Botho Strauss «Nicht mehr. Mehr nicht – Chiffren für sie»

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„Vor mir steht mein Name. Er schliesst alles aus, was ich bin.“ (7) Im Folgenden erzählt die Protagonistin des neuen Textes von Botho Strauss, die norddeutsche Dichterin Gertrud Vormweg, ihr Leben.  Sie spricht, sie schreibt in Aufzeichnungen, Notaten, Notizen – Botho Strauss nennt sie „Chiffren“ – in gleichsam loser Folge und doch in der Folge einer Geschichte, einer Entwicklung und schliesslich einer Überwindung. Es ist die Geschichte eines Verlassen-Werdens und Verlassen-Seins. Es ist nicht (nur) ihre Geschichte. Sie erzählt ihre Geschichte als Geschichte der Dido, lieber Elissa genannt, sie erzählt die Geschichte im Vorbild ihrer Geschichte. Dazu dienen die Aufzeichnungen, die Form, die Botho Strauss  „Chiffren“ nennt.

‚Vormweg‘, der Name der Dichterin, ist der Anfang einer extremen Spannung mit der Aporie als ihrem Ende. Von diesem Ende, vom Verlassen-Sein her entstehen die Chiffren. „Oder ist der Weg verloren gegangen?“ (13) Chiffren gehen durch die Zeiten hindurch, über Zeiten hinweg, vergessen das Vergehen (der Zeit). Sie gewähren der Sprache Asyl, ein Dach über dem Kopf, sie ermöglichen überhaupt Sprache. Sie setzen zu einem Sprechen an, das versiegt war und das nun, mit der Anderen (mit dem Vorbild, mit Dido) wieder aufbricht zu einer Ich-Form, mit dem anderen gelebten Leben wieder eine Geschichte erwirbt. Und damit kann sie ihr Schicksal in eine sprachliche Form bringen.

Ihr Sein, ihr Verlassen-Sein, scheint durch ihr (auch erworbenes) Schicksal hindurch. Ihr Schicksal ist gleichsam „geprägte Form“. Ihr (neues) sprachliches Ich hingegen, durch das das Sein nicht durchscheint, bricht zu einem neuen Sprechen auf, das aus dieser Form herausgetreten ist. Die Chiffren benennen die Erinnerungen um. Sie haben das, was nicht aussprechbar war oder was nur in Aus-Reden zerredet werden konnte, verlassen und mit einem Sprach-Tanz begonnen. Die Sprache verwandelt das Nicht-Mehr, die geprägte Form im Zeitstrahl. Mit der neuen Sprachform verwandelt auch sie sich. Als Verlassene blieb sie zurück, wartete, lernte zu dulden und beginnt nun, das Nicht zu akzeptieren. Das tanzende leere Kleid des Covers (Buchumschlags) ist ein schönes Bild für diesen gegenläufigen Prozess, der Sprache gegen die Zeit. Es ist, als hätte eine Vergebung stattgefunden, und die Vorgeschichte und ihr Schicksal wären gleich-gültig geworden. Damit entsteht eine neue Spannung, diejenige von Ichten – Nichten (Celan), oder ist es umgekehrt?

Das Verfahren, nach dem Botho Strauss in diesem Text quasi kryptisch, chiffriert vorgeht, hat er in einem anderen Essai so beschrieben: „Ich möchte ein Gebärdensammler gewesen sein. – Ein Palimpsestleser, der bei jedem Menschen, den er betrachtet, die Erstschrift eines tieferen Lebens entdeckt.“ (in: „Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern.“ – Rowohlt, Hamburg 2020. S.160)

[Ich verdanke diesen Hinweis Ralf Neubauer, HyperWerk]