Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus

Eine Rezension von Julia Rüegger

Jeder Text ist präzise geschliffen wie eine Murmel, in deren Innenleben sich verschiedene Orte und Zeiten durchdringen; von der Kindheit der Grossmutter, die überleben musste, „während die anderen rundherum qualvoll starben“ über den tristen Alltag in der Sowjetzeit bis zur Majdan-Revolution 2013/14 und zur Gegenwart des Krieges, die dem Band eine traurige Aktualität verleiht. Zusammen spannen die Texte ein Netz vom früheren Ostgalizien über westukrainische Provinzen, nach Jalta ans Schwarze Meer und in die sibirischen Straflager, bevölkert von Vorfahrinnen und Zeitgenossen, unter denen sich so unterschiedliche Figuren wie der Zionist und Esperanto-Erfinder Lejzer Zamenhof und ein namenloser Ukrainer antreffen, der „für den Krieg zu alt [ist], für Demenz zu jung.“

Die Autorin dieser geschichtsträchtigen und oft tragischen Murmeln, Tanja Maljartschuk, wurde 1983 in Iwano-Frankiwsk in der Ukraine geboren; in derselben Stadt wie die Schriftsteller-Legende Juri Andruchowytsch. 2011 emigrierte sie nach Wien und veröffentlichte bisher die zwei vielgepriesenen Romane Blauwal der Erinnerung und Biografie eines zufälligen Wunders. Das 2022 erschienene Buch Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus versammelt nun 21 Texte, die die Autorin zwischen 2014 und 2022 geschrieben hat; in der Zeit zwischen der Annexion der Krim, dem (Euro-)Majdan-Aufstand und dem Beginn von Putins Angriffskrieg im Februar letzten Jahres. Ein Jahrzehnt, dessen Ereignishaftigkeit und Tragik für eine ganze Epoche ausreicht.

Wie in ihren Romanen eröffnen Maljartschuks Essays aus diesem zerrissenen Jahrzehnt eine Kartografie der ukrainischen Seele, ihrer Sehnsüchte und ihrer Traumata. Voller eindringlicher Bilder, persönlicher Anekdoten und scharfsinniger Reflexionen erzählt sie davon, was es bedeutet, wenn die Psyche eines Landes durch die historischen Umstände zu einem Borderline-Fall wird, und was es heisst, verstehen und erinnern zu wollen, was lange Zeit vor der eigenen Geburt geschehen und unter unzähligen Schichten von Terror und Verdrängung begraben ist. So lesen wir schon auf der ersten Seite: „Mein Urgrossvater hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, aber ich weiss nicht, gegen wen. Zwanzig Jahre später hat sein Sohn im Zweiten Weltkrieg gekämpft, aber ich weiss nicht, gegen wen.“ Ähnlich wie der ukrainisch-deutschen Autor*in Sasha Marianna Salzmann geht es nämlich auch Maljartschuk darum, sich von der Scham angesichts der eigenen Herkunftsgeschichte nicht ersticken zu lassen; jener Scham, die die Täter und ihre Nachfahr*innen ebenso befällt und lähmt wie die Opfer. So lautet eine der wiederkehrenden Fragen im Buch:  „Wie kann man der Generation, die in der Sowjetunion geboren und sozialisiert wurde, helfen, die eigenen Geschichten ohne Scham zu erzählen?“ – auf die sogleich die skeptische Nachfrage folgt, ob „wir diese Geschichten überhaupt hören [wollen]“.


Es gibt Texte, zum Beispiel „Erinnerungen an das Sinnliche“, die sich wie ein Fotoalbum mitsamt der Negative lesen. Auf wenigen Seiten lassen sie längst verstorbene Charaktere und vergangene Landschaften wiederauferstehen, bergen Knochen zerstörter jüdischer Grabstätten oder die buchstäblich hinter Fassaden verborgenen Fresken eines mittelalterlichen katholischen Klosters in Kyjiw, das von der russischen Kaiserin Katharina der Grossen aufgelöst und in ein Irrenhaus umfunktioniert wurde. Andere Texte bringen die Schrecken des Stalinismus ins Gedächtnis zurück und illustrieren Maljartschuks Einsicht, dass der Kommunismus entgegen aller Hoffnungen und Beteuerungen kaum ehrenhafte Heldengestalten hervorbrachte, sondern vor allem Menschen, die dazu gezwungen wurden, gewissenlos zu sein. So etwa, wenn sie im Text „Schlummernde Schande des Kommunismus“ an Hryhir Tjutjunnyk erinnert, einen Autor „rührender Erzählungen über Bauern und Kinder“, der zwar nicht zu den gerade mal dreissig Dissidenten des damaligen ukrainischen Literaturbetriebs gehörte, aber so bitterarm war, dass er seine Texte auf dem Fenstersims schreiben musste, und der sich eines Abends im Jahr 1980 in seiner Toilette erhängte. Er ist nur einer von vielen ukrainischen Literat*innen, an die sich heute kaum noch jemand erinnert.

Auch in der Gegenwart spürt Maljartschuk (west- und osteuropäische) Orte und Szenen auf, an denen die Wunden des 20. Jahrhunderts und seiner totalitären Systeme wie Heimsuchungen brennen. So gesteht die Autorin, die beim Zusammenbruch der Sowjetunion gerade mal neun Jahre alt war, dass sie zusammenzuckt, wenn sie in der Frankfurter Allee in Berlin die Spuren des Kommunismus auch ausserhalb der Ukraine entdeckt. Sie beschreibt den schmerzhaften Wunsch vieler Ukrainer*innen nach Zugehörigkeit zu Europa und ihre Verbitterung, als 2004 gleich zehn Länder, die sich grösstenteils im ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion befunden hatten – unter anderem Polen und Ungarn –, in die Europäische Union aufgenommen wurden, die Ukraine aber nicht. Und sie fragt, ob die Traumata, die für den heutigen Zustand der Ukraine verantwortlich sind, nicht eigentlich allgemeineuropäische Traumata sind und die Ukraine das Unterbewusstsein Westeuropas bildet.

