Lena Andersson: Der gewöhnliche Mensch

Rezension von Julia Rüegger

Der Titel ist Programm: Ragnar Johansson ist ein durch und durch gewöhnlicher Mensch, und das bedeutet vor allem: einer, der sich Mühe gibt, gewöhnlich zu sein und ja nicht zu viel vom Leben zu erwarten. Denn: «Von Grösse zu träumen, hiess, das Normale für untauglich zu erklären, und das wollte er nicht.» (26) Geboren wurde er sieben Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in einem kleinen Vorort von Stockholm, wo er im Schoss des nationalen «Volksheims» zu einem soliden Bürger herangezogen wird. Und «Volksheim» (auf Schwedisch folkhemmet) bezeichnet als politische Metapher des schwedischen Wohlfahrtsstaates weit mehr als nur ein Regierungssystem: Es benennt eine ganze Ära und mit ihr das Versprechen, der schwedischen Gesellschaft durch eine Mischung von Leistungsdenken und Gemeinwohl, Fleiß und Rationalität in einen Zustand glückseliger Modernität zu verhelfen, die dem Leben seiner BürgerInnen umfassend Sinn und Struktur verleiht.

Ragnar geht in diesem Glauben voll und ganz auf. Er verwehrt sich dagegen, das Kutschereigeschäft des Vaters zu übernehmen, das seiner Meinung nach bald der Vergangenheit angehören wird, und wird Werklehrer an einer neugegründeten Schule. Kurz darauf trifft er Elisabeth, «knapp über dreissig, psychisch stabil und von unabhängigem Wesen» (67), die im ländlichen Norrbotten aufwuchs und in der Schule dazu angehalten wurde, Standardschwedisch zu sprechen. Sie wird trotz Einnahme der Pille schwanger, und so kommen kurz nacheinander Erik und Elsa zur Welt, die Ragnar im vollen Einklang mit seinen Werten zu erziehen versucht. Da passt es äusserst gut, dass die junge Familie bald in eine Neubausiedlung umziehen kann, die als Wohnraum der Zukunft und Inkarnation des Volksheims gepriesen wird: «Hier sollte die neue Zeit beginnen, leuchtend und strahlend.» (93) Neben kommunalen Sport- und Spielplätzen gab es allerlei «kommunale Räumlichkeiten, in denen man sich treffen konnte, um sich im demokratischen Prozedere zu üben und gleichzeitig Spass zu haben.» (92)

In dieser neuen Welt angekommen, dem Ballast der Vergangenheit enthoben, kann sich Ragnar ganz dem Sport widmen und seiner emphatischen Idee davon, was Moderne, Staat und ein gelingendes Leben bedeuten. Während sich der heranwachsende Sohn den Prinzipien des Vaters bald zu entziehen beginnt, versucht die Tochter als begnadete Skirennläuferin beinahe zwanghaft, ihrem Vater zu gefallen und seiner Leistungserwartung zu entsprechen. So vergehen Jahre, in denen Vater und Tochter jede freie Stunde beim Training oder einem Wettkampf in der schwedischen Provinz verbringen – bis zu dem Tag, an dem Olof Palme, der Premierminister und Garant des sozialdemokratischen Volksheim-Idylls, ermordet wird. Diese Tragödie, die ganz Europa erschütterte, markiert auch für Ragnars eigenes Leben eine Zeitenwende. Insgeheim wünscht er sich, wie seine Frau zuhause zu bleiben und das Staatsbegräbnis im Fernsehen mitzuverfolgen, anstatt auf einen weiteren anonymen Wettkampf zu fahren. Von nun an beginnt seine Prinzipientreue zu bröckeln, und als Elsa kurz darauf verkündet, mit dem Sport aufzuhören, scheint ihm das den Todesstoss zu versetzen. «Wenn er sich innerlich nicht so leer gefühlt hätte, hätte er geweint, aber das hätte ein lebendiges Herz verlangt, und seines schien tot.» (255)

Als Elsa sich mit Haut und Haar der Welt der Literatur und Philosophie zuwendet, fürchtet Ragnar, dass sie in «befremdliche Schichten» (262) aufsteigen könnte und fühlt sich zunehmend nutzlos und allein. Aber vielleicht hat es genau diese Desillusionierung gebraucht, damit Ragnar selbst noch einmal aus seinem zum Panzer gewordenen Weltverständnis ausbrechen kann. Er scheint zu erkennen, dass er sich jetzt als alternder Mann noch einmal selbst modernisieren muss, und das heisst vor allem: in seinen Werten und Gewohnheiten flexibler zu werden. Bei einer Schulfahrt in Paris kommt er einer Lehrerkollegin näher, geht eine Weile mit ihr fremd und trennt sich dann offiziell von Elisabeth, für die das Ende dieser eher zweckhaften Ehe wohl auch keinen Untergang bedeutet.

