Warum die Giraffe nicht in Ohnmacht fällt

Ein Buch von Katherine Rundell!

Unsere Welt ist einzigartig und verblüffend. Es gibt Haie, die schon zu Shakespeares Zeiten gelebt haben, Giraffen, die durch Paris flanierten, verliebte Spinnen und Einsiedlerkrebse, die ihre Häuser renovieren. Mit einem bemerkenswerten Gespür für fesselnde Geschichten und kuriose Anekdoten eröffnet uns die preisgekrönte Autorin Katherine Rundell in diesen 22 eindrücklich recherchierten Porträts bedrohter Tierarten einen neuen Blick auf die hinreißend seltsame Schönheit unserer Erde.

Aus dem Englischen von Tobias Rothenbücher. Mit Illustrationen von Talya Baldwin.

Katherine Rundell: Warum die Giraffe nicht in Ohnmacht fällt, Diogenes 2023.

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Hannes Bajohr: (Berlin, Miami)

Die Welt in Hannes Bajohrs (Berlin, Miami) ist alles, was einer mit vier Gegenwartsromanen gespeisten KI zugefallen ist: ein namenloser Programmierer, der Listen daraufhin prüft, wer tot ist und wer nicht. Agenten der sogenannten Ãää-Firma, die Ãäängste schüren wollen. Die Gründung des niedrigen Kongresses auf Sylt. Kieferling und Teichenkopf. Lebensviren und Co-Yoga. Pechwörterworte, Sechs-Lame-Sprache und DER UNTERSCHIED. Was daraus generiert wird, ist der irrwitzige Fiebertraum eines Sprachmodells, das Liebesgeschichten und Verschwörungsnarration simuliert, um sich – der Logik von Realität und Grammatik zum Trotz – umgehend selbst ins Wort zu fallen, an die Wand zu fahren und auch noch der letzten kausalen Klammer zu entledigen. Doch anstatt schlussendlich daraus aufzuwachen, wird die KI von Bajohr immer weiter angespornt, bis selbst der altbekannte Traum der Roboter von elektrischen Schafen platzen muss und so der Literatur gänzlich neue Rahmen steckt.

Hannes Bajohr: (Berlin, Miami). Rohstoff @ Matthes & Seitz 2023.

Daniel Schreiber: Die Zeit der Verluste

Nichts möchten wir lieber ausblenden als die Unbeständigkeit der Welt. Dennoch werden wir immer wieder damit konfrontiert. Wie gehen wir um mit dem Bewusstsein, dass etwas unwiederbringlich verloren ist? In seinem neuen Essay nimmt Daniel Schreiber eine zentrale menschliche Erfahrung in den Blick, die unsere Gegenwart massgeblich prägt und uns wie kaum eine andere an unsere Grenzen bringt: den Verlust von Gewissheiten und lange unumstösslich wirkenden Sicherheiten. Ausgehend von der persönlichen Erfahrung des Tods seines Vaters erzählt Daniel Schreiber von einem Tag im nebelumhüllten Venedig und analysiert dabei unsere private und gesellschaftliche Fähigkeit zu trauern – und sucht nach Wegen, mit einem Gefühl umzugehen, das uns oft überfordert.

Daniel Schreiber: Die Zeit der Verluste. Hanser Berlin 2023.

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Dipo Faloyin: Afrika ist kein Land