Fast zwangsläufig kulminieren die immer wieder düster aufblitzenden Vorahnungen im kurzen Text „Anno Belli“, dem Text über den Kriegsausbruch im Februar vor einem Jahr, mit dem über Nacht eine neue Zeitrechnung begann: „Alles, was davor geschah, wird ausschliesslich als Vorkriegszeit bezeichnet, weit entfernt, in einem anderen Leben, in einer anderen Welt.“ Die Zäsur, die die Nacht der Invasion markiert, ist umso bitterer und bedrohlicher, da sie für die Autorin mit der Ahnung einhergeht, „dass das gerade Geschehene meine und die Zukunft meiner Landsleute für sehr lange bestimmen wird, dass wir, wenn wir es überleben, uns Jahrzehnte damit werden beschäftigen müssen.“

Dabei ist die Gegenwart des Krieges schwer genug auszuhalten, selbst aus der sicheren Distanz von Wien: Maljartschuk hält die Internetseite, auf der man alle Luftalarmausbrüche in Echtzeit verfolgen kann, nun konstant offen, und mitten in der Nacht schreibt ihr ihre Kindheitsfreundin Natalka SMS mit der Aufforderung, sofort und intensiv für ihren Ehemann an der Front zu beten. Derweil reist ihre Nichte Sofia mit dem Zug von Wien in die Ukraine, um ihren Vater zu besuchen, der es nicht übers Herz bringt, das Haus, an dem er sein Leben lang gebaut hat, zu verlassen, um sich selbst in Sicherheit zu bringen.

Kein Wunder, fragt sich Maljartschuk, wie sie in dieser Zeit noch Schriftstellerin sein kann, wie sie es anstellen könnte, schreibend „in dieser Realität bleiben zu dürfen“, in der ihre fast siebzigjährige Mutter nach einem Schutzbunker googelt, in der sie durch Österreich, Deutschland und die Schweiz fährt und an etwa fünfzig „Kriegsauftritte[n]“ teilnimmt, bis sie völlig ausgebrannt ist. Und in der sie dennoch weiterschreibt.

Die vielleicht beeindruckendste Leistung dieser Essays ist daher auch, dass sie beides zugleich schaffen: uns teilhaben zu lassen an der ukrainischen (und damit auch der europäischen) Geschichte, die abwechslungsweise stillsteht, rast, sich über Nacht verkehrt – und uns dennoch immer wieder ein kurzes Aufatmen zu verschaffen: wenn wir die Usambaraveilchen der Mutter der Autorin vor uns sehen, während im Baumarkt Flugblätter mit der Anleitung zum Packen eines Fluchtkoffers verteilt werden, oder wenn die Autorin zufällig herausfindet, dass viele der fremd klingenden Worte in der Sprache ihrer Eltern in Wirklichkeit jiddische Worte sind, die wie Schmuggelware einen Weg durch die Zeit gefunden haben, die so viele ihrer Sprecher*innen ausgelöscht hat.

Und so liegt, bei aller Furcht vor den vergangenen Zeiten, ihren Abgründen und Katastrophen, auch ein Schimmer Hoffnung darin, zurückzuschauen, zumindest für einen Moment wie den, als Maljartschuk im Text „Beten und Schimpfen“ an die Aufbruchszeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erinnert: Damals, als die kleine westukrainische Provinzstadt Iwano-Frankiwsk zu einem Mekka der ukrainischen Avantgarde-Literatur wurde, zu jenem Karneval, „der auf den Ruinen der Sowjetunion begonnen hatte und über die frisch unabhängigen und durchaus tristen Neunzigerjahre hinweg dauerte“, und deren Protagonist*innen, einschliesslich Andruchowytsch, sie Jahre später bei der Revolution der Würde auf dem Majdan wiedertrifft.

Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus. Kiepenheuer & Witsch 2022.

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Dieter Henrich: Furcht ist nicht in der Liebe

Die menschliche Liebe gründet im UnbedingtenZu Dieter Henrichs Furcht ist nicht in der Liebe

von Benedikt Koller

Seine letzte Schrift widmete Dieter Henrich der Liebe. In seiner philosophischen Auslegung eines Satzes des Evangelisten Johannes zeigt er, wie sich durch eine Analyse des Selbstbewusstseins ein rein rationales Verstehen menschlicher Liebe gewinnen lässt. Doch diese Liebe bleibt ein Geschenk, begründen lässt sie sich nicht – weil sie ihren Grund wie das Selbstbewusstsein im Unbedingten hat.

»Furcht ist nicht in der Liebe.« Diesen Satz aus dem ersten Brief des Johannes ließ der damals dreißigjährige Dieter Henrich 1957 in den Grabstein seiner verstorbenen Mutter meißeln. Seither hat die Sentenz den deutschen Philosophen nicht mehr losgelassen. Nun, 65 Jahre später und kurz vor seinem eigenen Tod am 17. Dezember 2022, ist eine Schrift erschienen, in der Henrich den Satz philosophisch auslegt. Es ist das letzte Buch dieses wirkmächtigen Denkers geworden.

