Mithu Sanyal: Antichristie

London 2022, die Königin ist tot! An den Trauernden vorbei rennt Durga: internationale Drehbuchautorin, Tochter eines Inders und einer Deutschen, und voller Appetit auf Rebellion und Halluzinationen. Durga soll an einer Verfilmung der überbritischen Agatha-Christie-Krimis mitarbeiten. Doch auf einmal ist es 1906, und sie trifft indische Revolutionäre, die keineswegs gewaltfrei wie Gandhi kämpfen. Und dann explodiert die erste Bombe. Was wäre richtiger Widerstand in einer falschen Welt?

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Auch 2025: Erzählräume im Labyrinth!

Wie schön, dass Birgitta Schermbach auch 2025 den «Erzählraum» ins Labyrinth bringt! Jeden Monat stehen für einmal nicht die Bücher im Zentrum, sondern das Erzählen eigener Geschichten und das Zuhören von Alltagserfahrungen anderer. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, mit offenen Ohren und eigenen Geschichten vorbeizuschauen.

Was ist ein Erzählraum?
Wir leben in einem Raum aus Erzählungen. Dieser Raum macht unser Weltverstehen aus. Es ist daher von zentraler Bedeutung, neben dem Erzählen ein offenes Ohr für die Geschichten der Anderen zu entwickeln. Wenn wir also im gesellschaftlichen Leben Erfahrungen lebendig halten und nutzbar machen wollen, müssen wir Räume schaffen, in denen Menschen unterschiedlicher Altersklassen ihre Erfahrungen erzählen und anderen zuhören können. Dabei ist es elementar, von Herzen zu sprechen und sich neuen Sichtweisen anzuvertrauen ohne sie als richtig oder falsch zu bewerten.

Jeweils 1x / Monat an einem Mittwochabend von 18.30 – 20.00 Uhr
Anmeldung erwünscht: kontakt@birgittaschermbach.ch

Eintritt frei, mit Kollekte


Mittwoch, 8. Januar
Auf der Suche nach dem Glück

Alle suchen wir wahrscheinlich bewusst oder unbewusst das Glück. Manchen scheint es in den Schoss zu fallen, doch für viele realisiert sich das Glück oft erst nach der Bewältigung mehr oder weniger schwieriger Aufgaben.
Worin auch immer das dauerhafte Glück bestehen mag, das erkunden wir gemeinsam in diesem Erzählraum. 

Mittwoch, 5. Februar
Humor ist alles ist Humor

Spendet Blödsinn Trost in tristen Zeiten? Wie häufig richten Sie Ihre Mundwinkel nach oben? Wann machen Sie sich mal keine Sorgen und tanzen stattdessen? Lassen Sie uns über den Humor im Leben erzählen und zuhören.

Mittwoch, 19. März
Geheimnisvolle Schätze und schätzenswerte Geheimnisse

Geheimnisse sind oft mit einem Verbot oder Gebot verknüpft. Und dann ist man so neugierig, dass man das Verbot übertritt, weil man hinter das Geheimnis kommen will. Welche Verbotsbereiche dürfen denn nicht angetastet werden und welche gilt es zu hinterfragen? Gibt es auch Verbote wie die zivile Gesetzgebung, die überlieferte Moral oder die innere Stimme des Gewissens, die uns nützliche Grenzen setzen? Darüber wollen wir erzählen und zuhören.

Mittwoch, 9. April
Mit List zum friedlichen Miteinander

Eine Märchenbetrachtung zum Frieden und anschliessendem Erzählen, Sinnieren und Zuhören darüber.

Mittwoch, 7. Mai
Nichts tun – das gute Leben

Ist das Leben zu wertvoll, um es mit Arbeit zu verbringen? Oder macht es uns eine gute Ausbildung leichter, pfiffiger mit der Arbeit umzugehen? Könnte es sein, dass wer nüchtern rangeht, bessere Ergebnisse erzielt und mehr Zeit für das «Restleben» hat?
Lassen Sie uns gemeinsam eine der ältesten und wichtigsten Sehnsüchte der Menschheit erkunden. Nämlich das zu tun, worauf man Lust hat, und nicht das tun, was man muss.