Zwischen Marrakesch und Maputo liegt ein ganzer Kontinent der bewegten Vielfalt. Da ist zum Beispiel Lagos, grösste Metropole des Kontinents und Magnet für alle Menschen voller Selbstvertrauen und konturlosen Plänen. Gut getanzt wird in Lagos ebenfalls. Da ist der neue Afrobeat, die Musik der Millennials, die in den westafrikanischen Ländern pulsiert und wieder vermehrt dem eigenen Alltag, der direkten Umgebung und der eigenen Sprache entspringt. Da sind die Demokratien Botswana oder Mauritius mit ihren seit Jahrzehnten gut funktionierenden Mehrparteiensystemen. Da ist das nicht wirklich demokratische Land Ruanda, das allerdings mit über 60 Prozent den weltweit grössten Frauenanteil in einem gewählten Parlament aufweist. Da war einmal das Königreich Benin, vor seiner gewaltvollen Zerstörung durch britische Truppen eines der kulturell reichsten und technologisch fortschrittlichsten vorkolonialen Imperien. Da sind unzählige wertvolle Artefakte, wobei sich momentan – und das soll sich eine*r mal vorstellen – 90 Prozent des kulturellen Erbes Afrikas ausserhalb des Kontinents befinden. Nicht unerwähnt bleiben darf das süss-würzige und orangefarbene Reisgericht Jollof, um dessen beste und einzig richtige Zubereitung viele Länder Westafrikas miteinander rivalisieren. Genauso wie der Africa Cup of Nations mehr als nur ein Fussballwettbewerb ist, so ist Jollof weitaus mehr als nur ein Reisgericht.   

Dies sind nur einige der unzähligen Steinchen des Mosaiks an Erfahrungen, Geschichten und Gemeinschaften, das Afrika – einen Kontinent mit 54 Ländern und über 2000 Sprachen – darstellt. In seinem Buch «Afrika ist kein Land» beleuchtet Dipo Faloyin unterschiedliche Orte in ihrer Gegenwart und Vergangenheit.

Es ist ein Buch, das wertvolles Wissen vermittelt und das Portrait eines modernen Afrika zeigt. Es ist ein Buch, das sich Unwissen und Stereotypen widersetzt. Dass afrikanische Staaten in der Regel scheitern und ihre Bevölkerungen dabei müde und passiv zuschauen, ist eine verkürzte beziehungsweise schlicht nicht zutreffende Vorstellung. Demokratien laufen derzeit leider weltweit Gefahr, ins Autokratische hineinzuschlittern – das ist keineswegs eine genuin afrikanische Erfahrung.

Doch echte Herausforderungen gibt es auf dem Kontinent durchaus, und sie werden von Dipo Faloyin nicht ignoriert. Er zieht überzeugende Linien in die Kolonialzeit und benennt (nicht als erster) die gravierende Mitschuld der europäischen Länder. Seine überzeugende Darstellung setzt bei jener grossen und falschen Karte ein, auf deren Grundlage die europäischen Grossmächte an der Berliner Konferenz 1884/1885 den afrikanischen Kontinent unter sich aufteilten, ohne auch nur im Geringsten an mögliche Folgen zu denken. Die Karte bestand aus «knapp fünf Metern topografischen Unsinns, skizziert von Männern, die nie einen Fuss auf 90 Prozent des Landes, das sie abzubilden behaupteten, gesetzt hatten.» Bis heute ist es die Standardstrategie des Westens, das Schicksal Afrikas nicht den Afrikaner*innen zu überlassen – und dabei immer auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein.

Doch Dipo Faloyin macht deutlich, dass die afrikanischen Länder für sich selbst sorgen müssen und dies auch können. Uns Leser*innen macht er in erfrischend klaren Worten auf gewisse verzerrte Vorstellungen in unseren Köpfen aufmerksam. Dazu passend schreibt die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie im vorangestellten Motto: «Wenn alles, was ich über Afrika wüsste, von den weit verbreiteten Bildern herrührte, würde auch ich denken, dass Afrika ein Ort mit schönen Landschaften, schönen Tieren und unbelehrbaren Menschen ist, die sinnlose Kriege führen, an Armut und AIDS sterben, nicht imstande, für sich selbst zu sprechen.» Das Buch «Afrika ist kein Land» ist mit guten Gründen eine nachdrückliche Leseempfehlung.

Dipo Faloyin: Afrika ist kein Land, Suhrkamp 2023.

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Viersprachiger Abend: Jachen Andry

Ausgesprochen bewegt war die Lesung mit dem Lyriker Jachen Andry und der Verlegerin Mevina Puorger am 26. Oktober 2023. Sie gestaltete sich viersprachig, klangvoll, rhythmisch, sinnig und kurzweilig – und wird lange in Erinnerung bleiben.