Zuletzt stirbt Mutter Svea, der an einem Herbsttag zwei Jahre vor Ende des 20. Jahrhunderts der Tod als «vorteilhafte Alternative» (281) erscheint. Mit ihr endet ein Jahrhundert voller Kriege und Traumata, aber auch ein Jahrhundert, in dem Schweden den Wohlfahrtsstaat bekam und Ragnar glauben konnte, Teil einer realen gesellschaftlichen Utopie zu sein (und eines Tages Vater einer Olympia-Siegerin).  Zwar hat Elsa gerade erfolgreich ihre Dissertation in Linguistik abgeschlossen, doch davon versteht Ragnar nicht das Geringste und weiss bei der Abschlussfeier auch nicht so recht, wohin mit sich. Aber immerhin: Er erkennt, dass Elsa ihren Weg gehen wird, in eine Zukunft, von der er nur noch einen kleinen Teil erleben wird.

Auch ich wusste beim Lesen streckenweise nicht so recht, wohin mit der Geschichte von diesem gewöhnlichen Menschen. Erzählt uns Andersson mit Ragnar die Geschichte einer Epoche, die in ihm nur personifiziert wird, oder doch eher die Geschichte eines Individuums, das zur befremdlichen bis tragischen Überidentifikation mit der damaligen Mentalität neigt? Oder will die Autorin ausleuchten, wie jemand altert, dessen Welt sich nicht in der vorgesehenen Richtung entwickelt, und der sich auf seine alten Tage zwischen Ratlosigkeit, Verwunderung und Scham neu erfinden muss? Oder ist der Roman der Abgesang auf eine Zeit, in der der Glaube an ein besseres Leben, an gute Bildung und Aufstiegschancen für alle noch mehrheitsfähig war?

Trotz guter Unterhaltung liess mich die Lektüre etwas ratlos zurück. Es fällt mir schwer, ein Porträt mehrerer Jahrzehnte zu lesen, ohne nach Anzeichen brodelnder Krisenherde Ausschau zu halten, wie sie uns heute auf Schritt und Tritt begleiten. Vielleicht aber wollte Andersson genau diese Empfindung heraufbeschwören und den Kontrast aufzeigen, der sich zwischen jener Zeit, in der man glauben konnte, es werde schon alles gut ausgehen, und unserer polarisierten, krisengeschüttelten Gegenwart aufgetan hat.

Zwar hätte ich von der Journalistin Andersson, die eine ausgewiesene Kritikerin ihres Landes ist, einen schärferen, dezidierter politischen Roman erwartet und gehofft, durch die Lektüre ein klareres Gefühl dafür zu bekommen, was das Volksheim für weniger privilegierte Menschen als Ragnar bedeutet hat, z.B. für Menschen, die dem Leistungsimperativ nicht ohne weiteres entsprechen konnten oder die in jenen Jahren nach Schweden migrierten und dort auf Fremdenfeindlichkeit stiessen (weshalb selbst der moderate Ragnar bei der Schulleitung dafür plädiert, die aufgenommenen Asylsuchenden besser aufs gesamte Land zu verteilen). Vielleicht müsste ich aber auch selbst Schwedin sein, um zu verstehen, dass in dem Roman doch mehr Schärfe und Doppelbödigkeit verborgen sind, als ich erkenne.

Lesenswert ist die Bekanntschaft mit dem «gewöhnlichen Menschen» und die Lektüre all der treffenden Situationsbeschreibungen und minutiös geschilderten inneren Vorgänge allemal. Nicht zuletzt deshalb, weil sich das Porträt einer Gesellschaft, die sich eine Zeitlang um Optimismus und sozialen Fortschrittsglauben versammeln konnte, trotz aller Differenzen auch auf andere westeuropäische Länder übertragen lässt – zumal auf ein Land wie die Schweiz, das ja ebenfalls seine Ragnars hat(te), auch wenn sie hierzulande eher Ueli oder Peter heissen.