Mittwoch, 4. Juni
Fluchen Sie – ob in Nadelstreifen oder Unterhose – herzlich drauflos!

Flüche haben etwas Gerades, Offenes. Auf ein Donnerwetter folgt meist gutes Wetter. Ein Fluch ist ein vom geordneten, bewussten Denken unabhängiger Ausdruck einer Emotion, dessen Bedeutung nicht in Erwägung gezogen wird. Oft dient der Fluch als Blitzableiter des Zornes und stellt eine Art Sicherheitsventil für den angesammelten Dampf der Leidenschaft dar.
Erzählen wir einander unsere Lieblings-Flüche und Schimpfwörter! Auf das unser Fluch-Repertoire nach diesem Erzählraum mit originell kreierten Schimpfwörtern erweitert werde! 

Mittwoch, 3. September
Ge-zwist-er – die dauerhafteste und komplexeste Beziehung

Sind Eltern die Architekten der Geschwisterbeziehung? Oder wächst jedes Geschwisterkind gewissermassen mit anderen Eltern auf, weil sich die Lebensumstände der Familie mit jeder Geburt ändern? Lassen Sie uns über Geschwisterbeziehungen erzählen und darüber, ob Sie und Ihre Geschwister füreinander Freund:in oder Rival:in waren und sind.

Mittwoch, 15. Oktober
Ein Soldat mit seiner Uniform ist mehr als nur eine Sandkastenfigur

Das Spielzeug ist immer ein Spiegelbild der Gesellschaft. Es stellt die grosse Welt im Kleinen dar. Am Material, mit der das Spielzeug hergestellt wurde, lässt sich ablesen, in welcher Zeit wir unterwegs sind. Spielzeug ist nicht nur Zeitvertreib, es fördert Lernen.
Erzählen Sie uns über Ihr liebstes Spielzeug, weshalb es Ihr liebstes war oder heute noch ist, und welche Fantasie es beflügelt.

Mittwoch, 5. November
Die Kostbarkeit der Zeit

Da war doch erst kürzlich der Türrahmen, an dem, Jahr für Jahr mit Bleistift, Datum und Grösse von Ihnen und Ihren Geschwistern markiert wurde, oder?!

Und heute, zum Jahresende, schenken wir einander Erzählungen des Wachstums, die Zeit brauchten, und in denen wir unsere Entwicklung begreifen und spiegeln können. Denn solche Erzählungen sind kostbar und freuen sich über die Zeit, die wir ihnen lauschend schenken!

Fabian Saul: Die Trauer der Tangente

Wovon spricht der Grund, auf dem wir gehen? In Fabian Sauls erstem, zutiefst menschlichem Roman geraten Gewissheiten ins Wanken: Ein Freund stirbt, eine Liebe zerbricht. In einer Welt, in der die Steine von der Vergangenheit sprechen, begegnet der Protagonist den eigenen Gefühlen in der Topografie. Alles weiss von der Vergänglichkeit – und weiss alles über ihn.

In filmischen Szenen stehen geteilte Zigaretten wie Bilder neben dem Sonnenlicht an einem Morgen in Nida, stehen die klaren Kanten von Jean Genets Grabstein neben einem Abbruchhaus in der Linienstrasse, steht Nina Simones letztes Konzert neben den Liedern aus der Wand.

Fabian Saul: Die Trauer der Tangente. Matthes & Seitz 2024.

Francesca Melandri: Kalte Füsse

Was bedeutet Krieg? Und was, wenn man auf der falschen Seite kämpft? Francesca Melandri erzählt die Geschichte ihres eigenen Vaters – und bringt die Stille einer ganzen Generation zum Sprechen.

