Svenja Flasspöhler: Streiten

„Warum also streite ich? Davon und von der Frage, was Streiten heisst, handelt dieses Buch.“ Svenja Flasspöhler gilt als streitlustig, als jemand, der gerne angreifbare Positionen vertritt. Doch in ihr wohnt eine ganz andere Erfahrung: die eines Trennungskinds, das mit der Angst vor Streit und Eskalation aufgewachsen ist. In ihrem persönlich-philosophischen Essay zeigt sie, dass über das Streiten nachzudenken vor allem heisst, sich von Illusionen zu befreien. Ein Streit ist kein herrschaftsfreier Diskurs, sondern es geht um Macht: Der Abgrund der Vernichtung ist immer als Möglichkeit präsent. Gleichzeitig ist es gerade der Streit in seiner Unversöhnlichkeit, der uns vorantreibt und Veränderung bewirkt.

Svenja Flasspöhler: Streiten. Hanser Berlin 2024.

Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse

Narin ist neun, als in dem ezidischen Dorf am Tigris Planierraupen auftauchen. Ihre Heimat soll einem Dammbauprojekt der türkischen Regierung weichen. Die Grossmutter, fest entschlossen, die Enkelin an einem ungestörten Ort taufen zu lassen, bereitet alles für die Reise ins heilige Lalisch-Tal vor. Kurz vor Aufbruch stösst Narin auf das Grab eines gewissen Arthur – direkt neben dem ihrer Ururgrossmutter Leila. Wer war dieser „König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere“, der Junge aus dem viktorianischen London, von den Ufern der verschmutzten Themse? Und was hat er mit Narins eigener Vertreibung zu tun? Vergangenheit und Gegenwart werden zu einem Roman über sich kreuzende menschliche Schicksale und die macht jahrhundertealter Konflikte verwoben.

Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse, Hanser C. 2024.

Yusuf Yeşilöz: Der Libellenspiegel

Dass Sahar ein Kind mit einem Mann hat, mit dem sie nicht verheiratet ist, ist für ihre Familie unerhört. Auf dem Papier ist sie mit ihrem Cousin Beyto verheiratet. Dass Beyto schwul ist, erfuhr Sahar erst nach der Zwangsheirat und kurz darauf war Beyto dann auch nach London abgehauen.
Nun kämpft Sahar dafür, dass ihre Tochter Amal und deren Vater, ihr Partner Michael, von der Familie anerkannt werden. Als sie für Michael eine Hose in der Änderungsschneiderei Messo abholt, lernt sie die Schneiderin Juana kennen. Verlust und das Tabuthema Homosexualität prägen auch deren Familiengeschichte. In ihren Gesprächen helfen die beiden Frauen einander dabei, sich aus erstarrten Strukturen zu lösen und den Tabus die Macht zu nehmen. 
Nach «Hochzeitsflug» und «Die Wunschplatane» ist «Der Libellenspiegel» der dritte und wohl letzte Teil einer reibungsvollen Familiengeschichte. Dieses Mal steht die Perspektive der Frauen im Zentrum sowie deren Mut und die Kraft von Freund*innenschaften.

Mariann Bühler: Verschiebung im Gestein

Lange hat draussen das Schild »Bis auf Weiteres geschlossen« gehangen, bis Elisabeth die Entscheidung trifft, die Bäckerei weiterzuführen. Sie allein. Jeden Morgen feuert sie an, rührt den Teig, schiebt die Brote in den Ofen – und überrascht das ganze Dorf und sich selbst dazu. In derselben Gegend Alois‘ Hof. Ein Hof, seit Generationen in Familienbesitz, Alois wurde nicht gefragt, ob er ihn übernehmen wollte. Er lebt mit dem Hund, überhört die Erwartung, eine Familie zu gründen – aber etwas schnürt sich zu. Unterdessen kehrt eine junge Frau ins Dorf zurück; die drei Stufen zur Bäckerei laufen sich wie von selbst. Bei den Grosseltern holt sie den Schlüssel zum Sommerhaus, es soll verkauft werden. Sie sieht alles wieder, den Bergkamm, das Tal, den Balkon mit der Zugbrücke.

Der Roman verfolgt drei Figuren, die nichts voneinander wissen und doch verbunden sind – durch die Gegend, das Dorf und die drängende Frage, wie es eigentlich weitergehen soll. Hartnäckig haben sich in ihnen Spuren von Vergangenem festgesetzt, aber dann gerät doch etwas in Bewegung.

Mariann Bühler: Verschiebung von Gestein. Atlantis 2024.

Zora del Buono

Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die grosse Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?

Zora del Buono: Seinetwegen, C.H. Beck 2024.

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Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne

Was wäre, wenn man nicht diese eine Entscheidung getroffen hätte, sondern jene andere? Was wäre, hätte man der Erwartung getrotzt?