Jachen Andry las aus seinen rätoromanischen Gedichten und berücksichtigte dabei auch die Übersetzungen ins Französische, Italienische und Deutsche. Durch Erläuterungen und Erzählungen dazwischen brachte er seine Lyrik auf eine wunderbare Art nahe. Ebenfalls viersprachig las Mevina Puorger. Sie begleitete den Autoren im Gespräch und verwöhnte das Publikum.

Das Labyrinth bedankt sich von Herzen für den anregenden und einzigartigen Abend und empfiehlt den viersprachigen Gedichtband allen Lyrikbewegten sowie auch jenen, die es noch werden möchten. Das Buch ist wunderschön gestaltet, in leichtgraues Leinen gebunden und mit einem zartrosa Faden versehen:

jachen andry: fil – filo – fil – faden, editionmevinapuorger, 2023.
Übersetzung von Jachen Andry, Marisa Keller-Ottaviano und Aline Delacrétaz.

© Foto: Kees Idenburg

Deborah Levy: August Blau

Elsa M. Anderson ist eine berühmte Konzertpianistin. Doch als sie in Wien Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert spielen soll, vermasselt sie es. Sie verlässt die Bühne, und ihre Identität als Wunderkind wird auf einen Schlag unstet. Drei Wochen später beobachtet sie auf einem Flohmarkt in Athen eine Frau, die zwei mechanische Tanzpferde kauft. Elsa fühlt sich auf sonderbare Weise mit der Unbekannten verbunden und hält sie für ihre Doppelgängerin. Sie beginnt die Frau zu suchen, mit ihr in Gedanken zu kommunizieren. Doch die Frau möchte sich nicht widerstandslos  zum Alter Ego machen und läuft Elsa in den Strassen von Paris davon. Und so versucht Elsa mithilfe und trotz ihres Doubles, ihrer Mütter, ihres Adoptivvater-Klavierlehrers, ihrer Liebsten und Schüler*innen ein neues Ich zu komponieren, ihre eigene Geschichte zu spinnen.

Deborah Levy: August Blau, aki 2023.

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Deniz Utlu: Vaters Meer

Yunus ist dreizehn Jahre alt, als sein Vater zwei Schlaganfälle erleidet und danach nahezu vollständig gelähmt ist. Er kann nur noch über Augenbewegungen kommunizieren. Zehn Jahre wird er von Yunus’ Mutter gepflegt, erst in einem Heim, dann zu Hause, bevor er stirbt. Und Yunus, der zum Studium ausgezogen ist aus der elterlichen Wohnung, ruft sich immer wieder Bilder aus seiner Kindheit wach: Erlebnisse und Gespräche mit dem Vater, von denen er manchmal gar nicht mehr wusste, dass er sie noch in sich trägt. Sie fügen sich zu dem warmherzigen Porträt eines Mannes, der mit lauter Stimme lachte oder auf Arabisch fluchte, der häufig abwesend und leicht reizbar war und der einst aus Mardin nahe der türkisch-syrischen Grenze nach Istanbul ging, dort den Militärputsch miterlebte und schliesslich mit einem Frachtschiff nach Deutschland kam.

Deniz Utlu, Vaters Meer. Suhrkamp 2023.

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Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit

Rezension von Julia Rüegger

Was passiert, wenn Vorurteile uns davon abhalten, unserem Gegenüber unvoreingenommen zu begegnen und seinen Aussagen grundsätzlich Glauben zu schenken? Was macht es mit mächtigen oder mit marginalisierten Personen, wenn keine Sprache und noch nicht einmal ein soziales Sensorium für Phänomene wie sexualisierte Gewalt oder psychische Erkrankungen besteht? Und wie wirken sich diese epistemischen Ungerechtigkeiten auf die persönliche Entwicklung von Individuen, auf unser soziales Miteinander und unsere Wissenspraktiken aus?