In dem 70-seitigen Bändchen beleuchtet der christlich erzogene und theologisch versierte Henrich nicht bloß die Bedeutung des Satzes im Kontext von Johannes’ Gotteslehre. Vielmehr versucht er mittels eines philosophischen Verfahrens für den Satz eine Bedeutung zu erschließen, »die in allgemeiner menschlicher Erfahrung bewährbar ist«. Denn der Satz weise »auf eine Erfahrung hin, die in jeder Liebe […] gemacht werden kann«. Henrich will mit seiner Auslegung des Satzes also das Geheimnis menschlicher Liebeserfahrung ergründen, wohingegen Johannes’ Satz im christlichen Lehrzusammenhang primär als eine Aussage über die eigentümliche Kraft der Gottesliebe verstanden wird.

Henrichs Verfahren ist philosophisch, da es die Geltung des Satzes sola ratione und damit ohne den Rückgriff auf christliche Glaubensvoraussetzungen erweisen will. Denn letztere würden von Nicht-Gläubigen schlichtweg zurückgewiesen. Wer wie Henrich auch säkulare Menschen von der Evidenz des Satzes überzeugen möchte, dass in der Liebe keine Furcht sei, muss dies allein mit rationalen Argumenten zuwege bringen.

Nachdem er zunächst verschiedene Auslegungsmöglichkeiten der johanneischen Aussage anführt, deren Unvereinbarkeit aufzeigt und damit die »Komplexion der Problemlage« konzediert, legt Henrich »in der lockeren Form einer Skizze« seine eigene philosophische Betrachtung dieses höchst ausdeutungsfähigen Satzes aus dem Johannesevangelium dar.

Bezeugt nicht allein schon die Erfahrung liebender Menschen die Evidenz von Johannes’ Satz? In der Innigkeit zweier Liebender scheint die Furcht vor den Widerfahrnissen des Daseins einstweilen abwesend, die Sorge um die Selbsterhaltung – zumindest vorübergehend – in den Hintergrund gerückt. Einer der möglichen Einwände gegen die Furchtlosigkeit in der Liebe lautet darauf, dass doch gerade aus der Liebe selbst eine neue Furcht erwachse: die Furcht um die geliebte Person, die als verletzliches Wesen jederzeit den Gefährdungen des Lebens ausgesetzt bleibt. Henrich gibt zwar zu, dass vollständige Furchtfreiheit den Menschen nicht versprochen werden kann. Doch im Folgenden sollen »weiter ausgreifende philosophische Überlegungen ganz anderer Art« zeigen, dass »die Furchtlosigkeit in der Liebe« und also die menschliche Liebeserfahrung selbst von den vorgebrachten Einwänden gar nicht getroffen wird. Denn jene Einwände verkennen die Eigenart der Liebe und ihre Singularität unter den menschlichen Erfahrungen.

Nur: Wie lässt sich die Eigenart der menschlichen Liebeserfahrung adäquat bestimmen? Laut Henrich eben durch jene »Überlegungen ganz anderer Art«, die »der Philosophie als solcher zugänglich sind«. Henrich zufolge haben diese Überlegungen ihren Platz »im Fundierungsbereich der Ethik und damit zugleich in der Grenzregion der Vernunft, für die der Titel ›Metaphysik‹ umzuwidmen gewesen ist«. Und so plausibilisiert Henrich sodann mittels metaphysischer Überlegungen, dass »die Liebe auch im Forum der endlichen Rationalität etwas ganz anderes bedeuten kann als ein intensives Gefühl und das Grundmuster einer sozialen Verhaltensweise der Menschen«. Wie sonst müssen wir die menschliche Liebe also verstehen?

Das Besondere an Henrichs metaphysischem Argumentationsgang besteht nun darin, dass er zeigt, wie sich ein rein rationales Verstehen der menschlichen Liebeserfahrung aus einer Analyse des Selbstbewusstseins gewinnen lässt. Denn für jegliches Verstehen – und somit auch für das Verstehen der menschlichen Liebeserfahrung – sei das Selbstbewusstsein »der unhintergehbare Ausgangspunkt«, insofern endliche Subjekte, die wir Menschen sind, allererst durch ihr Selbstbewusstsein ausgezeichnet sind. Henrich fasst dieses Wissen von sich selbst, das jeglichem Wissen von Gehalten vorausgesetzt ist, als eine gegebene Faktizität auf – im Sinne einer eingesetzten Aktivität, über die endliche Subjekte immer schon verfügen. Das seiner selbst bewusste Subjekt ist somit weder der Urheber seines Selbstbewusstseins, noch entsteht dieses erst im Umgang mit anderen Subjekten. Und da dieses Wissen von sich selbst eine Faktizität darstellt, die von nirgends hergeleitet werden kann, vermag sich das selbstbewusste Subjekt seinen eigenen Ursprung oder Grund auch nicht durchsichtig zu machen. Letzterer ist ihm schlechthin vorausgesetzt. Oder in anderen Worten: Das seiner selbst bewusste Subjekt ist endlich, weil es seinen Grund in einem anderen hat – dem Unbedingten. Eben diese Eigenschaft, nicht sein eigener Grund zu sein und diesen darum auch nicht mit den Mitteln des (endlichen) Bewusstseins verstehen zu können, ist denn auch das Kennzeichen von Endlichkeit.

Das solcherart endliche Subjekt ist sich in seiner eingesetzten Aktivität seiner bewusst, bleibt jedoch nicht allein auf sich bezogen. Es ist überdies dazu disponiert, ein Bewusstsein von Gehalten auszuprägen, wobei dem Selbstbewusstsein hierbei eine Orientierungsfunktion zukommt. Anders ausgedrückt: Endliche Subjekte gehen auf Sachgehalte in der Welt und sind damit offen für andere ihrer selbst bewusste Subjekte, mit denen sie Umgang pflegen. So führen Menschen ein bewusstes Leben, deren Subjekt sie sind. In ihrem Lebensvollzug navigiert ihr Selbstbewusstsein sie durch die von ihnen bewusst erlebte Welt und befestigt sie in ihrer Subjektstellung.