Saša Stanišić führt uns an Orte, an denen das auf einmal möglich ist: den schwierigeren Weg zu gehen, eine unübliche Wahl zu treffen oder die eine gute Lüge auszusprechen.

So wie die Reinigungskraft, die beschliesst, mit einer Bürste aus Ziegenhaar in der Hand, endlich auch das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. So wie der Justiziar, der bereit ist zu betrügen, um endlich gegen seinen achtjährigen Sohn im Memory zu gewinnen. Und so wie der deutsch-bosnische Schriftsteller, der zum ersten Mal nach Helgoland reist, nur um dort festzustellen, dass er schon einmal auf Helgoland gewesen ist.

Am besten wäre ja, man könnte ein Leben probeweise erfahren, bevor man es wirklich lebt.

Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne, Luchterhand 2024.

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Moritz Heger: Zeit der Zikaden

Für Alex beginnt der Ruhestand. Doch statt Ruhe plant sie den Aufbruch ins Ungewisse: Mit einem Tinyhouse auf Rädern will sie alles Gewohnte hinter sich lassen. Johann, Mitte fünfzig, sucht den Ausbruch aus einem fragwürdig gewordenen Beruf und einer erkalteten Ehe. Ein ererbtes Steinhaus in Ligurien scheint ein guter Ort dafür zu sein. Alex folgt Johanns Einladung: Zwei nicht mehr junge und sehr verschiedene Menschen wollen an diesem Sehnsuchtsort die nächste Lebensetappe angehen.

Moritz Heger: Zeit der Zikaden. Diogenes 2024.

Vincent O. Carter: Amerigo Jones

Amerigo Jones liebt seine Eltern Rutherford und Viola, die selbst noch Teenager sind, als er zur Welt kommt, und er ist ein grosser Träumer. Doch viele seiner Träume werden ein Leben lang unerfüllt bleiben, nicht wegen seiner Person, sondern wegen seiner Hautfarbe.

«Amerigo Jones» ist die Geschichte einer Kindheit und Jugend im Kansas City der 1920er- und 1930er-Jahre, das einerseits als Zentrum des Jazz von einer lebendigen Musikszene, andererseits von Rassentrennung geprägt war. Im Mittelpunkt stehen Amerigos Schilderungen der urbanen Welt, in der er selbst seinen Weg finden muss.

Vincent O. Carter hat einen unvergesslichen und musikalischen Roman geschrieben über die Geschichte Schwarzer Menschen in Amerika, über den Kampf für Gleichberechtigung und über ein starkes Gefühl von Familie und Gemeinschaft.

Vincent O. Carter: Amerigo Jones, Limmat 2024.

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Benjamin von Wyl: GROSSWERDEN UND EINKNICKEN

Jona träumt davon, ins Innerste der Welt zu tauchen? Wenn er in den Sommerferien aufs Meer blickt. Wenn er am freien Schulnachmittag zwischen Schlingpflanzen im See taucht. Wenn er bei seiner grossen Schwester Annina Dokumentarfilme über die Tiefsee schaut. Im Mittelpunkt der Erde drehen sich leuchtende Tiere im Strudel des Wassers. Jona saugt alles auf, was er über diese magische Tiefe in Erfahrung bringt. Er will dorthin reisen, seit er weiss, dass fast alles Wasser unterirdisch verbunden ist.    
Dieses Ziel gibt ihm Halt. Vieles ist ihm ungeheuer in seinem Leben: die Scheidung der Eltern, der neue Partner der Mutter, sogar sein Freund Petrit. Die anderen Kinder an der Schule sind für Jona fern wie andere Planeten. 

Doch als Jona älter wird und lernt, wie die Menschen mit der Welt umgehen, trifft er eine Entscheidung. Denn der leuchtende Wirbel ist in Gefahr.

Benjamin von Wyl: Grosswerden und Einknicken, Verlag die Brotsuppe 2024.

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Michelle Steinbeck: Favorita

»Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.« Mit diesen Worten beginnt Filas Odyssee zwischen Lebenden und Toten: Von der Schweiz, in der sie aufgewachsen ist, nach Italien, das ihre Grossmutter als junge Frau verlassen hat und wohin ihre Mutter verschwunden ist. Fila zeichnet die Wege der beiden Frauen nach, begleitet von den Gestalten, denen sie unterwegs begegnet: revolutionäre Amazonen, faschistische Deserteure und der Geist einer jungen Bäuerin mit durchschnittener Kehle. Der Roadtrip auf den Spuren ihrer geheimnisvollen Mutter führt sie zum mutmasslichen Mörder – und mitten ins Herz des Zirkels, der das Land kontrolliert. Fila sitzt in der Falle. Aber sie ist nicht allein.

Michelle Steineck: Favorita. park x ullstein 2024.

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