Rezension von Julia Rüegger

Basel, 12.03.24

Verlage stellen sich vor: Der Psychosozial-Verlag

Der Psychosozial-Verlag publiziert psychologische, förderpädagogische und sozialwissenschaftliche Bücher und Zeitschriften. Die Schwerpunkte liegen auf den Gebieten Psychoanalyse, Psychotherapie, Beratung, Pädagogik und – wie der Name schon andeutet – auf der Verbindung zwischen psychologischen und sozialen Fragestellungen. 2019 wurde das psychotherapeutische Programm durch die Übernahme des Buch- und Zeitschriftenprogramms des Verlags CIP-Medien ergänzt. 
Entgegen dem herrschenden Trend zur fachspezifischen Einengung des Blickwinkels hat sich der Psychosozial-Verlag zum Ziel gesetzt, den Dialog zwischen den »Psycho-« und den »Sozio-Wissenschaften« und zwischen den verschiedenen helfenden Berufen neu zu beleben. Die Zusammenschreibung von »psychosozial« im Namen des Verlages hat kritisch-programmatischen Charakter.
Der Psychosozial-Verlag möchte mit seinen Publikationen einen Beitrag zur psychosozialen Versorgung sowie zur Inklusion, Anerkennung und Teilhabe leisten. Neben Praxisbüchern für klinische Psychologie, Förderpädagogik, sexuelle Bildung und Beratungswissenschaften stehen deshalb gesellschaftskritische und sozialpsychologische Publikationen – häufig mit emanzipatorischer Zielsetzung.

Ode an die neue Reihe «rororo Entdeckungen»

Der Bücher-Frühling und -Herbst sind mit Blick auf literarische Werke aufregende Jahreszeiten und meine Vorfreude auf ungewöhnliche, frische, berührende und tiefe Geschichten und Sachbücher ist gross. Gleichzeitig ist die Flut der Neuerscheinungen überwältigend und die Vorfreude wird oft von einem Gefühl der Überforderung und des Verpassens begleitet. Mir stellen sich deswegen folgende Fragen: 

  • Wie liest Du, liebe*r Leser*in, und an was oder wem orientierst Du Dich bei der Auswahl Deiner Lektüre?
  • Was für einen Lese-Rhythmus hast Du?
  • Liest Du in die Vergangenheit hinein oder orientierst Du Dich an Neuerscheinungen?
  • Musst/Willst Du im Gespräch bleiben, vielleicht sogar darüber schreiben und berichten können, kuratierst Du ein Literatur-Festival oder ist es Dir ein Bedürfnis, in der literarischen Welt à jour zu bleiben?
  • Hält Dich ein Lesekreis auf Trab und dirigiert dieser Dir die zu erlesenden Bücher?

Ein interessanter Weg und mein liebstes Rezept, um neue Bücher von Autor*innen zu entdecken, ist das Zuhören. Freund*innen zuhören, die ein feines Gespür dafür haben, was ich gerne lese und die so von einem Buch erzählen, dass mich die Leselust packt. Diese schöne Sehnsucht, sich einen Text erschliessen zu wollen. Persönliche Empfehlungen erschaffen eine Leselinie, die oft achronologisch funktioniert und ein munteres Mäandrieren im Jetzt und in der Vergangenheit bedeuten kann. Ebenso gerne höre ich Menschen auf Sozialen Medien zu, wie beispielsweise auf der Plattform Instagram, die sich dem Entdecken von Werken von Autorinnen und unabhängigen, kreativen, kleinen und wagemutigen Verlagen verschrieben haben. Diese Menschen kenne ich nicht persönlich, doch schätze ich ihr Wissen und ihre Erfahrung. 

Eine solche Person ist Nicole Seifert, die Du womöglich kennst, wenn Du das Buch FRAUEN LITERATUR (2021) gelesen hast oder ihr auf Instagram folgst (@nachtundtag.blog). Sie ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, gelernte Verlagsbuchhändlerin und arbeitet als Übersetzerin und Autorin. 