Die Verfassung seines Selbstbewusstseins, nämlich dass es sich über seinen Ursprung notwendig unsicher sein muss, impliziert allerdings, dass ein endliches Subjekt sich auch seiner Orientierung im bewussten Leben nie vollends gewiss sein kann. Kurzum: Menschen bleiben stets unsicher und gefährdet. Doch ihre Offenheit Sachgehalten und Subjekten gegenüber ermöglicht es ihnen, mit anderen Personen eine vertiefte Verbindung einzugehen, die durch gegenseitiges Interesse, wechselseitige Hilfe, Zuwendung und die Anerkennung des Gegenübers als Subjekt seiner eigenen Lebensführung geprägt ist. Eine solche zur Lebensform sich ausprägende Verbindung zwischen Menschen nennt Henrich »reife Liebe«. In ihr erfahren Liebende zusammen eine »Befestigung ihrer Subjektstellung« und ihrer »Weise der Bemühung um Orientierung«. Henrich schreibt: »Die Liebe […] hat die singuläre Eigenschaft, dass die Sorgen des Alltags und vor der Zukunft ihre bedrängende Realität verlieren.« In ihr bilden Liebende ein gemeinsames »Bewusstsein eines Erhobenseins aus alltäglicher Bedrohung und von einem Geschehen, das in einem Unbedingten fundiert ist.«

Selbstredend bleiben endliche Subjekte auch in reifer Liebe verletzliche Menschen und als solche stets den Unwägbarkeiten des Lebens ausgesetzt. Doch so, wie das Selbstbewusstsein den Menschen eine Orientierung im bewussten Leben ermöglicht und sie so in ihrem Selbstsein stabilisiert, so befestigt auch die Liebeserfahrung zweier oder mehrerer Menschen ihre Subjektstellung. Denn in reifer Liebe bestätigen und anerkennen sich Menschen als das, was sie sind: selbstbewusste endliche Subjekte, die nicht ihr eigener Grund sind. Dieses wechselseitige Anerkennungsgeschehen erfahren sie gleichsam als eine »Verankerung« ihres notwendig unsicheren Selbst, indem sie gemeinsam die Überzeugung machen, »in einem Grund, der unverbrüchlich, weil Unbedingtem zugehörig, verwurzelt zu sein.« Kurzum: Sie erfahren die Liebe selber als ein Geschehen des Unbedingten. Henrich schreibt sogar, dass das Unbedingte als Grund im Vollzug der Endlichkeit (als Liebesgeschehen) wirklich wird.

Die Furchtlosigkeit in der Liebe herrscht insofern, als Menschen in dieser eigenartigsten aller humanen Erfahrungen gewahr werden, dass die Liebe ebenso ein vom Unbedingten herrührendes Geschenk (ein Gegebenes) ist wie das unhintergehbare Selbstbewusstsein, das sie als endliche Subjekte grundlegend konstituiert. Daher zeitige die menschliche Liebeserfahrung denn auch das Gefühl der Dankbarkeit, wie Henrich schreibt. So erfahren Menschen in der reifen Liebe ihre Zugehörigkeit zum Unbedingten, das ihnen zwar nicht durchsichtig werden kann, und doch sowohl der annehmbare Grund ihres Selbstbewusstseins als auch ihrer Liebe ist.

Zur Person:

Das für Subjekte fundamentale Selbstbewusstsein war so etwas wie Dieter Henrichs Lebensthema. Der 1927 in Marburg geborene und später in Berlin, Heidelberg und München lehrende Philosophie-Professor avancierte nach seiner Habilitation 1956 über Kants praktische Philosophie schnell zu einem der einflussreichsten Interpreten der klassischen deutschen Philosophie. Er, der trotz intensivster Beschäftigung mit Hegels Systemphilosophie zeit seines Lebens Kantianer geblieben ist, nutzte das metaphysische Denken selbst dann noch zur ständigen Neuaneignung und -interpretation der nachkantischen Philosophie, als Habermas’ Diktum von der Notwendigkeit »nachmetaphysischen Denkens« längst zur vorherrschenden akademischen Praxis geworden war. Ob er nun über Kants Sittenlehre (Selbstbewusstsein und Sittlichkeit, 1956) oder Fichtes ursprüngliche Einsicht (1967) schrieb, die Gemeinsamkeiten im Denken Hölderlins und Hegels herausstellte (Hegel im Kontext, 1971; Der Grund im Bewusstsein, 1992) oder die Summe seiner Theorie der Subjektivität zog (Denken und Selbstsein, 2007), stets suchte er nach dem Grund von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, von Subjektivität und Wissen. Dabei verdeutlichte er immer wieder von Neuem, dass diese Grundbegriffe der menschlichen Erkenntnis ihren Grund nicht in einem Endlichen haben können, sondern im Unbedingten, dem Absoluten wurzeln. Und so bleibt der am 17. Dezember 2022 im Alter von 95 Jahren verstorbene Dieter Henrich als einer von wenigen großen metaphysischen Denkern in einer angeblich nachmetaphysischen Welt in Erinnerung.

Dieter Henrich: Furcht ist nicht in der Liebe. Philosophische Betrachtungen zu einem Satz des Evangelisten Johannes. Klostermann Verlag: Frankfurt am Main 2022.

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Ingeborg Bachmann und Max Frisch: Der Briefwechsel

«Wir haben es nicht gut gemacht.»

Am 21. November ist er erschienen – der von der literarischen Öffentlichkeit lange erwartete Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Auf über 1000 Seiten erhalten wir Einblick in die private Korrespondenz der beiden Sprachvirtuos*innen. Es ist eine der berühmtesten Liebesgeschichten der deutschsprachigen Literatur.