Diese ebenso komplexen wie hochpolitischen Fragen thematisiert Miranda Fricker in ihrem Buch »Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens», das bereits 2007 auf Englisch erschien, doch erst jetzt von Antje Korsmeier ins Deutsche übersetzt wurde. Es bietet grundlegende Analysen an der Schnittstelle von Ethik und Erkenntnistheorie, gepaart mit der Einsicht, dass unser Wissen und unsere Urteilsbildung nie nur das Abbild neutraler Informationsbeschaffung sind, sondern eingebettet in hochgradig soziale und politische Situationen, die von vielschichtigen Machtverhältnissen und vorurteilsgeleiteten Stereotypen durchzogen sind. Dass uns diese Gedanken inzwischen nicht mehr ganz neu erscheinen, ist auch Frickers theoretischer Arbeit zu verdanken.Der Philosophin ging es von Anfang an darum, Ansätze feministischer Kritik in das eher konservative Feld der Erkenntnisphilosophie einzubringen und blinde Flecken in der Theoriebildung anzusprechen, wie Fricker im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt: «Es war […] meine eigene rastlose Enttäuschung von der Disziplin der Philosophie, die den Anstoss zu diesem Buch gab, sowie mein Bedürfnis, diese Enttäuschung zu verstehen: Ich wollte zeigen, dass es zumindest eine glaubwürdige Theorie faktischen Wissens gibt, bei der Fragen von Macht, von sozialer Identität und von Vorurteilen im Zentrum stehen.» (16)

An zahlreichen Beispielen, die Fricker oftmals aus literarischen Texten oder Filmszenen bezieht, die sie einem detektivischen Close Reading unterzieht, zeigt sie im ersten, längeren Teil des Buches auf, dass Zeugnisungerechtigkeit (testimonial injustice) dann auftritt, wenn einer Sprecherin aufgrund von Vorurteilen auf Seiten der Zuhörerin nicht so viel Glauben geschenkt wird, wie es ohne diese Vorurteile der Fall wäre – kurz, wenn «ein Glaubwürdigkeitsdefizit aufgrund von Identitätsvorurteilen» (27) auftritt. Dieses Beispiel erläutert Fricker anhand einer Szene aus dem Spielfilm «Der talentierte Mister Ripley», in der Herbert Greenleaf, der Vater des ermordeten Dickie, seine Beinahe-Schwiegertochter Marge mit einer abschätzigen Bemerkung zum Schweigen bringt, als diese ihren Verdacht äussert, dass der gemeinsame Freund Tom Ripley der Mörder sei: «Marge, es gibt weibliche Intuition, und es gibt Fakten.» (33)

Aus Frickers Perspektive stellt Greenleafs Reaktion für Marge einerseits eine Ungerechtigkeit dar, die sie als wissendes Subjekt betrifft und damit zugleich in ihrem Menschsein herabsetzt: «Jegliches epistemische Unrecht verletzt jemanden in seiner Eigenschaft als Wissenssubjekt und damit in einer Eigenschaft, die für den Wert des Menschen wesentlich ist.» (28) Sind solche Situationen der Zeugnisungerechtigkeit anhaltend und systematisch, untergraben sie nicht nur das Selbstbewusstsein einer Person, sondern stellen laut Fricker gar eine Form der Unterdrückung dar. (92) Neben dem umfassenden Schaden, der für die betroffene Person entsteht, stellt Zeugnisungerechtigkeit aber auch ein allgemeineres Problem beim Versuch kompetenter Wissensbildung und Wahrheitsfindung dar. Denn wenn gewisse epistemische Ressourcen aufgrund von Vorurteilen auf Seiten der Zuhörer:innen nicht in angemessener Weise Gehör finden und dadurch die wahrhaftige Einschätzung einer Situation verunmöglicht wird, entsteht daraus mitunter eine fatale Verzerrung von Tatsachen, in deren Folge sich bestehende Machtverhältnisse und Ungerechtigkeiten wiederum reproduzieren können.