Neben den kurzweiligen, einladenden Besprechungen, die sie auf Instagram mit der Öffentlichkeit teilt, kuratiert Nicole Seifert zusammen mit Magda Birkmann die Reihe rororo Entdeckungen bei Rohwolt, die sich vergessenen Autorinnen widmet. Autorinnen des letzten Jahrhunderts, die aus dem literarischen Kanon gefallen bzw. nie aufgenommen worden sind und dadurch schnell in Vergessenheit gerieten. Ihre Werke sind heute, wenn überhaupt, nur noch antiquarisch erhältlich. Nicole Seifert und Magda Birkmann nennen diese vergessenen Bücher und Autorinnen «die gute Nachricht», denn durch sie gibt es sehr vieles zum Wiederentdecken.

Magda Birkmann ist Buchhändlerin in der Buchhandlung Ocelot in Berlin und freiberufliche Literaturvermittlerin. In diesem Jahr 2024 ist sie Teil der Jury der Akademie Deutscher Buchpreis, die den prestigeträchtigen Deutschen Buchpreis verleiht. 

Im September 2023 erschienen die ersten drei Bücher der rororo Entdeckungen, von denen ich hier zwei vorstelle. Neben «Freundliche junge Damen» von Mary Renault, einem modernen Klassiker und frühen Beispiel für Literatur mit LGBTQ-Thema, gehören «Ein Mädchen mit Prokura» von Christa Anita Brück (Erstveröffentlichung 1932) sowie «Eine Tochter Harlems» von Louise Meriwether (Erstveröffentlichung 1970) zur Reihe.

Christa Anita Brück: Ein Mädchen mit Prokura

In Christa Anita Brücks «Ein Mädchen mit Prokura» taucht man ins Berlin der 1930er-Jahre ein. Thea Iken ist Prokuristin in der Bank Brüggemann und besitzt daher in ihrem Betrieb die erteilte handelsrechtliche Vollmacht (die sogenannte Prokura), um alle Arten von Rechtsgeschäften vorzunehmen. Thea Iken ist eine faszinierende, emanzipierte Figur, die sich höchst loyal zu ihrem Arbeitgeber verhält, immer als Erste die Bank betritt und diese als Letzte verlässt und trotz bissigem Sexismus vonseiten ihrer Arbeitskolleg*innen sowie anstrengendem Tagesgeschäft kühlen Kopf bewahrt. Die aufkommende Bankenkrise 1931 stresst die Angestellten und Christa Anita Brück versteht es, die nervösen Vibrationen und Ängste der einzelnen Figuren mit feinen, schnellen Strichen nachzuzeichnen. Dem Sog, der sich im Roman rasch entwickelt, kann man sich nur schwer entziehen. Als es in der Bank zu einem Mord kommt und Thea Iken als Hauptverdächtige gilt, wird die Neugier umso stärker, denn man möchte unbedingt erfahren, wie sich dieser Mord zugetragen hat. Die Sprache Brücks ist stark in der Gegenwart von Thea Ikens Realität zu verordnen: sie schreibt klar, schmissig, schwungvoll und verwebt dialektale Färbung gekonnt mit Standardsprache, die Dialoge sind trocken und pointiert humorvoll. Wark, ein Börsenmakler und Mitarbeiter Ikens mit einer beinahe prophetischen Nase für die Kurs-Entwicklung, wird von Brück folgendermassen beschrieben: 

«Er besitzt ausgesprochen sadistische Neigungen, dieser Wark, eine gehörige Portion Eitelkeit und Grosstuerei. Er weidet sich an der Qual seiner Opfer. Er ist sich seiner Bedeutung sehr wohl bewusst und gibt seine Weisheiten nur pfennigweise ab. Eine Handbewegung, ein Achselzucken, ein Blick an die Decke, und er reisst die Herzen hin und her zwischen Furcht und Erleichterung, Hoffnung und Entsetzen. Er spannt sie, foltert sie, erlöst sie von ihrem Druck, um sie aufs Neue zu erschrecken, zu verstören, herablassend lächelnd halbwegs wieder zu beschwichtigen.» (S. 50-51)