Ihre erste Begegnung und sogleich auch der Beginn ihrer Liebesbeziehung fand im Juli 1958 in Paris statt, es kam zu Episoden des Zusammenlebens in Zürich, in Uetikon am See, in Rom. Auf das Krisenjahr 1959 folgte eine offene Beziehung. Max Frisch wünschte sich zweitweise ein Bekenntnis schwarz auf weiss, eine Ehe; Ingeborg Bachmann schrieb, sie wolle „einfach leben in einer Wolke von Zärtlichkeit“.

Das fragmentarische Bild der Beziehung zwischen Bachmann und Frisch, das sich beim Lesen der umfangreichen, aber nicht vollständigen Sammlung an Briefen ergibt, zeigt eine abgründige Liebesgeschichte mit vielen Kipp- und Wendepunkten sowie zahlreichen Nebenfiguren. Es ist ein ständiges Pendeln zwischen Sehnsucht und Vorwurf, zwischen vehementer Liebesbekundung und kühler Distanz. Zwischen Zugewandtheit, Zuneigung und Zärtlichkeit und kleinen Sticheleien, die weh tun und immer mehr zu offenen Verletzungen werden.

Zu Beginn des Jahres 1964 kam es zum endgültigen Bruch, Ingeborg Bachmann forderte Max Frisch dazu auf, ihr alle an ihn gerichteten Briefe zurückzugeben. Ihre Bitte wurde nicht erfüllt. Max Frisch versicherte ihr jedoch, vor einer Publikation der Korrespondenz brauche sie sich nicht zu fürchten.

Knapp 60 Jahre später kommt es nun zur Veröffentlichung. Ist das okay? Die 1973 verstorbene Ingeborg Bachmann hätte die Frage damals mit „nein“ beantwortet. Ihre Geschwister gaben jedoch nun das Einverständnis und die von Max Frisch testamentarisch festgelegte 20-jährige Sperrfrist lief bereits 2011 ab. Dürfen wir diese sehr privaten Briefe lesen? Es bleibt ein gewisses Dilemma. Auf jeden Fall ist zu wünschen, dass die Leser*innen auf vorschnelles Urteilen verzichten und diesen Briefwechsel möglichst achtsam und vertrauensvoll lesen.

Die Edition des Briefwechsels zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch ist zugleich Teil der Ingeborg-Bachmann-Gesamtausgabe. Den Titel liefert ein Zitat von Max Frisch. Entstanden ist die Publikation als Kooperation zwischen dem Max-Frisch-Archiv Zürich und der Ingeborg-Bachmann-Forschungsstelle im Literaturarchiv Salzburg. Herausgeber*innen sind Hans Höller, Renate Langer, Thomas Strässle und Barbara Wiedemann.

Wir empfehlen sehr die ausführliche Rezension, die der Literaturkritiker Daniel Graf für die Zeitschrift „Republik“ geschrieben hat.

Thomas Stangl, Anne Weber: Über gute und böse Literatur

Eine Rezension von Julia Rüegger

„Warum ist gute – grosse – Literatur […] oft näher an der schlechten, misslungenen als an der soliden, perfekten, routinierten?“ S. 5

Welche Risiken geht man ein, wenn man über Figuren schreibt, die tatsächlich existiert haben?

Gibt es Geschichten, die nichts verfälschen?

Was hat „rücksichtslose Personenbearbeitung“ mit „Lebendigschreiben“ zu tun? S. 154

Beginnt das Fälschen schon beim Konstruieren eines Textes?

„Kann es Literatur geben, die naiv gelesen schlecht ist und raffiniert gelesen gut?“ S. 31

„Ist es nicht schrecklich, einen Schriftsteller zum Kind, Bruder oder Ex-Mann zu haben und von ihm in einen Roman gesteckt zu werden? “ S. 76

„Ist es […] überhaupt wünschenswert, erzählt zu werden, möchte ich der Gegenstand einer Biografie sein?“ S. 78

Gibt es eine Moral des Verschweigens?

„Was muss die Fiktion können, damit sie nicht enttäuscht, weniger ist als die Wirklichkeit, sondern mehr?“ S. 150

Und kann nicht auch die moralische Haltung eines Autors, einer Autorin zur Eitelkeit verkommen?

Diese und viele weitere tiefschürfende Fragen werfen Thomas Stangl und Anne Weber, zwei deutschsprachige Autor:innen, in ihrer Emailkorrespondenz auf. Beide wurden in den 1960er-Jahren geboren und setzen sich durch die Stoff- und Perspektivenwahl ihrer Werke regelmässig ethischen wie auch ästhetischen Herausforderungen aus. Zwischen 2014 und 2020 haben sie sich in zwei separaten Mailwechseln mit den Grenzgängen ihres Schreibens auseinandergesetzt und das weite, aber auch diffuse Feld zwischen Aufrichtigkeit und Schamlosigkeit ausgelotet.

Während der erste, kürzere Mailwechsel sich um die eher klassische Frage nach Kriterien für gute Literatur und deren moralischen Unterbau dreht, liegt der Schwerpunkt im zweiten Mailwechsel auf dem Umgang mit literarischen Figuren. Genauer: auf dem Umgang mit Figuren, wenn diese auf reale Personen zurückgehen, die entweder – wie bei den Expeditionsreisenden in Stangls Roman „Der einzige Ort“ – seit langer Zeit tot sind, oder – wie bei der von Anne Weber in „Annette, ein Heldinnenepos“ porträtierten Résistance-Kämpferin Anne Beaumanoir – noch leben. Dass aus dieser Betrachtung der eigenen Arbeiten keine Nabelschau erwächst, hat auch damit zu tun, dass Stangl und Weber eine Reihe anderer Autor:innen in ihre Reflexion miteinbeziehen und ihre Lektüren von Pierre Michon und Marguerite Duras, Jonathan Littell und Peter Handke, Franz Kafka und Ursula Krechel kontrovers verhandeln. 

