Auch 2025: Erzählräume im Labyrinth!

Wie schön, dass Birgitta Schermbach auch 2025 den «Erzählraum» ins Labyrinth bringt! Jeden Monat stehen für einmal nicht die Bücher im Zentrum, sondern das Erzählen eigener Geschichten und das Zuhören von Alltagserfahrungen anderer. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, mit offenen Ohren und eigenen Geschichten vorbeizuschauen.

Was ist ein Erzählraum?
Wir leben in einem Raum aus Erzählungen. Dieser Raum macht unser Weltverstehen aus. Es ist daher von zentraler Bedeutung, neben dem Erzählen ein offenes Ohr für die Geschichten der Anderen zu entwickeln. Wenn wir also im gesellschaftlichen Leben Erfahrungen lebendig halten und nutzbar machen wollen, müssen wir Räume schaffen, in denen Menschen unterschiedlicher Altersklassen ihre Erfahrungen erzählen und anderen zuhören können. Dabei ist es elementar, von Herzen zu sprechen und sich neuen Sichtweisen anzuvertrauen ohne sie als richtig oder falsch zu bewerten.

Jeweils 1x / Monat an einem Mittwochabend von 18.30 – 20.00 Uhr
Anmeldung erwünscht: kontakt@birgittaschermbach.ch

Eintritt frei, mit Kollekte


Mittwoch, 8. Januar
Auf der Suche nach dem Glück

Alle suchen wir wahrscheinlich bewusst oder unbewusst das Glück. Manchen scheint es in den Schoss zu fallen, doch für viele realisiert sich das Glück oft erst nach der Bewältigung mehr oder weniger schwieriger Aufgaben.
Worin auch immer das dauerhafte Glück bestehen mag, das erkunden wir gemeinsam in diesem Erzählraum. 

Mittwoch, 5. Februar
Humor ist alles ist Humor

Spendet Blödsinn Trost in tristen Zeiten? Wie häufig richten Sie Ihre Mundwinkel nach oben? Wann machen Sie sich mal keine Sorgen und tanzen stattdessen? Lassen Sie uns über den Humor im Leben erzählen und zuhören.

Mittwoch, 19. März
Geheimnisvolle Schätze und schätzenswerte Geheimnisse

Geheimnisse sind oft mit einem Verbot oder Gebot verknüpft. Und dann ist man so neugierig, dass man das Verbot übertritt, weil man hinter das Geheimnis kommen will. Welche Verbotsbereiche dürfen denn nicht angetastet werden und welche gilt es zu hinterfragen? Gibt es auch Verbote wie die zivile Gesetzgebung, die überlieferte Moral oder die innere Stimme des Gewissens, die uns nützliche Grenzen setzen? Darüber wollen wir erzählen und zuhören.

Mittwoch, 9. April
Mit List zum friedlichen Miteinander

Eine Märchenbetrachtung zum Frieden und anschliessendem Erzählen, Sinnieren und Zuhören darüber.

Mittwoch, 7. Mai
Nichts tun – das gute Leben

Ist das Leben zu wertvoll, um es mit Arbeit zu verbringen? Oder macht es uns eine gute Ausbildung leichter, pfiffiger mit der Arbeit umzugehen? Könnte es sein, dass wer nüchtern rangeht, bessere Ergebnisse erzielt und mehr Zeit für das «Restleben» hat?
Lassen Sie uns gemeinsam eine der ältesten und wichtigsten Sehnsüchte der Menschheit erkunden. Nämlich das zu tun, worauf man Lust hat, und nicht das tun, was man muss.

Mittwoch, 4. Juni
Fluchen Sie – ob in Nadelstreifen oder Unterhose – herzlich drauflos!

Flüche haben etwas Gerades, Offenes. Auf ein Donnerwetter folgt meist gutes Wetter. Ein Fluch ist ein vom geordneten, bewussten Denken unabhängiger Ausdruck einer Emotion, dessen Bedeutung nicht in Erwägung gezogen wird. Oft dient der Fluch als Blitzableiter des Zornes und stellt eine Art Sicherheitsventil für den angesammelten Dampf der Leidenschaft dar.
Erzählen wir einander unsere Lieblings-Flüche und Schimpfwörter! Auf das unser Fluch-Repertoire nach diesem Erzählraum mit originell kreierten Schimpfwörtern erweitert werde! 