Thea Iken, deren Figur immer eine gewisse Zurückhaltung und etwas Geheimnisvolles ausstrahlt, behält auch während den Untersuchungen der Staatsanwaltschaft eindrücklich Haltung, was Brück wie folgt beschreibt: «Sie stellt sich vors Fenster, und ein schwarzes Schattengeviert bringt das Gitter auf ihr Gesicht. Ihr Haar ist verwühlt, ihr Kopf dröhnt vor Schmerzen. Sie friert, sie weint, sie ist schwach, mein Gott, sie ist schwach. Sie hat sechs Monate durchgehalten mit beispielloser Energie, jetzt, einen Tag zu früh, bricht sie zusammen. Morgen darf sie sich fallen lassen, morgen, nicht heute. Aber sie kann es nicht hindern, sie fühlt sich stürzen ins Bodenlose.» (S. 192)

Die Beschreibung ihrer Untersuchungshaft ist mit Blick auf Autorinnen wie beispielsweise Emmy Hennings, Margarethe Böhne oder Else Jerusalem, die sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mit den Themen Gefängnis (und Sexarbeit) auseinandergesetzt haben, aufschlussreich und relevant. Ähnlich wie bei Hennings, deren Protagonistin im Roman «Gefängnis» (1919) über viele Seiten hin einen inneren Monolog führt und ihre Situation sowie gesamte Existenz in Frage stellt, sind Reflexion und grosse Verzweiflung auch bei Thea Iken zu beobachten.

Das Nachwort von Magda Birkmann bietet informativen Kontext zum Roman und seiner Autorin. Birkmann weist auf die autobiographischen Erfahrungen von Christa Jaab hin, die unter dem Pseudonym Christa Anita Brück mehrere Romane veröffentlichte und den Fokus auf die prekäre Lebenssituationen und Arbeitsbedingungen weiblicher Angestellten legte. Kritisch beleuchtet Birkmann Brücks Schrifstellerinnenkarriere während des Nationalsozialismus wie auch danach.


Louise Meriwether: Eine Tochter Harlems

Ebenfalls in den 1930er-Jahren spielt der Roman «Eine Tochter Harlems» von Louise Meriwether, der in einem heissen Sommer in New York situiert ist. Meriwethers erster Roman ist beeindruckend auf inhaltlicher sowie sprachlicher Ebene und erlaubt einen Blick und ein Sich-Hineinversetzen in das Leben und in die desolate Lage der Schwarzen Bevölkerung Harlems sowie den USA zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Hauptfigur ist die 12-jährige Francie, die mit ihren Eltern und beiden Brüdern Sterling und James Junior in einer kleinen Wohnung in der Fifth Avenue lebt. Francies Vater arbeitet als Number Runner im illegalen Lotteriegeschäft und ihre Mutter putzt jeweils nachmittags. Weil das Geld nirgends hinreicht, stellt die Mutter heimlich einen Antrag bei der Fürsorge und gesteht dies anschliessend ihrem Mann: 

«Daddy sprang überraschend schnell auf die Füsse. Die Muskeln an seinem Hals zogen sich zusammen, und er klappte den Mund auf, aber da kam nichts raus. Er sah aus wie erwürgt.
Mutter jammerte, als würde es ihr wehtun, ihn so zu sehen. ‘Dein Stolz wird diese Kinder nicht satt machen’, sagte sie leise.» (S. 104-105)

Im Vorwort schreibt James Baldwin voller Lob über Louise Meriwethers Roman und ist sich nicht sicher, ob das Leben in Harlem schon einmal aus der Perspektive eines schwarzen Mädchens beschrieben wurde. Baldwin schreibt: «Das Herzstück dieses Buches, das ihm seine eigentliche Wucht verleiht, bildet die immer stärker werdende Einsicht eines Kindes, dass es zu den Opfern einer kollektiven Vergewaltigung zählt, denn Geschichte wird, und das gilt ganz besonders auf dem schwarz-weissen Kampfplatz, nicht in der Vergangenheit geschrieben, sondern in der Gegenwart.» (S. 9-10)