Wer aufgrund des Email-Genres einen süffigen Ton erwartet, wird vielleicht enttäuscht oder ratlos sein: Man sieht es dem Text nicht sofort an, dass er es vor allem als Fragenkatalog in sich hat. So gerät das Zwiegespräch zwischendurch etwas verkopft. Dennoch stecken die beiden Korrespondenzen voller starker und origineller Einsichten, gerade auch wenn das Gespräch aktuelle Themen wie Identitätspolitik oder Autofiktion berührt, sich diesen aber aus einem ungewohnten Winkel nähert. Am spannendsten und schönsten wird die Lektüre jedoch da, wo Stangl und Weber aus dem manchmal etwas zu rigide verfolgten selbstauferlegten Fragekatalog ausbrechen: da, wo sie einander widersprechen; wo sie zugeben, dass ihre eigenen Positionen immer wieder ins Wanken geraten; sie aber zugleich sehr präzise Worte finden, um all die Spannungen nachzuzeichnen, die den Schreibprozess zwischen künstlerischem Risiko und ethischem Anspruch ausmachen. Oder auch da, wo sie sich allen Zweifeln zum Trotz zu (vorläufigen) Bekenntnissen hinreissen lassen, die dann zum Beispiel so klingen:

„[…] dass die Form ihr Eigenleben hat, macht nicht nur gute Literatur aus, es macht auch jede Literatur angreifbar.“ S. 33

– Letzteres gilt wohl auch für diese im besten Sinne unruhig bleibende Korrespondenz.

Thomas Stangl, Anne Weber: Über gute und böse Literatur. Korrespondenz über das Schreiben. Matthes & Seitz 2022.

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Felix Philipp Ingold

Anlässlich seines 80. Geburtstags haben wir eine Auswahl an Büchern des vielfach ausgezeichneten Autoren, Publizisten und Übersetzers Felix Philipp Ingold zusammengestellt, der seinerzeit in Basel studiert hatte.

Auch sein neuestes Werk, der Essayband «Denken im Abseits» ist in der Buchhandlung Labyrinth eingetroffen. Gerne teilen wir hier unsere Rezension mit Ihnen:

Felix Philipp Ingold: Denken im Abseits. Privatphilosophien der Moderne. Klagenfurt und Graz: Ritter, 2022.

Felix Philipp Ingold hat eine Anthologie vorgelegt mit etwa zwei Dutzend Portraits von Philosophen, die ausserhalb der Universität als «Selbstdenker» eine eigene Philosophie entwickelt haben. «Privat» heisst hier unbeugsam und eigensinnig, unabhängig von der «schul- und traditionsbildenden Grossmacht der klassischen Philosophie», dabei aber durchaus auf Veröffentlichung zielend. Die Autoren müssen sich nicht unbedingt selber als Philosophen bezeichnet haben, sondern mit den letzten Fragen umgegangen sein, wie etwa Franz Hohler, Hugo Ball und Edmond Jabès. Darüber hinaus sind die meisten der Vorgestellten weitgehend unbekannt oder vergessen; wir begegnen also nicht zum wiederholten Mal Nietzsche oder Blanchot, Cioran oder Walter Benjamin, sondern Benjamin Fondane, Anatol Rapoport, Albert O. Hirschmann und dem famosen Manlio Sgalambro. Am ehesten kennt man Siegfried Kracauer, Fritz Mauthner und Michail Bachtin – aber der Bruder des letzteren, Nicholas Bakhtin, ist unbekannt geblieben.  

Das Buch wird eingeleitet von einem ausführlichen Vorwort, das die Ziele und Grenzen der Unternehmung erläutert. Dort wird auch begründet, warum neben all den Männern keine einzige Autorin präsentiert wird. Das Ganze ist die Prosa eines nun achtzigjährigen Lyrikers, Romanciers und Philologen. Sie ist ebenso dicht wie klar, nie überladen, sondern bleibt durchgängig – sit venia verbo – süffig.

Die Essays sind zwischen zehn und zwanzig Seiten lang und werden jeweils mit einer schwarzweissen Portraitphotographie eröffnet; sie «sollen die Problem- und Formenvielfalt selbsttätigen Philosophierens  vor Augen führen» und «sind so angelegt, dass Biographie und Werk der Autoren in konsequenter Engführung dargestellt und in ihrer jeweils spezifischen Wechselbeziehung erhellt werden». Das gelingt in vollem Umfang. Schlüsselstellen werden ausführlich zitiert und präzise kommentiert, historische Kontexte – immer wieder die grausamen Wirren der Weltkriege – werden aufgerufen, Beziehungen zu anderen Autoren und Künstlern genannt, und dem etwas kleiner gedruckten Block mit bibliographischen Hinweisen jeweils am Ende der Stücke ist zu entnehmen, dass Ingold zu manchen dieser Autoren bereits vor Jahrzehnten wissenschaftlich publiziert hat. Also wird aus der Fülle der Werkkenntnis heraus immer auch interpretiert, präzise spekuliert und schlussendlich wohlbegründet gewürdigt – und manchmal auch lehrreich geurteilt. Ingold findet zuverlässig eine Perspektive, aus der auch noch so Abseitiges fruchtbar betrachtet werden kann. 