Mittwoch, 3. September
Ge-zwist-er – die dauerhafteste und komplexeste Beziehung

Sind Eltern die Architekten der Geschwisterbeziehung? Oder wächst jedes Geschwisterkind gewissermassen mit anderen Eltern auf, weil sich die Lebensumstände der Familie mit jeder Geburt ändern? Lassen Sie uns über Geschwisterbeziehungen erzählen und darüber, ob Sie und Ihre Geschwister füreinander Freund:in oder Rival:in waren und sind.

Mittwoch, 15. Oktober
Ein Soldat mit seiner Uniform ist mehr als nur eine Sandkastenfigur

Das Spielzeug ist immer ein Spiegelbild der Gesellschaft. Es stellt die grosse Welt im Kleinen dar. Am Material, mit der das Spielzeug hergestellt wurde, lässt sich ablesen, in welcher Zeit wir unterwegs sind. Spielzeug ist nicht nur Zeitvertreib, es fördert Lernen.
Erzählen Sie uns über Ihr liebstes Spielzeug, weshalb es Ihr liebstes war oder heute noch ist, und welche Fantasie es beflügelt.

Mittwoch, 5. November
Die Kostbarkeit der Zeit

Da war doch erst kürzlich der Türrahmen, an dem, Jahr für Jahr mit Bleistift, Datum und Grösse von Ihnen und Ihren Geschwistern markiert wurde, oder?!

Und heute, zum Jahresende, schenken wir einander Erzählungen des Wachstums, die Zeit brauchten, und in denen wir unsere Entwicklung begreifen und spiegeln können. Denn solche Erzählungen sind kostbar und freuen sich über die Zeit, die wir ihnen lauschend schenken!

Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse

Narin ist neun, als in dem ezidischen Dorf am Tigris Planierraupen auftauchen. Ihre Heimat soll einem Dammbauprojekt der türkischen Regierung weichen. Die Grossmutter, fest entschlossen, die Enkelin an einem ungestörten Ort taufen zu lassen, bereitet alles für die Reise ins heilige Lalisch-Tal vor. Kurz vor Aufbruch stösst Narin auf das Grab eines gewissen Arthur – direkt neben dem ihrer Ururgrossmutter Leila. Wer war dieser „König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere“, der Junge aus dem viktorianischen London, von den Ufern der verschmutzten Themse? Und was hat er mit Narins eigener Vertreibung zu tun? Vergangenheit und Gegenwart werden zu einem Roman über sich kreuzende menschliche Schicksale und die macht jahrhundertealter Konflikte verwoben.

Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse, Hanser C. 2024.

Yusuf Yeşilöz: Der Libellenspiegel

Dass Sahar ein Kind mit einem Mann hat, mit dem sie nicht verheiratet ist, ist für ihre Familie unerhört. Auf dem Papier ist sie mit ihrem Cousin Beyto verheiratet. Dass Beyto schwul ist, erfuhr Sahar erst nach der Zwangsheirat und kurz darauf war Beyto dann auch nach London abgehauen.
Nun kämpft Sahar dafür, dass ihre Tochter Amal und deren Vater, ihr Partner Michael, von der Familie anerkannt werden. Als sie für Michael eine Hose in der Änderungsschneiderei Messo abholt, lernt sie die Schneiderin Juana kennen. Verlust und das Tabuthema Homosexualität prägen auch deren Familiengeschichte. In ihren Gesprächen helfen die beiden Frauen einander dabei, sich aus erstarrten Strukturen zu lösen und den Tabus die Macht zu nehmen. 
Nach «Hochzeitsflug» und «Die Wunschplatane» ist «Der Libellenspiegel» der dritte und wohl letzte Teil einer reibungsvollen Familiengeschichte. Dieses Mal steht die Perspektive der Frauen im Zentrum sowie deren Mut und die Kraft von Freund*innenschaften.

Darja Serenko: Mädchen & Institutionen

Was bedeutet es, in einem totalitären Staat zu leben – und als kleines Rächen im Getriebe für einen solchen zu arbeiten? Dieser Frage widmet sich die erste der beiden Erzählungen in Mädchen & Institutionen, dem literarischen Debüt der 1993 geborenen russischen Autorin Darja Serenko, die im Februar 2022 den Feministischen Antikriegswiderstand mitbegründete.