Als Antwort auf diese ebenso komplexe wie alltägliche Gemengelage aus asymmetrisch verteilten Glaubwürdigkeitsökonomien und der grundsätzlichen «epistemischen Schuldbeladenheit» von Vorurteilen plädiert Fricker nicht primär für gesellschaftliche Transformation, sondern für die Entwicklung bestimmter epistemischer Tugenden wie der Zeugnissensibilität, die Zeugnisgerechtigkeit auf individueller Ebene herstellen sollen. Die Tugend der Zeugnisgerechtigkeit als «Fähigkeit, mittels derer der Einfluss identitätsbezogener Vorurteile auf das Glaubwürdigkeitsurteil der Zuhörerin bemerkt und korrigiert werden kann» (29), kann Zeugnisungerechtigkeit zwar nicht ganz abschaffen, sie aber immerhin deutlich eindämmen, so Frickers Hoffnung. 

Im zweiten, sehr viel kürzeren Teil des Buches erläutert Fricker, was sie unter der zweiten Sorte epistemischer Ungerechtigkeit, der «hermeneutischen Ungerechtigkeit» (hermeneutic injustice) versteht. Anders als die Zeugnisungerechtigkeit, die bestimmten Sprecher:innen aufgrund von Vorurteilen in spezifischen Situationen keine oder nur mangelhafte Glaubwürdigkeit zuerkennt, entsteht hermeneutische Ungerechtigkeit aufgrund einer «Lücke in den kollektiven hermeneutischen Ressourcen», einem «Mangel unserer geteilten Werkzeuge, mit denen wir gesellschaftliche Vollzüge deuten». (30) Mehrere Jahre vor Beginn der MeToo-Debatte erläutert Fricker in diesem Kapitel, wieso gerade der Fall von sexueller Belästigung lange Zeit von betroffenen Personen nicht erkannt und schon gar nicht sinnhaft gedeutet und als Belästigung benannt werden konnte – und als Folge davon auch nicht kritisiert und verurteilt werden konnte, weil es schlicht und einfach kein kollektives Bewusstsein von dieser Form des Unrechts gab. Aus solchen «hermeneutischen Lücken» (218) entsteht aber offensichtlich nicht für alle das gleiche epistemische Unrecht: vielmehr ermöglicht hermeneutische Ungerechtigkeit für einige Personengruppen einen strukturellen Vorteil und Machtzuwachs, während sie andere Personen (zusätzlich) marginalisiert und entmachtet; sie im Verstehen ihrer Erfahrungen einschränkt und schlimmstenfalls zu einer vollkommenen Ohnmacht gegenüber der eigenen Lebenssituation führt.

Auch wenn die hermeneutische Ungerechtigkeit nicht von Einzelpersonen begangen wird, tritt sie in der Regel in Gesprächen zwischen Einzelpersonen zutage. Die Tugend der hermeneutischen Gerechtigkeit, die Fricker hierfür in Anschlag bringt, setzt demnach auch in diesen Situationen an und erfordert eine «proaktive und gesellschaftliche bewusstere Art des Zuhörens» (234), in der das, was gesagt wird, ebenso wichtig ist wie das, was nicht oder nur undeutlich gesagt werden kann. Und auch wenn eine solch ethisch-intellektuelle Tugend zunächst nur in einzelnen Sprechsituationen zum Einsatz käme, könne sie auf lange Sicht zu gesellschaftlichem und politischem Wandel beitragen, der auf die Abschaffung bestimmter hermeneutischer Ungerechtigkeiten zielt.

Dass Fricker hier und an einigen anderen Stellen zumindest kurz auf die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen eingeht, die den weiteren Rahmen für die Ursachen und Wirkungsweisen epistemischer Ungerechtigkeit bilden, ist beruhigend. Trotz der ausführlichen Erläuterung der vorgeschlagen Tugenden bleibt es nämlich fraglich, wie sinnvoll es ist, so stark auf individuell tugendhafte Zuhörer:innen zu setzen, die mittels Achtsamkeit und Reflexion eigenständig in der Lage sein sollten, historisch-kulturell bedingte Vorurteilsstrukturen spontan zu hinterfragen und strukturelle Schieflagen oder gar hermeneutische Lücken durch bewussteres Zuhören einfach auszugleichen.

