Hiroko Oyamada: Das Loch

Ein junges Paar entzieht sich der lauten Grossstadt-Hektik und entscheidet sich für einen Neustart auf dem Land. Es ist ausgerechnet das Heimatdorf ihres Mannes, das Haus neben den Schwiegereltern, in dem Asa sich an den Alltag einer Hausfrau gewöhnt, während ihr Mann fast rund um die Uhr arbeitet. Die Temperaturen sind heiss, die Zikaden nicht zu überhören und der einzige Fluss in der Gegend wirkt vor lauter Müll «wie aus Gelatine gemacht». 

Eines Tages macht sich Asa bei flirrender Sommerhitze auf den Weg in den Nachbarort und fällt unterwegs in ein tiefes Loch, das scheinbar nur für sie gegraben wurde. Zwar kann sie sich mit Hilfe befreien, doch nun zieht es sie immer mehr in eine unheimliche, eigenmächtige Welt. Flora und Fauna nehmen überbordend viel Raum ein, um sie herum wächst, blüht, krabbelt und beisst es. Seltsam fremdartige Wesen begegnen ihr. Kann Asa der eigenen Wahrnehmung noch trauen? 

Das japanische Original erschien vor 10 Jahren und erhielt den wichtigsten Literaturpreis Japans. Nun liegt das Buch bei Rowohlt auch auf Deutsch vor, übersetzt von Nora Bierich. 

Hiroko Oyamada: Das Loch, Rowohlt 2024.

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Mithu Sanyal: Antichristie

London 2022, die Königin ist tot! An den Trauernden vorbei rennt Durga: internationale Drehbuchautorin, Tochter eines Inders und einer Deutschen, und voller Appetit auf Rebellion und Halluzinationen. Durga soll an einer Verfilmung der überbritischen Agatha-Christie-Krimis mitarbeiten. Doch auf einmal ist es 1906, und sie trifft indische Revolutionäre, die keineswegs gewaltfrei wie Gandhi kämpfen. Und dann explodiert die erste Bombe. Was wäre richtiger Widerstand in einer falschen Welt?

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Fabian Saul: Die Trauer der Tangente

Wovon spricht der Grund, auf dem wir gehen? In Fabian Sauls erstem, zutiefst menschlichem Roman geraten Gewissheiten ins Wanken: Ein Freund stirbt, eine Liebe zerbricht. In einer Welt, in der die Steine von der Vergangenheit sprechen, begegnet der Protagonist den eigenen Gefühlen in der Topografie. Alles weiss von der Vergänglichkeit – und weiss alles über ihn.

In filmischen Szenen stehen geteilte Zigaretten wie Bilder neben dem Sonnenlicht an einem Morgen in Nida, stehen die klaren Kanten von Jean Genets Grabstein neben einem Abbruchhaus in der Linienstrasse, steht Nina Simones letztes Konzert neben den Liedern aus der Wand.

Fabian Saul: Die Trauer der Tangente. Matthes & Seitz 2024.

Francesca Melandri: Kalte Füsse

Was bedeutet Krieg? Und was, wenn man auf der falschen Seite kämpft? Francesca Melandri erzählt die Geschichte ihres eigenen Vaters – und bringt die Stille einer ganzen Generation zum Sprechen.

Ein Militärlazarett in Venedig. Desinfektionsmittel, Fieberschweiss, der unerträgliche Gestank von Wundbrand. Der Sohn liegt im hintersten Bett, er schläft. Die Mutter hebt die Decke am unteren Ende an. Zwei Beine, zwei Füsse. Eins, zwei, drei, sie zählt die Zehen – bis zum zehnten. Vorsichtig legt sie die Decke zurück: Endlich kann sie in Ohnmacht fallen.

Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Der »Rückzug aus Russland« hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt – auch in der Familie von Francesca Melandri. Ihr Vater hat ihn überlebt.

Doch erst als Anfang 2022 Bilder und Orte des Kriegs in der Ukraine omnipräsent sind, wird ihr klar: Es ist vor allem die Ukraine, in der der Vater gewesen ist. Was hat er dort wirklich erlebt, warum war er überhaupt dort?

Francesca Melandri: Kalte Füsse. Wagenbach 2024.

Svenja Flasspöhler: Streiten

„Warum also streite ich? Davon und von der Frage, was Streiten heisst, handelt dieses Buch.“ Svenja Flasspöhler gilt als streitlustig, als jemand, der gerne angreifbare Positionen vertritt. Doch in ihr wohnt eine ganz andere Erfahrung: die eines Trennungskinds, das mit der Angst vor Streit und Eskalation aufgewachsen ist. In ihrem persönlich-philosophischen Essay zeigt sie, dass über das Streiten nachzudenken vor allem heisst, sich von Illusionen zu befreien. Ein Streit ist kein herrschaftsfreier Diskurs, sondern es geht um Macht: Der Abgrund der Vernichtung ist immer als Möglichkeit präsent. Gleichzeitig ist es gerade der Streit in seiner Unversöhnlichkeit, der uns vorantreibt und Veränderung bewirkt.