In der Art eines surreal-grotesken Büroromans, auch «magischer Institutionenrealismus» (72) genannt, erzählt Serenko von einem Pulk namen- und gesichtslos bleibender Mädchen, die zuerst in einer Bezirksbücherei und später in einer staatlichen Galerie arbeiten, wobei die Arbeit selbst an beiden Orten relativ austauschbar bleibt, Hauptsache, sie wird fleissig, aber ja nicht zu eigenständig und ganz im Dienst der herrschenden Ordnung erledigt. Dass Anpassung und notfalls auch Denunziation dabei wichtiger sind als Solidarität, zeigt auch der Umgang der Mädchen miteinander: Während weibliche Kollektive in feministischen Kontexten meist in ihrer Solidarität gefeiert werden, ist das weibliche Kollektiv in dieser Erzählung eher beunruhigend. So haben die Mädchen diverse Gruppenchats, in denen jeweils eines der anderen Mädchen ausgeschlossen wird – in der Absicht, dadurch unbescholten über diese ablästern zu können.

Die fehlende Solidarität zwischen den Mädchen ist aber nur ein Symptom der sehr viel grösseren Misere eines ganzen politischen Systems, das auf Indoktrination und Abschreckung beruht. Dessen Omnipräsenz wird in vielen kleinen Anekdoten beschworen – und fast im selben Augenblick auch aufs Korn genommen. So wird die kürzlich installierte Überwachungskamera von den Mädchen wie eine weitere Kollegin behandelt, «in deren Gegenwart man gewisse Dinge besser nicht sagte» (18). Eines Tages wird den Mädchen zudem ein Porträt von Putin geschickt, mit dem Auftrag, Putins Porträt zu fotokopieren und in jeder Büroräumlichkeit mit Publikumsverkehr aufzuhängen. Am selben Tag erhalten alle Mädchen die dringende Aufforderung, ihre Social-Media-Profile darauf hin zu prüfen, dass sie «keine Nacktaufnahmen, keine Aufnahmen in Unterwäsche, keine Aufnahmen mit tiefausgeschnittenen Kleidern und keine, auf denen die Mitarbeiterin Alkohol trinkt» (30) enthalten. 

Allerdings steckt in diesem Text nicht nur unverhohlene Regimekritik voll bissigem Witz, sondern auch immer wieder Kritik an genereller Prekarität im Arbeitsleben. In wenigen Sätzen schafft es Serenko, die Perspektiven vieler junger Menschen in einer spätmodernen Leistungsgesellschaft einzufangen: «[…] sie würden bis zum Schlafengehen genau drei Stunden haben, um sich das Essen für den nächsten Tag zu kochen, die Ausgaben für die zweite Monatshälfte abzurechen, zu einem Date zu gehen, die Schulaufgaben durchzusehen, ein Glas Wein zu trinken, mit der Vermieterin zu streiten, eine Runde mit dem Hund zu drehen, zu masturbieren und mit den Mädchen am Telefon zu quatschen.» (15)

Zugegeben, so sieht unter kapitalistischen Bedingungen der Alltag vieler Menschen aus, nicht nur in Russland. Aber die Mädchen leben zusätzlich zu diesem tristen Alltag auch noch in einer Diktatur, die Krieg gegen ein Nachbarland führt, Homosexualität und ethnische Minderheiten verteufelt und jeden Protest im Keim zu ersticken versucht – was seine Spuren auch in der harmlosesten Abteilung einer jeden staatlichen Institution hinterlässt: «Einmal haben die Mädchen mich verraten. Ich mache ihnen keinen Vorwurf: manchmal laufen die Dinge in Institutionen so, dass man nicht anders kann. Wenn es also sein muss, soll wenigstens nur eine verraten werden.» (21)

Während die Erzählerin zu Beginn des Textes noch in lakonisch-gleichmütigem Ton berichtet, wird sie mit der Zeit stets störrischer und sarkastischer. So wird etwa gefragt, ob «eine richtige Frau Gewerkschaftsmitglied sein [sollte]» (28) oder «wie Mädchen zu Fremdagenten werden» (55). Als die jährliche Pflichtveranstaltung zu Krieg und Sieg näher rückt, versiegt der Funktionsdrang der Mädchen gänzlich: «Wir sind es müde zu kämpfen und zu siegen, zu schweigen und zu schauen, wir würden uns schon lange am liebsten totstellen.» (43)

Auch Genderaspekte, die bisher eher implizit mitschwangen, werden nun immer direkter adressiert und eine visionäre Erzählinstanz – die es in der patriarchalen Ideologie des totalitären Staates gar nicht geben dürfte – prophezeit: «Pronomen verändern sich, die Oberfläche der als allgemein bezeichneten Erfahrung bekommt Risse. Jemand ist zum Beispiel kein Mädchen mehr und war vielleicht nie eins – und das bedeutet, dass alle obenstehenden Texte neu gelesen werden können». (54)

Denn das Land, aus dem hier berichtet wird, ist ein Land voller «schlafender Institutionen» (64), deren Träume mit ihnen selbst durchgehen. Und so sehen sich seine Machthaber gemäss ihrer eigenen Logik geradezu gezwungen, immer groteskere und paranoidere Massnahmen zu ergreifen und wegen einer lesbischen Schriftstellerin bzw. einiger besorgter patriotischer Bürger mal eben ein ganzes Literaturfestival abzusagen.