Ein Militärlazarett in Venedig. Desinfektionsmittel, Fieberschweiss, der unerträgliche Gestank von Wundbrand. Der Sohn liegt im hintersten Bett, er schläft. Die Mutter hebt die Decke am unteren Ende an. Zwei Beine, zwei Füsse. Eins, zwei, drei, sie zählt die Zehen – bis zum zehnten. Vorsichtig legt sie die Decke zurück: Endlich kann sie in Ohnmacht fallen.

Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der »Rückzug aus Russland« hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt – auch in der Familie von Francesca Melandri. Ihr Vater hat ihn überlebt.

Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Es ist vor allem die Ukraine, in der der Vater gewesen ist. Was hat er dort wirklich erlebt, warum war er überhaupt dort?

Francesca Melandri: Kalte Füsse. Wagenbach 2024.

Svenja Flasspöhler: Streiten

„Warum also streite ich? Davon und von der Frage, was Streiten heisst, handelt dieses Buch.“ Svenja Flasspöhler gilt als streitlustig, als jemand, der gerne angreifbare Positionen vertritt. Doch in ihr wohnt eine ganz andere Erfahrung: die eines Trennungskinds, das mit der Angst vor Streit und Eskalation aufgewachsen ist. In ihrem persönlich-philosophischen Essay zeigt sie, dass über das Streiten nachzudenken vor allem heisst, sich von Illusionen zu befreien. Ein Streit ist kein herrschaftsfreier Diskurs, sondern es geht um Macht: Der Abgrund der Vernichtung ist immer als Möglichkeit präsent. Gleichzeitig ist es gerade der Streit in seiner Unversöhnlichkeit, der uns vorantreibt und Veränderung bewirkt.

Svenja Flasspöhler: Streiten. Hanser Berlin 2024.

Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse

Narin ist neun, als in dem ezidischen Dorf am Tigris Planierraupen auftauchen. Ihre Heimat soll einem Dammbauprojekt der türkischen Regierung weichen. Die Grossmutter, fest entschlossen, die Enkelin an einem ungestörten Ort taufen zu lassen, bereitet alles für die Reise ins heilige Lalisch-Tal vor. Kurz vor Aufbruch stösst Narin auf das Grab eines gewissen Arthur – direkt neben dem ihrer Ururgrossmutter Leila. Wer war dieser „König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere“, der Junge aus dem viktorianischen London, von den Ufern der verschmutzten Themse? Und was hat er mit Narins eigener Vertreibung zu tun? Vergangenheit und Gegenwart werden zu einem Roman über sich kreuzende menschliche Schicksale und die macht jahrhundertealter Konflikte verwoben.

Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse, Hanser C. 2024.

Verlage stellen sich vor: Neofelis Verlag

Der Neofelis Verlag ist seit 2011 ein unabhängiger kulturwissenschaftlicher Verlag mit Sitz in Berlin. In einem kleinen Team publizieren wir zu Kultur, Politik und Gesellschaft. Programmschwerpunkte sind Human-Animal Studies, Theater, Film, Medien, Fotografie, Literatur, Architektur, Kunst, Jüdische & Israel-Studien, Politik, Geschichte, Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie Theatertexte.

Verlagsprofil

Im Vordergrund steht ein Interesse an aktuellen sozialen, politischen und kulturellen Fragen in der (post )migrantischen Gesellschaft und den Chancen eines gerechten, interkulturellen Zusammenlebens. Wir setzen auf interdisziplinäre Herangehensweisen, um uns diesen Debatten und ihren historischen Zusammenhängen zu nähern.

Unterschiedliche wissenschaftliche, essayistische und künstlerische Erkenntnisweisen und Darstellungsformen stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander, viele Veröffentlichungen agieren an den Schnittstellen von Wissenschaft, Kunst, Literatur und Theater. Diese Diversität der Stimmen und Methoden geht einher mit Kritik an Geschichtsverdrängung und nach wie vor verbreiteten diskriminierenden, antisemitischen und rassistischen Strukturen.