Die Essays sind zwischen zehn und zwanzig Seiten lang und werden jeweils mit einer schwarzweissen Portraitphotographie eröffnet; sie «sollen die Problem- und Formenvielfalt selbsttätigen Philosophierens  vor Augen führen» und «sind so angelegt, dass Biographie und Werk der Autoren in konsequenter Engführung dargestellt und in ihrer jeweils spezifischen Wechselbeziehung erhellt werden». Das gelingt in vollem Umfang. Schlüsselstellen werden ausführlich zitiert und präzise kommentiert, historische Kontexte – immer wieder die grausamen Wirren der Weltkriege – werden aufgerufen, Beziehungen zu anderen Autoren und Künstlern genannt, und dem etwas kleiner gedruckten Block mit bibliographischen Hinweisen jeweils am Ende der Stücke ist zu entnehmen, dass Ingold zu manchen dieser Autoren bereits vor Jahrzehnten wissenschaftlich publiziert hat.

Also wird aus der Fülle der Werkkenntnis heraus immer auch interpretiert, präzise spekuliert und schlussendlich wohlbegründet gewürdigt – und manchmal auch lehrreich geurteilt. Ingold findet zuverlässig eine Perspektive, aus der auch noch so Abseitiges fruchtbar betrachtet werden kann. 

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Viele andere Werke von Felix Philipp Ingold warten im hinteren Schaufenster des Labyrinths auf Leser*innenschaft.

Amia Srinivasan „Das Recht auf Sex“

Eine Rezension von Julia Rüegger

Eine derzeit vielbeachtete Neuerscheinung ist „Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert“ der 1984 geborenen Philosophin Amia Srinivasan. Seit 2020 hat Srinivasan als bisher jüngste Person, erste Frau und erste nicht-weisse Person den renommierten Chichele-Lehrstuhl für Politik- und Gesellschaftstheorie an der Oxford University inne. Die Essaysammlung „Das Recht auf Sex“ ist ihr Debüt – und dafür, dass Srinivasan erst relativ spät zur feministischen Theorie gefunden hat, eine Textsammlung, die es knochentief in sich hat.

Obwohl Titel und besonders Untertitel des Buches grosse Erwartungen wecken, geht es inhaltlich (zum Glück) nicht um den Zehn-Punkte-Plan für einen zukünftigen Feminismus, sondern um eine hellwache und sehr kluge Bestandsaufnahme aktueller feministischer Debatten, deren Prägung durch verschiedene Schulen und historische Umstände sowie um deren kritische Revision heute. Dabei widmet sich Srinivasan mit Vorliebe Themen, die Feminist*innen seit jeher spalten und gesellschaftlich polarisieren: zum Beispiel der Pornografie und der Frage nach der Kriminalisierung oder Legalisierung von Prostitution. Dabei zeigt sie auf, wieso gerade diese alten Streitthemen noch immer von Gewicht sind: nicht obwohl, sondern weil es auf sie keine leichten Antworten gibt. Aber auch neuerer Phänome wie der rassistischen, frauen- und transfeindlichen Incel-Bewegung und der fortgeschriebenen Rassifizierung in Dating-Apps nimmt sich Srinivasan in ihrer ganzen Abgründigkeit an und wird nicht müde, auf die Paradoxien hinzuweisen, die sich bei genauerem Hinschauen immer schmerzlicher zeigen.  

So fragt Srinivasan im Essay „Die Politik des Begehrens“ danach, wie politisch geformt unser Begehren ist, und ob es wirklich emanzipiert ist, individuelles Begehren aus einer liberalen Haltung heraus als rein persönliche Angelegenheit zu verstehen, oder ob es nicht doch darum gehen könnte und sollte, das eigene Begehren einer politischen Kritik zu unterziehen um nicht blind die herrschenden Begehrensnormen zu reproduzieren.

Einem ähnlich komplexen Thema widmet sich der Text „Warum man nicht mit seinen Studierenden schlafen sollte“, in dem Srinivasan Einblick gibt in die teils bizarren, teils haarsträubenden Debatten darüber, ob akademische Lehre erotisch sein darf (oder sogar soll) und ob sexuelle Handlungen zwischen Lehrenden und Studierenden verboten gehören oder nicht. Eine Frage, die besonders im US-amerikanischen Sprachraum, wo in den letzten Jahrzehnten zunehmend gesetzliche Regelungen etabliert wurden, von grosser Brisanz ist. Auch hier weicht Srinivasan der Komplexität des Phänomens nicht aus, seziert vielmehr die verschiedenen Machtinteressen, ideologischen Vereinnahmungen und problematischen Freiheitsverständnisse, die sich in ihm niederschlagen – und zeigt auf, warum auch ein einvernehmliches Verhältnis systematisch Schäden anrichten kann, besonders zu Lasten von (nicht-weissen) Frauen*.

Im Essay „Sex, Karzeralismus, Kapitalismus“ schliesslich zeigt Srinivasan auf, wie oft gesetzliche Massnahmen zum Verbot oder zur Einschränkung von Prostitution gerade jenen Sexarbeiter*innen am meisten schaden, die aufgrund ihrer Armut, ihrer Hautfarbe oder ihres Aufenthaltsstatus ohnehin massiver Diskriminierung und existenzieller Bedrohung ausgesetzt sind.

Es handelt sich bei diesen Essays also nicht um eine spritzige popfeministische Lektüre, die mal eben so nebenbei gelesen und verdaut werden kann. Und das liegt nicht darin begründet, dass Srinivasan umständlich oder verklausuliert schreiben würde, sondern eben darin, dass sich die Essays jene Zonen auf dem feministischen Kampfplatz vorknöpfen, die unangenehm, verworren, moralisch höchst aufgeladen und politisch (seit Jahrzehnten) umstritten sind. Zudem basieren die Essays, die von Srinivasans enormer Belesenheit in feministischer Theoriebildung zeugen, auf einer intensiven Recherche, die historische Argumentationslinien und Narrative ebenso aufgreift wie aktuelle Zahlen und Studien.