Doch so ausgeliefert die Mädchen dem autokratischen System gegenüber auch scheinen, ein kollektiver Streik von ihnen würde das System noch immer zum Einstürzen bringen, und es ist das, was der Text am Ende suggeriert: «Wir Mädchen […] kriegen keine Kinder mehr. Wir haben keine Kraft, euch neue Menschen zu gebären […]. Mit uns geht alles zu Ende, wir sind die letzten Mädchen.» (64)

Die anschliessende Vorbemerkung der Autorin gibt preis, wie erschreckend real die fantastisch anmutenden Anekdoten aus der Erzählung im heutigen Russland sind. So wurde Serenko, die diverse Jobs an staatliche Institutionen innehatte, tatsächlich für ein Foto von sich im BH gerügt, aufgrund der Teilnahme an Protesten aus dem Job geekelt und in einem Kulturressort anonym denunziert. Den Mut aber lässt sie sich davon nicht nehmen: «Eines Tages werden viele von uns ihre eigenen Institutionen aufbauen. Ich kann es kaum warten.» (73) Wie nah Serenkos Literatur an ihrer eigenen Erfahrung und ihrem Aktivismus für ein anderes, demokratisches Russland liegt, belegt denn auch der zweite, längere Text, in dem die Autorin eine 15-tägige Inhaftierung schildert – sie hatte auf Instagram Nawalnys Wahlkampflogo gepostet.
Nun lebt die Künstlerin und Aktivistin im georgischen Exil, vielleicht als stolze Agentin des feindlichen Auslands, als welche sie hoffentlich noch viele ähnlich kraftvolle Texte schreibt.

Basel August 2024
Julia Rüegger

Daria Serenko: Mädchen & Institutionen, Suhrkamp 2024.

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Zora del Buono

Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die grosse Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?

Zora del Buono: Seinetwegen, C.H. Beck 2024.

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Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne

Was wäre, wenn man nicht diese eine Entscheidung getroffen hätte, sondern jene andere? Was wäre, hätte man der Erwartung getrotzt?

Saša Stanišić führt uns an Orte, an denen das auf einmal möglich ist: den schwierigeren Weg zu gehen, eine unübliche Wahl zu treffen oder die eine gute Lüge auszusprechen.

So wie die Reinigungskraft, die beschliesst, mit einer Bürste aus Ziegenhaar in der Hand, endlich auch das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. So wie der Justiziar, der bereit ist zu betrügen, um endlich gegen seinen achtjährigen Sohn im Memory zu gewinnen. Und so wie der deutsch-bosnische Schriftsteller, der zum ersten Mal nach Helgoland reist, nur um dort festzustellen, dass er schon einmal auf Helgoland gewesen ist.

Am besten wäre ja, man könnte ein Leben probeweise erfahren, bevor man es wirklich lebt.

Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne, Luchterhand 2024.

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Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein

Der Roman «Im Menschen muss alles herrlich sein» von Sasha Marianna Salzmann erzählt von der Suche nach Gemeinsamkeit, Liebe und Identität in Umbruchzeiten. Dabei treffen die Perspektiven zweier Mütter und ihrer Töchter aufeinander. Am längsten und zunächst chronologisch bleibt die Erzählstimme bei Lena, später wird der Roman – durch eine grossartig zusammengefügte Montage – um drei weitere Perspektiven ergänzt.

Zu den wenigen sorglosen Momenten gehören die Sommer, die Lena Anfang der 1970er Jahre bei ihrer Grossmutter in der Haselnusssiedlung in Sotschi verbringt. Hier hat Lena einen Wohlfühlort, ein Zimmer für sich allein, und eine wichtige Aufgabe: mit Grossmutter Haselnüsse zu verkaufen.