Svenja Flasspöhler: Streiten. Hanser Berlin 2024.

Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse

Narin ist neun, als in dem ezidischen Dorf am Tigris Planierraupen auftauchen. Ihre Heimat soll einem Dammbauprojekt der türkischen Regierung weichen. Die Grossmutter, fest entschlossen, die Enkelin an einem ungestörten Ort taufen zu lassen, bereitet alles für die Reise ins heilige Lalisch-Tal vor. Kurz vor Aufbruch stösst Narin auf das Grab eines gewissen Arthur – direkt neben dem ihrer Ururgrossmutter Leila. Wer war dieser „König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere“, der Junge aus dem viktorianischen London, von den Ufern der verschmutzten Themse? Und was hat er mit Narins eigener Vertreibung zu tun? Vergangenheit und Gegenwart werden zu einem Roman über sich kreuzende menschliche Schicksale und die macht jahrhundertealter Konflikte verwoben.

Elif Shafak: Am Himmel die Flüsse, Hanser C. 2024.

Yusuf Yeşilöz: Der Libellenspiegel

Dass Sahar ein Kind mit einem Mann hat, mit dem sie nicht verheiratet ist, ist für ihre Familie unerhört. Auf dem Papier ist sie mit ihrem Cousin Beyto verheiratet. Dass Beyto schwul ist, erfuhr Sahar erst nach der Zwangsheirat und kurz darauf war Beyto dann auch nach London abgehauen.
Nun kämpft Sahar dafür, dass ihre Tochter Amal und deren Vater, ihr Partner Michael, von der Familie anerkannt werden. Als sie für Michael eine Hose in der Änderungsschneiderei Messo abholt, lernt sie die Schneiderin Juana kennen. Verlust und das Tabuthema Homosexualität prägen auch deren Familiengeschichte. In ihren Gesprächen helfen die beiden Frauen einander dabei, sich aus erstarrten Strukturen zu lösen und den Tabus die Macht zu nehmen. 
Nach «Hochzeitsflug» und «Die Wunschplatane» ist «Der Libellenspiegel» der dritte und wohl letzte Teil einer reibungsvollen Familiengeschichte. Dieses Mal steht die Perspektive der Frauen im Zentrum sowie deren Mut und die Kraft von Freund*innenschaften.

Mariann Bühler: Verschiebung im Gestein

Lange hat draussen das Schild »Bis auf Weiteres geschlossen« gehangen, bis Elisabeth die Entscheidung trifft, die Bäckerei weiterzuführen. Sie allein. Jeden Morgen feuert sie an, rührt den Teig, schiebt die Brote in den Ofen – und überrascht das ganze Dorf und sich selbst dazu. In derselben Gegend Alois‘ Hof. Ein Hof, seit Generationen in Familienbesitz, Alois wurde nicht gefragt, ob er ihn übernehmen wollte. Er lebt mit dem Hund, überhört die Erwartung, eine Familie zu gründen – aber etwas schnürt sich zu. Unterdessen kehrt eine junge Frau ins Dorf zurück; die drei Stufen zur Bäckerei laufen sich wie von selbst. Bei den Grosseltern holt sie den Schlüssel zum Sommerhaus, es soll verkauft werden. Sie sieht alles wieder, den Bergkamm, das Tal, den Balkon mit der Zugbrücke.

Der Roman verfolgt drei Figuren, die nichts voneinander wissen und doch verbunden sind – durch die Gegend, das Dorf und die drängende Frage, wie es eigentlich weitergehen soll. Hartnäckig haben sich in ihnen Spuren von Vergangenem festgesetzt, aber dann gerät doch etwas in Bewegung.

Mariann Bühler: Verschiebung von Gestein. Atlantis 2024.

Zora del Buono

Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die grosse Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?

Zora del Buono: Seinetwegen, C.H. Beck 2024.

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Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne

Was wäre, wenn man nicht diese eine Entscheidung getroffen hätte, sondern jene andere? Was wäre, hätte man der Erwartung getrotzt?

Saša Stanišić führt uns an Orte, an denen das auf einmal möglich ist: den schwierigeren Weg zu gehen, eine unübliche Wahl zu treffen oder die eine gute Lüge auszusprechen.

So wie die Reinigungskraft, die beschliesst, mit einer Bürste aus Ziegenhaar in der Hand, endlich auch das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. So wie der Justiziar, der bereit ist zu betrügen, um endlich gegen seinen achtjährigen Sohn im Memory zu gewinnen. Und so wie der deutsch-bosnische Schriftsteller, der zum ersten Mal nach Helgoland reist, nur um dort festzustellen, dass er schon einmal auf Helgoland gewesen ist.

Am besten wäre ja, man könnte ein Leben probeweise erfahren, bevor man es wirklich lebt.

Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Giesskanne mit dem Ausguss nach vorne, Luchterhand 2024.

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