Unsere Publikationen

Seit 2012 nimmt die Reihe Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne einen zentralen Platz in unserem Programm ein.

Ebenfalls seit 2012 erscheint mit Tierstudien die erste deutschsprachige Zeitschrift für Human-Animal Studies, die sowohl in wissenschaftlichen und als auch künstlerischen Beiträgen Fragen menschlichen und tierlichen Zusammenlebens in den Blick nimmt.

In der Reihe Relationen. Essays zur Gegenwart erscheinen seit 2014 kurze politische Essays als Interventionen in aktuelle Debatten.

Mit dem Verein Drama Panorama: Forum für Übersetzung und Theater e.V. bringt Neofelis seit 2018 eine Buchreihe mit internationalen Theatertexten heraus, die aktuelle kulturelle, künstlerische und politische Diskurse benachbarter und fernerer Gesellschaften einem deutschsprachigen Publikum zugänglich macht. Im Fokus steht, wie soziale und politische Fragen auf den Bühnen anderer Länder verhandelt werden und welche Reflexionsräume diese Kontexte hier eröffnen, z.B. im Hinblick auf Krieg, Klassenfragen, queere oder afrofeministische Positionen.

Yusuf Yeşilöz: Der Libellenspiegel

Dass Sahar ein Kind mit einem Mann hat, mit dem sie nicht verheiratet ist, ist für ihre Familie unerhört. Auf dem Papier ist sie mit ihrem Cousin Beyto verheiratet. Dass Beyto schwul ist, erfuhr Sahar erst nach der Zwangsheirat und kurz darauf war Beyto dann auch nach London abgehauen.
Nun kämpft Sahar dafür, dass ihre Tochter Amal und deren Vater, ihr Partner Michael, von der Familie anerkannt werden. Als sie für Michael eine Hose in der Änderungsschneiderei Messo abholt, lernt sie die Schneiderin Juana kennen. Verlust und das Tabuthema Homosexualität prägen auch deren Familiengeschichte. In ihren Gesprächen helfen die beiden Frauen einander dabei, sich aus erstarrten Strukturen zu lösen und den Tabus die Macht zu nehmen. 
Nach «Hochzeitsflug» und «Die Wunschplatane» ist «Der Libellenspiegel» der dritte und wohl letzte Teil einer reibungsvollen Familiengeschichte. Dieses Mal steht die Perspektive der Frauen im Zentrum sowie deren Mut und die Kraft von Freund*innenschaften.

Darja Serenko: Mädchen & Institutionen

Was bedeutet es, in einem totalitären Staat zu leben – und als kleines Rächen im Getriebe für einen solchen zu arbeiten? Dieser Frage widmet sich die erste der beiden Erzählungen in Mädchen & Institutionen, dem literarischen Debüt der 1993 geborenen russischen Autorin Darja Serenko, die im Februar 2022 den Feministischen Antikriegswiderstand mitbegründete.

In der Art eines surreal-grotesken Büroromans, auch «magischer Institutionenrealismus» (72) genannt, erzählt Serenko von einem Pulk namen- und gesichtslos bleibender Mädchen, die zuerst in einer Bezirksbücherei und später in einer staatlichen Galerie arbeiten, wobei die Arbeit selbst an beiden Orten relativ austauschbar bleibt, Hauptsache, sie wird fleissig, aber ja nicht zu eigenständig und ganz im Dienst der herrschenden Ordnung erledigt. Dass Anpassung und notfalls auch Denunziation dabei wichtiger sind als Solidarität, zeigt auch der Umgang der Mädchen miteinander: Während weibliche Kollektive in feministischen Kontexten meist in ihrer Solidarität gefeiert werden, ist das weibliche Kollektiv in dieser Erzählung eher beunruhigend. So haben die Mädchen diverse Gruppenchats, in denen jeweils eines der anderen Mädchen ausgeschlossen wird – in der Absicht, dadurch unbescholten über diese ablästern zu können.