Später ersetzen die Eltern die Ferien bei Grossmutter kurzerhand durch das Pionierlager «Kleiner Adler». Wütend und betrübt über diese Entscheidung begegnet Lena dann Aljona mit den zwiebelgoldgelben Augen. Gemeinsam lernen die beiden, sich dem Kollektiv möglichst zu entziehen, und sie geniessen die kleinen Freiheiten, die man sich als Aussenseiter*in erlauben kann. Zwischen Lena und Aljona entsteht eine innige Zuneigung und Verbundenheit. Nach Jahren wird Lena erfahren, dass sich die Spuren ihrer Freundin in der Zwangspsychiatrie verloren haben.

Feinfühlig und präzise spürt Sasha Marianna Salzmann den Lebensrealitäten der letzten zwei Jahrzehnte sowjetischer Herrschaft in der heutigen Ostukraine nach: das Gefühl der Beengtheit, das beim generationsübergreifenden Zusammenwohnen in einer winzigen Plattenbauwohnung entsteht; die Zermürbung durch das stundenlange Schlangestehen früh am Morgen; die schmerzhafte Erkenntnis, dass die beachtlichen Summen an Bestechungsgeldern überhaupt nichts bewirkt hatten.

«Fleischwolfzeit» nennt Lena das, was in den Jahren der Perestrojka um sie herum geschieht. Immer mehr Menschen leben in sichtbarer Armut. Auf ihrem Arbeitsweg sieht Lena, wie unter der Brücke täglich mehr Pappkartonsiedlungen entstehen. Gleichzeitig stellen andere ihren Reichtum extravagant zur Schau. Die Korruption, die Lena einst so wütend und ohnmächtig gemacht hat, holt sie wieder ein. Nun ist sie diejenige, der unauffällig Fellhandschuhe, Bernsteingemälde oder Umschläge mit Geldscheinen zugesteckt werden. Sie kann sich nicht entziehen, zu sehr hat die Gesellschaft Bestechung verinnerlicht.

«Im Menschen muss alles herrlich sein» – das sind in Fiktion verpackte Alltagserfahrungen, wobei die Autor*in die Mikroebene von Geschichte und Gegenwart auslotet. Grundlage des Romans bilden Erfahrungsberichte von Frauen, die im Gebiet der heutigen Ostukraine aufgewachsen und später als sogenannte «Kontingentflüchtlinge» nach Deutschland gekommen sind. Sasha Marianna Salzmann hat sie interviewt, ihnen zugehört, und mit ihren Stimmen entstanden die sorgfältig herausgearbeiteten Romanfiguren.

Nicht zuletzt ruft der Roman an einigen Stellen in Erinnerung, dass die Ostukraine sich nun seit zehn Jahren im Krieg befindet. Die Städte und Orte der Kindheit von Lena und Tatjana haben massivst gelitten. Aktuell befinden sich Gorlowka und Mariupol unter russischem Besatzungsregime.

Die Gewalt, die sich in die einzelnen Biographien des Romans eingeschrieben hat, stammt aus einer anderen Zeit. Es sind individuelle und kollektive Traumata, die an einigen Stellen durchdrücken, beispielsweise die Erinnerung an den Holodomor, den lange totgeschwiegenen Hungerkrieg Stalins. Die gesamten Ernten, alles Korn und Vieh wurden gewaltsam nach Moskau abtransportiert, und die Menschen vor Ort verhungerten. Anderswo kommen die Verachtung und Gewalt zur Sprache, der schwangere und gebärende Frauen in sowjetischen Spitälern ausgesetzt waren. «Ein bisschen so wie bei allen» benennt eine Frau ihre eigene Erfahrung, als sie ihrer schwangeren Tochter zum ersten Mal davon erzählt.

Eine besondere Stärke des Romans ist die empathische und treffende Darstellung von Mütter-Töchter-Beziehungen. Sasha Marianna Salzmann beschreibt, wie Mütter ihre Töchter lieben und was sie alles für sie tun würden. Auch die Töchter möchten von ihren Müttern gesehen und geliebt werden. Doch sie schauen aneinander vorbei und finden nicht die Worte, um Gemeinsamkeit wiederherzustellen. Diese Sprachlosigkeit zwischen den Generationen ist dort besonders stark, wo die Töchter eine komplett andere Sozialisierung als die Mütter erfahren haben.

