, die Krieg gegen ein Nachbarland führt, Homosexualität und ethnische Minderheiten verteufelt und jeden Protest im Keim zu ersticken versucht – was seine Spuren auch in der harmlosesten Abteilung einer jeden staatlichen Institution hinterlässt: «Einmal haben die Mädchen mich verraten. Ich mache ihnen keinen Vorwurf: manchmal laufen die Dinge in Institutionen so, dass man nicht anders kann. Wenn es also sein muss, soll wenigstens nur eine verraten werden.» (21)

Während die Erzählerin zu Beginn des Textes noch in lakonisch-gleichmütigem Ton berichtet, wird sie mit der Zeit stets störrischer und sarkastischer. So wird etwa gefragt, ob «eine richtige Frau Gewerkschaftsmitglied sein [sollte]» (28) oder «wie Mädchen zu Fremdagenten werden» (55). Als die jährliche Pflichtveranstaltung zu Krieg und Sieg näher rückt, versiegt der Funktionsdrang der Mädchen gänzlich: «Wir sind es müde zu kämpfen und zu siegen, zu schweigen und zu schauen, wir würden uns schon lange am liebsten totstellen.» (43)

Auch Genderaspekte, die bisher eher implizit mitschwangen, werden nun immer direkter adressiert und eine visionäre Erzählinstanz – die es in der patriarchalen Ideologie des totalitären Staates gar nicht geben dürfte – prophezeit: «Pronomen verändern sich, die Oberfläche der als allgemein bezeichneten Erfahrung bekommt Risse. Jemand ist zum Beispiel kein Mädchen mehr und war vielleicht nie eins – und das bedeutet, dass alle obenstehenden Texte neu gelesen werden können». (54)

Denn das Land, aus dem hier berichtet wird, ist ein Land voller «schlafender Institutionen» (64), deren Träume mit ihnen selbst durchgehen. Und so sehen sich seine Machthaber gemäss ihrer eigenen Logik geradezu gezwungen, immer groteskere und paranoidere Massnahmen zu ergreifen und wegen einer lesbischen Schriftstellerin bzw. einiger besorgter patriotischer Bürger mal eben ein ganzes Literaturfestival abzusagen.

Doch so ausgeliefert die Mädchen dem autokratischen System gegenüber auch scheinen, ein kollektiver Streik von ihnen würde das System noch immer zum Einstürzen bringen, und es ist das, was der Text am Ende suggeriert: «Wir Mädchen […] kriegen keine Kinder mehr. Wir haben keine Kraft, euch neue Menschen zu gebären […]. Mit uns geht alles zu Ende, wir sind die letzten Mädchen.» (64)

Die anschliessende Vorbemerkung der Autorin gibt preis, wie erschreckend real die fantastisch anmutenden Anekdoten aus der Erzählung im heutigen Russland sind. So wurde Serenko, die diverse Jobs an staatliche Institutionen innehatte, tatsächlich für ein Foto von sich im BH gerügt, aufgrund der Teilnahme an Protesten aus dem Job geekelt und in einem Kulturressort anonym denunziert. Den Mut aber lässt sie sich davon nicht nehmen: «Eines Tages werden viele von uns ihre eigenen Institutionen aufbauen. Ich kann es kaum warten.» (73) Wie nah Serenkos Literatur an ihrer eigenen Erfahrung und ihrem Aktivismus für ein anderes, demokratisches Russland liegt, belegt denn auch der zweite, längere Text, in dem die Autorin eine 15-tägige Inhaftierung schildert – sie hatte auf Instagram Nawalnys Wahlkampflogo gepostet.
Nun lebt die Künstlerin und Aktivistin im georgischen Exil, vielleicht als stolze Agentin des feindlichen Auslands, als welche sie hoffentlich noch viele ähnlich kraftvolle Texte schreibt.

Basel August 2024
Julia Rüegger

Daria Serenko: Mädchen & Institutionen, Suhrkamp 2024.

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Mariann Bühler: Verschiebung im Gestein

Lange hat draussen das Schild »Bis auf Weiteres geschlossen« gehangen, bis Elisabeth die Entscheidung trifft, die Bäckerei weiterzuführen. Sie allein. Jeden Morgen feuert sie an, rührt den Teig, schiebt die Brote in den Ofen – und überrascht das ganze Dorf und sich selbst dazu. In derselben Gegend Alois‘ Hof. Ein Hof, seit Generationen in Familienbesitz, Alois wurde nicht gefragt, ob er ihn übernehmen wollte. Er lebt mit dem Hund, überhört die Erwartung, eine Familie zu gründen – aber etwas schnürt sich zu. Unterdessen kehrt eine junge Frau ins Dorf zurück; die drei Stufen zur Bäckerei laufen sich wie von selbst. Bei den Grosseltern holt sie den Schlüssel zum Sommerhaus, es soll verkauft werden. Sie sieht alles wieder, den Bergkamm, das Tal, den Balkon mit der Zugbrücke.

