Buchempfehlung: Helmut Lethen – Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug – Erinnerungen

Rowohlt, Berlin 2020

Helmut Lethen ist vor allem bekannt geworden mit seinen «Verhaltenslehren der Kälte». Diese sind eine Untersuchung zu Verhaltensstrategien zwischen den Weltkriegen, im politischen Spannungsfeld einer aufsteigenden ungeheuren totalitären Macht, in dem der Einzelne nichts zählt und der Mensch nur insofern er der Macht dient. Der Mensch muss lernen, vom Menschlichen abzusehen und mit einer glaubhaften politischen Maske zu agieren, die sein Überleben – vielleicht – ermöglicht.

In Lektüren von Brecht, Benjamin und Carl Schmitt stösst H.L. auf Baltasar Graciàns Handorakel, das, zwar vor mehr als 300 Jahren geschrieben, zu einem aktuellen «Ratgeber für das Verhalten auf vermintem Gelände [wird], auf dem man keinen Schritt tun darf, ohne vorher zu prüfen, wo man den Fuss hinsetzt.  Moral dient in solchen Situationen nicht als innerer Kompass. In einem Milieu, in dem jeder bedroht ist, empfiehlt es sich, von Moral abzusehen und taktische Regeln zu beachten.»(251) In seinen weiteren Bezugnahmen von einer Anthropologie der Neuen Sachlichkeit bis zu Plessners «Grenzen der Gemeinschaft» wird das Buch mehr und mehr zu einer Abhandlung über Geist und Politik im 20. Jahrhundert.

In solchem Sinn sind auch die soeben erschienen «Erinnerungen» von Lethen zu lesen, die seine zum Teil vaterlose Kindheit im Zweiten Weltkrieg, seine Jahre als studentischer Unruhestifter in Berlin (Lethen erhielt deswegen in Deutschland nicht nur Berufsverbot, er wurde auch aus der KPD/AO ausgeschlossen), seine ‘Exiljahre’ in Holland, seine Dozentur in Utrecht beleuchten und beschreiben. Dieses Buch macht aber auch deutlich, wie sehr er von seinem eigenen Werk geprägt ist, das für die Pluralität seiner Subjektivität gleichsam ein Kontinuum bildet. Dabei verdankt sich dieses Werk einer radikalen Kritik eines bestimmenden, herrschaftlichen Kontinuums. (156-169) In Nicht-Zugehörigkeiten zu sich, zu Nation, zu Parteien, zu Heimat etc. entwickelt sich H.L. auch als ein ‘étranger’ des 20. Jahrhunderts, der in solcher Stimmung indes Handke liest und dessen beinah quietistischen Satz aus «Das Gewicht der Welt» zu seiner Maxime macht, die alle Taktiken und Strategien durchdringt: «In die blaue Luft vor sich schauen nach einem Halt.» (192)

Hier bestellen.