Mit Lenas Tochter Edi betritt eine zaghafte Draufgängerin und queere Berlinerin die Bühne. Sie versucht, ihr Leben in geordnete Bahnen zu bringen und Journalistin zu werden. Sie liest gerade Oksana Sabuschkos Buch «Feldstudien über ukrainischen Sex» und macht sich Gedanken, wie sie sich der Geburtstagsfeier ihrer Mutter – eine glanzvolle Fete in der jüdischen Community von Jena – möglichst entziehen kann. Schliesslich werden dann auf dieser Party die Wege der vier Frauen zusammenführen, deren Biographien Sasha Marianna Salzmann mit sprachlicher Brillanz und erzählerischer Genauigkeit verwebt. Die Bilder sind atmosphärisch spürbar und die einzelnen Szenen und Dialoge grossartig aufgebaut und leicht nachzuempfinden. Es ist ein bisschen wie mit der Giraffe des georgischen Künstlers Niko Pirosmani: Auch wenn wir etwas nicht gesehen haben, können wir uns ein Bild davon machen.

Eine Rezension von Luzia Böni

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Vincent O. Carter: Amerigo Jones

Amerigo Jones liebt seine Eltern Rutherford und Viola, die selbst noch Teenager sind, als er zur Welt kommt, und er ist ein grosser Träumer. Doch viele seiner Träume werden ein Leben lang unerfüllt bleiben, nicht wegen seiner Person, sondern wegen seiner Hautfarbe.

«Amerigo Jones» ist die Geschichte einer Kindheit und Jugend im Kansas City der 1920er- und 1930er-Jahre, das einerseits als Zentrum des Jazz von einer lebendigen Musikszene, andererseits von Rassentrennung geprägt war. Im Mittelpunkt stehen Amerigos Schilderungen der urbanen Welt, in der er selbst seinen Weg finden muss.

Vincent O. Carter hat einen unvergesslichen und musikalischen Roman geschrieben über die Geschichte Schwarzer Menschen in Amerika, über den Kampf für Gleichberechtigung und über ein starkes Gefühl von Familie und Gemeinschaft.

Vincent O. Carter: Amerigo Jones, Limmat 2024.

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Benjamin von Wyl: GROSSWERDEN UND EINKNICKEN

Jona träumt davon, ins Innerste der Welt zu tauchen? Wenn er in den Sommerferien aufs Meer blickt. Wenn er am freien Schulnachmittag zwischen Schlingpflanzen im See taucht. Wenn er bei seiner grossen Schwester Annina Dokumentarfilme über die Tiefsee schaut. Im Mittelpunkt der Erde drehen sich leuchtende Tiere im Strudel des Wassers. Jona saugt alles auf, was er über diese magische Tiefe in Erfahrung bringt. Er will dorthin reisen, seit er weiss, dass fast alles Wasser unterirdisch verbunden ist.    
Dieses Ziel gibt ihm Halt. Vieles ist ihm ungeheuer in seinem Leben: die Scheidung der Eltern, der neue Partner der Mutter, sogar sein Freund Petrit. Die anderen Kinder an der Schule sind für Jona fern wie andere Planeten. 

Doch als Jona älter wird und lernt, wie die Menschen mit der Welt umgehen, trifft er eine Entscheidung. Denn der leuchtende Wirbel ist in Gefahr.

Benjamin von Wyl: Grosswerden und Einknicken, Verlag die Brotsuppe 2024.

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«Technology, my Love»

Vom 29. Mai bis 2. Juni findet in Basel das BILDRAUSCH Filmfest statt. Mit seinem vielsagenden Titel hat es auch uns hinter den Bücherstapeln hervorgelockt und neugierig gemacht.

Immerhin scheint Technologie heutzutage fast alle überallhin und jederzeit zu begleiten. Computer, Mobiltelefone und Apps sind unverzichtbar und selbstverständlich. Die Algorithmen kennen uns und lenken unsere Suche nach Büchern, Wissen, Zuversicht und Zugehörigkeit.

Machen uns die Maschinen zu besseren Menschen? Sind sie uns vielleicht sogar überlegen? Und was machen die endlosen Datenströme mit unseren Beziehungen?

So wie das diesjährige BILDRAUSCH diesen Überlegungen im Film nachgeht, so suchen wir zuweilen zwischen zwei Buchdeckeln nach Antworten. Oft ist das hilfreich, doch es bleibt verflixt verwirrend und manchmal auch unheimlich. Wie geht es Ihnen damit? Das Labyrinth nimmt sich vor, sich für einige Tage vom Bildrausch erfassen zu lassen. Um nicht mit leeren Händen vor der Leinwand zu stranden, haben wir eine breite Auswahl an Büchern zusammengestellt, die wir mitnehmen. Kommen Sie gerne vorbei, wir freuen uns darauf.

Kurz vor Festivalsbeginn teilen wir hier die Zeiten, zu denen unser Büchertisch am Bildrausch Filmfest geöffnet hat.