Der Roman verfolgt drei Figuren, die nichts voneinander wissen und doch verbunden sind – durch die Gegend, das Dorf und die drängende Frage, wie es eigentlich weitergehen soll. Hartnäckig haben sich in ihnen Spuren von Vergangenem festgesetzt, aber dann gerät doch etwas in Bewegung.

Mariann Bühler: Verschiebung von Gestein. Atlantis 2024.

Zora del Buono

Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die grosse Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?

Zora del Buono: Seinetwegen, C.H. Beck 2024.

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Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne

Was wäre, wenn man nicht diese eine Entscheidung getroffen hätte, sondern jene andere? Was wäre, hätte man der Erwartung getrotzt?

Saša Stanišić führt uns an Orte, an denen das auf einmal möglich ist: den schwierigeren Weg zu gehen, eine unübliche Wahl zu treffen oder die eine gute Lüge auszusprechen.

So wie die Reinigungskraft, die beschliesst, mit einer Bürste aus Ziegenhaar in der Hand, endlich auch das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. So wie der Justiziar, der bereit ist zu betrügen, um endlich gegen seinen achtjährigen Sohn im Memory zu gewinnen. Und so wie der deutsch-bosnische Schriftsteller, der zum ersten Mal nach Helgoland reist, nur um dort festzustellen, dass er schon einmal auf Helgoland gewesen ist.

Am besten wäre ja, man könnte ein Leben probeweise erfahren, bevor man es wirklich lebt.

Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne, Luchterhand 2024.

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Moritz Heger: Zeit der Zikaden

Für Alex beginnt der Ruhestand. Doch statt Ruhe plant sie den Aufbruch ins Ungewisse: Mit einem Tinyhouse auf Rädern will sie alles Gewohnte hinter sich lassen. Johann, Mitte fünfzig, sucht den Ausbruch aus einem fragwürdig gewordenen Beruf und einer erkalteten Ehe. Ein ererbtes Steinhaus in Ligurien scheint ein guter Ort dafür zu sein. Alex folgt Johanns Einladung: Zwei nicht mehr junge und sehr verschiedene Menschen wollen an diesem Sehnsuchtsort die nächste Lebensetappe angehen.

Moritz Heger: Zeit der Zikaden. Diogenes 2024.

Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein

Der Roman «Im Menschen muss alles herrlich sein» von Sasha Marianna Salzmann erzählt von der Suche nach Gemeinsamkeit, Liebe und Identität in Umbruchzeiten. Dabei treffen die Perspektiven zweier Mütter und ihrer Töchter aufeinander. Am längsten und zunächst chronologisch bleibt die Erzählstimme bei Lena, später wird der Roman – durch eine grossartig zusammengefügte Montage – um drei weitere Perspektiven ergänzt.

Zu den wenigen sorglosen Momenten gehören die Sommer, die Lena Anfang der 1970er Jahre bei ihrer Grossmutter in der Haselnusssiedlung in Sotschi verbringt. Hier hat Lena einen Wohlfühlort, ein Zimmer für sich allein, und eine wichtige Aufgabe: mit Grossmutter Haselnüsse zu verkaufen.

Später ersetzen die Eltern die Ferien bei Grossmutter kurzerhand durch das Pionierlager «Kleiner Adler». Wütend und betrübt über diese Entscheidung begegnet Lena dann Aljona mit den zwiebelgoldgelben Augen. Gemeinsam lernen die beiden, sich dem Kollektiv möglichst zu entziehen, und sie geniessen die kleinen Freiheiten, die man sich als Aussenseiter*in erlauben kann. Zwischen Lena und Aljona entsteht eine innige Zuneigung und Verbundenheit. Nach Jahren wird Lena erfahren, dass sich die Spuren ihrer Freundin in der Zwangspsychiatrie verloren haben.