Die Protagonistin Francie nimmt die Lesenden ohne viel Brimborium in ihr enges Zuhause mit: zusammen mit ihr stürzt man in Eile die Feuertreppe hoch, rennt durch das Prostituiertenviertel auf dem Weg zur Schule, versucht Gangs zu umgehen, schleicht sich ins Kino und erfährt immer wieder sexuelle Übergriffe, die ganz nebenbei geschehen. Francie scheint ein wenig naiv zu sein und oft ist sie von grosser Angst begleitet, dass ihr Daddy nicht mehr zurückkehrt oder einem ihrer Brüder etwas zustösst, doch gleichzeitig ist diese Naivität noch ihr grösster Schutz, bevor sie zur Frau wird. Als sie das erste Mal ihre Periode bekommt, schreit sie nach ihrer Mutter, die ihr ein abgerissenes Stück Laken und zwei Sicherheitsnadeln bringt. Sie befestigt ihr die Einlage am Unterhemd und folgender Dialog entfaltet sich: 

«’Francie, das heisst, du wirst erwachsen.’
‘Ja, Mutter.’ Ich guckte sie an und wartete.
Unsere Blicke trafen sich. ‘Das heisst …’ Sie zögerte.
Dann sah sie weg und sagte mit zackiger Stimme: ‘Das heisst, lass keine Jungs Blödsinn mit dir machen.’
‘Ja, Mutter.’
[…]
Dann war sie weg, und ich verstand nicht mehr über meine Periode als vorher.» (S. 108-9) 

Meriwethers Sprache ist wirkungsvoll und ihre leise, nachdrückliche Art, Francies Alltag zu erzählen, führt dazu, dass man sie über Jahre lesend begleiten möchte. Ein sehr eindrücklicher Roman und wunderbar stimmig übersetzt von Andrea O’Brien. Birkmann erzählt im Nachwort mehr zu Louise Meriwether und ihrem politischen Schreiben und Leben. Eine wichtige Autorin, deren Werk wir uns annähern sollten und die sich selbst als «Autorin, passionierte Aktivistin und Peacenik» (S. 300) bezeichnet.


Rororo Entdeckungen bedeutet achronologisches Lesen, bedeutet, neue alte Literatur von Autorinnen zu entdecken. Im Mai 2024 dürfen wir uns auf drei weitere, neue alte Romane freuen, die Magda Birkmann und Nicole Seifert sorgfältig kuratiert und mit klugen Nachwörtern versehen haben: 

  • «Familienglück» von Laurie Colwin, übersetzt von Sabine Längsfeld, das ein funkelndes Lesevergnügen rund um Familie, Liebe und Freiheit verspricht.
  • «Tagebuch einer Mutter» von Liesbet Dill, ein Roman über Mutterschaft und über Lebensentwürfe von Frauen.
  • «Zauberhafte Aussichten» von Stella Benson, übersetzt von Marie Isabel Matthews-Schlinzig, ein mit Ironie und Scharfblick tief beeindruckendes Werk der literarischen Moderne, in dem eine junge Frau während des Ersten Weltkriegs unter zauberhaften und mysteriösen Umständen zu ihrer eigenen Identität findet.

Passend dazu möchte ich euch das neuste Buch von Nicole Seifert empfehlen: «Einige Herren sagten etwas dazu». Die Autorinnen der Gruppe 47, erschienen im Februar 2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

Es handelt sich um ein wunderbar recherchiertes Sachbuch, das beim Lesen viel Wut und Empörung und Staunen auslöst und Autorinnen vorstellt, die an einer oder mehreren Tagungen der Gruppe 47 teilgenommen haben und von denen wir heute unfassbar wenig bis nichts wissen. Unglaublich informativ und lesenswert!

Basel, Februar 2024

Anaïs Steiner

Tania Raich: Frei sein

Es klingt paradox: Ausgerechnet die Freiheit ist ein umkämpfter Begriff. Sie ist der kleinste gemeinsame Nenner unserer Gesellschaft, und sie ist der Ursprung der grössten Konflikte.
Gut also, dass die Freiheit im Grundgesetz verankert ist. Nur: Wir meinen sehr unterschiedliche Sachen damit. Das gleiche Wort, inbrünstig gerufen aus unterschiedlichen Kehlen: von Abgeordneten sämtlicher Parteien, von Demonstrierenden jeglicher Gesinnung, von sehr vielen Menschen mit sehr unterschiedlichen Zielen. Haben wir die «Freiheit, frei zu sein» (Hannah Arendt)? Was bedeutet Freiheit für das Individuum wirklich? Und welche Rückschlüsse lassen sich daraus für die Gesellschaft ziehen? Die Autor*innen dieses Bandes begeben sich auf Spurensuche in ihrem eigenen Leben und gewähren überraschende Einblicke in zentrale Aspekte wie Konsum, Körper, Populismus, Arbeit, Klasse, Literatur und Liebe.