Die fehlende Solidarität zwischen den Mädchen ist aber nur ein Symptom der sehr viel grösseren Misere eines ganzen politischen Systems, das auf Indoktrination und Abschreckung beruht. Dessen Omnipräsenz wird in vielen kleinen Anekdoten beschworen – und fast im selben Augenblick auch aufs Korn genommen. So wird die kürzlich installierte Überwachungskamera von den Mädchen wie eine weitere Kollegin behandelt, «in deren Gegenwart man gewisse Dinge besser nicht sagte» (18). Eines Tages wird den Mädchen zudem ein Porträt von Putin geschickt, mit dem Auftrag, Putins Porträt zu fotokopieren und in jeder Büroräumlichkeit mit Publikumsverkehr aufzuhängen. Am selben Tag erhalten alle Mädchen die dringende Aufforderung, ihre Social-Media-Profile darauf hin zu prüfen, dass sie «keine Nacktaufnahmen, keine Aufnahmen in Unterwäsche, keine Aufnahmen mit tiefausgeschnittenen Kleidern und keine, auf denen die Mitarbeiterin Alkohol trinkt» (30) enthalten. 

Allerdings steckt in diesem Text nicht nur unverhohlene Regimekritik voll bissigem Witz, sondern auch immer wieder Kritik an genereller Prekarität im Arbeitsleben. In wenigen Sätzen schafft es Serenko, die Perspektiven vieler junger Menschen in einer spätmodernen Leistungsgesellschaft einzufangen: «[…] sie würden bis zum Schlafengehen genau drei Stunden haben, um sich das Essen für den nächsten Tag zu kochen, die Ausgaben für die zweite Monatshälfte abzurechen, zu einem Date zu gehen, die Schulaufgaben durchzusehen, ein Glas Wein zu trinken, mit der Vermieterin zu streiten, eine Runde mit dem Hund zu drehen, zu masturbieren und mit den Mädchen am Telefon zu quatschen.» (15)

Zugegeben, so sieht unter kapitalistischen Bedingungen der Alltag vieler Menschen aus, nicht nur in Russland. Aber die Mädchen leben zusätzlich zu diesem tristen Alltag auch noch in einer Diktatur, die Krieg gegen ein Nachbarland führt, Homosexualität und ethnische Minderheiten verteufelt und jeden Protest im Keim zu ersticken versucht – was seine Spuren auch in der harmlosesten Abteilung einer jeden staatlichen Institution hinterlässt: «Einmal haben die Mädchen mich verraten. Ich mache ihnen keinen Vorwurf: manchmal laufen die Dinge in Institutionen so, dass man nicht anders kann. Wenn es also sein muss, soll wenigstens nur eine verraten werden.» (21)

Während die Erzählerin zu Beginn des Textes noch in lakonisch-gleichmütigem Ton berichtet, wird sie mit der Zeit stets störrischer und sarkastischer. So wird etwa gefragt, ob «eine richtige Frau Gewerkschaftsmitglied sein [sollte]» (28) oder «wie Mädchen zu Fremdagenten werden» (55). Als die jährliche Pflichtveranstaltung zu Krieg und Sieg näher rückt, versiegt der Funktionsdrang der Mädchen gänzlich: «Wir sind es müde zu kämpfen und zu siegen, zu schweigen und zu schauen, wir würden uns schon lange am liebsten totstellen.» (43)

Auch Genderaspekte, die bisher eher implizit mitschwangen, werden nun immer direkter adressiert und eine visionäre Erzählinstanz – die es in der patriarchalen Ideologie des totalitären Staates gar nicht geben dürfte – prophezeit: «Pronomen verändern sich, die Oberfläche der als allgemein bezeichneten Erfahrung bekommt Risse. Jemand ist zum Beispiel kein Mädchen mehr und war vielleicht nie eins – und das bedeutet, dass alle obenstehenden Texte neu gelesen werden können». (54)