Feinfühlig und präzise spürt Sasha Marianna Salzmann den Lebensrealitäten der letzten zwei Jahrzehnte sowjetischer Herrschaft in der heutigen Ostukraine nach: das Gefühl der Beengtheit, das beim generationsübergreifenden Zusammenwohnen in einer winzigen Plattenbauwohnung entsteht; die Zermürbung durch das stundenlange Schlangestehen früh am Morgen; die schmerzhafte Erkenntnis, dass die beachtlichen Summen an Bestechungsgeldern überhaupt nichts bewirkt hatten.

«Fleischwolfzeit» nennt Lena das, was in den Jahren der Perestrojka um sie herum geschieht. Immer mehr Menschen leben in sichtbarer Armut. Auf ihrem Arbeitsweg sieht Lena, wie unter der Brücke täglich mehr Pappkartonsiedlungen entstehen. Gleichzeitig stellen andere ihren Reichtum extravagant zur Schau. Die Korruption, die Lena einst so wütend und ohnmächtig gemacht hat, holt sie wieder ein. Nun ist sie diejenige, der unauffällig Fellhandschuhe, Bernsteingemälde oder Umschläge mit Geldscheinen zugesteckt werden. Sie kann sich nicht entziehen, zu sehr hat die Gesellschaft Bestechung verinnerlicht.

«Im Menschen muss alles herrlich sein» – das sind in Fiktion verpackte Alltagserfahrungen, wobei die Autor*in die Mikroebene von Geschichte und Gegenwart auslotet. Grundlage des Romans bilden Erfahrungsberichte von Frauen, die im Gebiet der heutigen Ostukraine aufgewachsen und später als sogenannte «Kontingentflüchtlinge» nach Deutschland gekommen sind. Sasha Marianna Salzmann hat sie interviewt, ihnen zugehört, und mit ihren Stimmen entstanden die sorgfältig herausgearbeiteten Romanfiguren.

Nicht zuletzt ruft der Roman an einigen Stellen in Erinnerung, dass die Ostukraine sich nun seit zehn Jahren im Krieg befindet. Die Städte und Orte der Kindheit von Lena und Tatjana haben massivst gelitten. Aktuell befinden sich Gorlowka und Mariupol unter russischem Besatzungsregime.

Die Gewalt, die sich in die einzelnen Biographien des Romans eingeschrieben hat, stammt aus einer anderen Zeit. Es sind individuelle und kollektive Traumata, die an einigen Stellen durchdrücken, beispielsweise die Erinnerung an den Holodomor, den lange totgeschwiegenen Hungerkrieg Stalins. Die gesamten Ernten, alles Korn und Vieh wurden gewaltsam nach Moskau abtransportiert, und die Menschen vor Ort verhungerten. Anderswo kommen die Verachtung und Gewalt zur Sprache, der schwangere und gebärende Frauen in sowjetischen Spitälern ausgesetzt waren. «Ein bisschen so wie bei allen» benennt eine Frau ihre eigene Erfahrung, als sie ihrer schwangeren Tochter zum ersten Mal davon erzählt.

Eine besondere Stärke des Romans ist die empathische und treffende Darstellung von Mütter-Töchter-Beziehungen. Sasha Marianna Salzmann beschreibt, wie Mütter ihre Töchter lieben und was sie alles für sie tun würden. Auch die Töchter möchten von ihren Müttern gesehen und geliebt werden. Doch sie schauen aneinander vorbei und finden nicht die Worte, um Gemeinsamkeit wiederherzustellen. Diese Sprachlosigkeit zwischen den Generationen ist dort besonders stark, wo die Töchter eine komplett andere Sozialisierung als die Mütter erfahren haben.

Mit Lenas Tochter Edi betritt eine zaghafte Draufgängerin und queere Berlinerin die Bühne. Sie versucht, ihr Leben in geordnete Bahnen zu bringen und Journalistin zu werden. Sie liest gerade Oksana Sabuschkos Buch «Feldstudien über ukrainischen Sex» und macht sich Gedanken, wie sie sich der Geburtstagsfeier ihrer Mutter – eine glanzvolle Fete in der jüdischen Community von Jena – möglichst entziehen kann. Schliesslich werden dann auf dieser Party die Wege der vier Frauen zusammenführen, deren Biographien Sasha Marianna Salzmann mit sprachlicher Brillanz und erzählerischer Genauigkeit verwebt. Die Bilder sind atmosphärisch spürbar und die einzelnen Szenen und Dialoge grossartig aufgebaut und leicht nachzuempfinden. Es ist ein bisschen wie mit der Giraffe des georgischen Künstlers Niko Pirosmani: Auch wenn wir etwas nicht gesehen haben, können wir uns ein Bild davon machen.

Eine Rezension von Luzia Böni

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