Tanja Raich (Hg.): Frei sein, Kein & Aber 2024.

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Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht

Es ist das Jahr 1994. In einem Kärntner Dorf am Fuss der Karawanken sitzt die Erzählerin unter einem Lkw und beobachtet die Welt und die Menschen knieabwärts. Sie ist elf Jahre alt und spielt Verstecken mit ihrer Freundin Luca aus Bosnien. Zum letzten Mal, denn die Familie zieht um. Der Hof ist zu klein geworden für den Ehrgeiz der Mutter, die nur eines im Kopf hat – bürgerlich werden! Nach und nach treffen immer mehr Nachbarsleute ein, um beim Umzug zu helfen, und das Kind in seinem Versteck beginnt zu erzählen: von seiner Angst, im Katzlteich ertränkt zu werden, weil es kurze Haare hat. Weil es Bubenjeans trägt. Weil es heimlich in Luca verliebt ist. Dabei ist sie nicht die Einzige, die etwas verbergen muss. Sie kennt Geschichten über die Ankommenden, die in tiefe Abgründe blicken lassen und doch auch Mitgefühl wecken.

Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht, Suhrkamp 2024.

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Alex Glasner-Hummel: Geflohen Verboten Ausgeschlossen

Am 7. Februar 2024 war Alex Glasner-Hummel unser Gast. Er sprach darüber, wie sich Deutschland gegenüber seiner kurdischen Bevölkerung verhält: nicht besonders freundlich, eher ausgrenzend und diskriminierend. Eine relevante Rolle spielt das seit 1993 geltende PKK-Verbot, das der deutsche Staat auch gegen kurdische Vereine, gegen kurdische Kultur, gegen kurdisches Leben ganz allgemein anwendet. Am Beispiel der Geschichten von konkreten Personen, Verlagen, Vereinen, Feierlichkeiten haben wir erfahren, welches Ausmass und welche Absurdität die Repressionen gegenüber der kurdischen Bewegung innerhalb Deutschland annehmen können. Auch über die Gründe und Hintergründe des PKK-Verbots wurde gesprochen, viele davon sind geopolitischer Natur. Alles in allem: ein deutliches deutsches Demokratiedefizit.

ZUM BUCH

Rückblick: Der Elefant im Raum

Am 1. Februar 2024 war das Labyrinth bei zu Gast in den schönen Räumlichkeiten des Theologischen Seminars. In einem von Caspar Battegay moderierten Gespräch stellte Andreas Isenschmid sein Buch „Der Elefant im Raum“ vor. Es war ein angeregter und vielseitiger Abend über das Jüdische im literarischen Schaffen von Marcel Proust. Über Ambivanenzen, über Erzählperspektiven, über Antisemitismus im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts, über vieles mehr. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Verein Buch.Kultur.

ZUM BUCH

Alex Capus: Das kleine Haus am Sonnenhang

Eine kleine Philosophie der Gelassenheit und des stillen Glücks: Alex Capus erzählt eine persönliche Geschichte über die Liebe zur Literatur und ein Leben im Einklang mit sich selbst. – Es sind die neunziger Jahre in Italien. In den Kneipen wird geraucht, an den Tankstellen wird man bedient. Alex Capus bezieht ein einsam stehendes Steinhaus am Sonnenhang eines Weinbergs. Dort verbringt er viel Zeit mit seiner Freundin und Freunden, dort sucht er die Einsamkeit, um an seinem ersten Roman zu schreiben. Wie findet man Zufriedenheit im Leben? Warum stets eine neue Pizza ausprobieren, wenn doch die gewohnte Pizza Fiorentina völlig in Ordnung ist? Warum Jagd nach immer noch schöneren Stränden machen, wenn schon der erste Strand gut ist?

Alex Capus: Das kleine Haus am Sonnenhang, Hanser 2024.

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