Denn das Land, aus dem hier berichtet wird, ist ein Land voller «schlafender Institutionen» (64), deren Träume mit ihnen selbst durchgehen. Und so sehen sich seine Machthaber gemäss ihrer eigenen Logik geradezu gezwungen, immer groteskere und paranoidere Massnahmen zu ergreifen und wegen einer lesbischen Schriftstellerin bzw. einiger besorgter patriotischer Bürger mal eben ein ganzes Literaturfestival abzusagen.

Doch so ausgeliefert die Mädchen dem autokratischen System gegenüber auch scheinen, ein kollektiver Streik von ihnen würde das System noch immer zum Einstürzen bringen, und es ist das, was der Text am Ende suggeriert: «Wir Mädchen […] kriegen keine Kinder mehr. Wir haben keine Kraft, euch neue Menschen zu gebären […]. Mit uns geht alles zu Ende, wir sind die letzten Mädchen.» (64)

Die anschliessende Vorbemerkung der Autorin gibt preis, wie erschreckend real die fantastisch anmutenden Anekdoten aus der Erzählung im heutigen Russland sind. So wurde Serenko, die diverse Jobs an staatliche Institutionen innehatte, tatsächlich für ein Foto von sich im BH gerügt, aufgrund der Teilnahme an Protesten aus dem Job geekelt und in einem Kulturressort anonym denunziert. Den Mut aber lässt sie sich davon nicht nehmen: «Eines Tages werden viele von uns ihre eigenen Institutionen aufbauen. Ich kann es kaum warten.» (73) Wie nah Serenkos Literatur an ihrer eigenen Erfahrung und ihrem Aktivismus für ein anderes, demokratisches Russland liegt, belegt denn auch der zweite, längere Text, in dem die Autorin eine 15-tägige Inhaftierung schildert – sie hatte auf Instagram Nawalnys Wahlkampflogo gepostet.
Nun lebt die Künstlerin und Aktivistin im georgischen Exil, vielleicht als stolze Agentin des feindlichen Auslands, als welche sie hoffentlich noch viele ähnlich kraftvolle Texte schreibt.

Basel August 2024
Julia Rüegger

Daria Serenko: Mädchen & Institutionen, Suhrkamp 2024.

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Mariann Bühler: Verschiebung im Gestein

Lange hat draussen das Schild »Bis auf Weiteres geschlossen« gehangen, bis Elisabeth die Entscheidung trifft, die Bäckerei weiterzuführen. Sie allein. Jeden Morgen feuert sie an, rührt den Teig, schiebt die Brote in den Ofen – und überrascht das ganze Dorf und sich selbst dazu. In derselben Gegend Alois‘ Hof. Ein Hof, seit Generationen in Familienbesitz, Alois wurde nicht gefragt, ob er ihn übernehmen wollte. Er lebt mit dem Hund, überhört die Erwartung, eine Familie zu gründen – aber etwas schnürt sich zu. Unterdessen kehrt eine junge Frau ins Dorf zurück; die drei Stufen zur Bäckerei laufen sich wie von selbst. Bei den Grosseltern holt sie den Schlüssel zum Sommerhaus, es soll verkauft werden. Sie sieht alles wieder, den Bergkamm, das Tal, den Balkon mit der Zugbrücke.

Der Roman verfolgt drei Figuren, die nichts voneinander wissen und doch verbunden sind – durch die Gegend, das Dorf und die drängende Frage, wie es eigentlich weitergehen soll. Hartnäckig haben sich in ihnen Spuren von Vergangenem festgesetzt, aber dann gerät doch etwas in Bewegung.

Mariann Bühler: Verschiebung von Gestein. Atlantis 2024.