Es wäre daher wünschenswert gewesen, dass Fricker genauer ausgeführt hätte, was es für demokratische Institutionen, für Politik, Bildung, Medien und die Rechtsprechung bedeuten könnte, diesen epistemischen Ungerechtigkeiten und ihren individuellen wie kollektiven Schäden verstärkt Rechnung zu tragen, anstatt sich allein auf die Tugendhaftigkeit von Einzelpersonen zu fokussieren. Auch Frickers Gebrauch von Beispielen fällt nicht immer überzeugend aus, und wenn sie in der Einleitung davon schreibt, sie wolle verstehen, wie unser epistemisches Verhalten «sowohl rationaler als auch gerechter werden könnte» (26), kommen schon mal Zweifel auf, ob der Begriff der Rationalität in diesem Kontext wirklich so unbeschadet zu gebrauchen ist. Zudem mutet es seltsam an, dass im ganzen Buch das Wort «intersektional» kein einziges Mal auftaucht, obwohl Fricker viel davon schreibt, wie bestimmte (race, class- oder genderbezogene) Identitätskonstruktionen mit sozialen, epistemischen und materiellen Ungleichheiten zusammenwirken. Und dass das wichtige Thema der hermeneutischen Ungerechtigkeit gerade mal einen Fünftel der gesamten Buchlänge ausmacht, ist schade und nicht ganz nachvollziehbar.

Dennoch ist Frickers Buch eine beachtliche Leistung. Mit der Rede von Zeugnisungerechtigkeit, hermeneutischer Ungerechtigkeit und epistemischer Ungerechtigkeit prägt Fricker Begriffe, die im kritischen Diskurs selbst eine hermeneutische Lücke schliessen und die uns zeigen, wieso epistemisches und soziales Unrecht aufs Engste miteinander verbunden sind. Damit leistet Fricker zumindest auf der Ebene der Problemanalyse einen fundamentalen Beitrag sowohl zur Erkenntnisphilosophie als auch zu politischer Philosophie und Ethik, und nicht zuletzt zu gesellschaftlichen Debatten darüber, wer worüber sprechen kann; wem wir aus welchen Gründen nicht nur zuzuhören, sondern auch zu glauben bereit sind – und wem wir diese grundlegende Form der Anerkennung verweigern.

Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des WIssens. C. H. Beck, München 2023.

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Fabian Baumann: Dynasty Divided

A Family History of Russian and Ukrainian Nationalism

In seinem ersten Buch, das auf seiner Basler Dissertation beruht, erzählt der Historiker Fabian Baumann die Geschichte einer zwiegespaltenen Dynastie von Gelehrten, Journalist*innen und Politikern im Kiew des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Šul’gins sahen sich als Russ*innen und verteidigten die zaristische Autokratie; ihre Verwandten, die Šul’hyns identifizierten sich mit der ukrainischen Nation und mit sozialistischen Ideen. Anhand ihrer Lebensgeschichten zeigt Baumann, wie diese Männer und Frauen bewusst eine nationale Identität auswählten und kultivierten und wie sie so dazu beitrugen, dass sich die Ukraine und Russland langsam, aber sicher auseinanderbewegten.

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Jens Andersen: Tove Ditlevsen – Ihr Leben.

Jens Andersen erzählt aus Tove Ditlevsens Leben, von dem Weg, den sie als Schriftstellerin gegangen ist, ihrem turbulenten Werdegang mit allen Höhen und Tiefen, ihrem Leben als Frau, Mutter und Künstlerin. Tove Ditlevsen schrieb Autofiktion, lange bevor das Wort erfunden wurde, und setzte sich und ihre Beziehungen kompromisslos in ihrer Literatur ein. Sie hatte eine paradoxe Sehnsucht nach einem geordneten bürgerlichen Familienleben, schaffte es aber nie, sich darin einzurichten. Zugleich schrieb sie gerade dann, wenn das Familienleben kompliziert wurde, ihre besten Texte. Sie liebte es, aufzutreten, und hatte einen überbordenden Humor und Sinn für Komik. In dieser Biographie werden die aussergewöhnliche, lebenshungrige Seite ihrer Persönlichkeit, ihr zügelloser Freisinn und die radikale Modernität ihres Schreibens zum ersten Mal beleuchtet.

Jens Andersen, Tove Ditlevsen. Ihr Leben. Aufbau 2023

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