Nach der Lektüre brummt einer*m der Kopf, und auf die Frage, wie ein reflektierter, progressiver und intersektionaler Feminismus im 21. Jahrhundert aussehen könnte, hat man keine klare Antwort erhalten, sondern vielmehr Orientierungshilfen dafür, in welche Richtung es weiter zu arbeiten, zu denken, lehren, lieben und kämpfen gilt, um den Weg zu mehr Gleichberechtigung für alle Menschen zu bereiten (und welche Fallstricke dabei zu vermeiden sind). Dies ist, angesichts der Komplexität der behandelten Themen, schon ein grosser Verdienst – und zeugt insbesondere auch von Srinivasans Befund, dass „eine wirklich inkludierende Politik […] eine unbequeme Politik ohne Geborgenheit [ist].“

Amia Srinivasan: Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert
Klett-Cotta Verlag 2022

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Ibrahima Balde, Amets Arzallus „Kleiner Bruder“

Eine Rezension von Rahel Locher aus der Wochenzeitung WOZ

Reise gelungen, Suche missglückt

Nach zwei Monaten in der libyschen Hafenstadt Sabrata hat Ibrahima noch immer keine Spur seines kleinen Bruders Alhassane gefunden. Niemand scheint diesen im Lager von Baba Hassan gesehen zu haben. Dabei hatte Alhassane beim letzten Telefongespräch erzählt, er warte dort auf die Gelegenheit, das Meer zu überqueren. Baba Hassan ist eines der Flüchtlingslager an der libyschen Küste, wo Hunderte Menschen darauf warten, ein «Programm» zu kaufen – die riskante Überfahrt im Schlauchboot auf die 300 Kilometer entfernte italienische Insel Lampedusa.

Ibrahima hat innerlich bereits aufgegeben, als er auf dem Rückweg von der Moschee die Wahrheit erfährt, die ihm lange niemand zu sagen wagte: Alhassane hat «naufrage» erlitten – das überfüllte Boot ist auf dem Meer gekentert. Zurück im Lager legt sich Ibrahima auf ein paar Kartons, schlägt erst auf sie ein – und beginnt dann, die schreckliche Nachricht anzuzweifeln. 144 Menschen seien an Bord gewesen. Aber das kann nicht sein, so viele Menschen passen auf kein Schlauchboot. Doch als er nachfragt, heisst es: «In Libyen passen auch 180 Menschen auf ein Schlauchboot, ça c’est tout à fait normal.»

Lieber nicht im Dunkeln erzählen

Im Buch «Kleiner Bruder» erzählt der 1994 im westafrikanischen Guinea geborene Ibrahima Balde seine Lebensgeschichte. Er beschreibt das Aufwachsen in Guinea, wie er sich nach dem Tod des Vaters als ältestes männliches Familienmitglied verantwortlich für den Bruder fühlt, selbst aber nicht im Dorf bleiben kann und deswegen von Alhassanes Aufbruch erst einige Wochen später erfährt. Im Hauptteil des Buchs schildert er die Erlebnisse an den verschiedenen Stationen auf der Route über Mali und Algerien nach Libyen und benennt in einer einfachen, direkten Sprache den Schrecken einer Reise, die so viele junge Menschen aus Westafrika auf sich nehmen. Wenige Zeilen deuten auf das Leben in Europa hin, wo Ibrahima landet, obwohl er lieber in Guinea als Lkw-Fahrer arbeiten würde.

Bei besonders schlimmen Erfahrungen spricht Ibrahima Balde das Gegenüber direkt mit «du» an. Er richtet sich damit an den baskischen Dichter Amets Arzallus, der seine Erzählung in kurzen, prägnanten Sätzen niedergeschrieben hat und dabei nahe an der gesprochenen Sprache geblieben ist. Balde begegnet Arzallus in der baskischen Kleinstadt Irun, wo er schliesslich einen Asylantrag stellt. Durch das Du gewinnt die Erzählung an Unmittelbarkeit, als sässe man selbst neben Balde und hörte seine berührende Geschichte. Etwa, wie er in Libyen in die Fänge eines Menschenhändlers gerät: «Dann hob er seine Guba und zeigte mir die Kalaschnikow. Ja, genau so. Die Guba ist eine lange Weste, die Männer tragen sie. Was eine Kalaschnikow ist, weisst du ja.»

Was danach geschieht, davon möchte Ibrahima lieber nicht im Dunkeln erzählen: «Du bist jetzt hier und hörst zu, aber ich bin dort, es steckt in meinem Körper, und wenn ich davon rede, erlebe ich alles noch einmal.» Ein wichtiges Thema in «Kleiner Bruder»: Wie umgehen mit der erfahrenen Gewalt, den erlebten Schmerzen, den auf dem Weg zurückgelassenen Toten? Wie mit den Jahren in Ländern, wo das eigene Leben nichts wert ist? Wie weiterleben mit der Gewissheit, dass Alhassane ertrunken ist? So wie es Ibrahima selbst eine Zeit lang nicht mehr kümmert, ob er in Libyen mit einer Kalaschnikow erschossen wird, begegnet er auf der ganzen Fluchtroute Menschen, die aufgegeben haben; die zum Beispiel in den Wäldern an der marokkanischen Küste beim Warten auf ein «Programm» zwar vor der Polizei, aber nicht vor ihrer eigenen Geschichte davonlaufen können. Eine Geschichte, über die sie nicht sprechen, die aber in ihren Augen zu erahnen ist.

Etwas Neues in den Schrank stellen

Ibrahima selbst gelingt es mit der Unterstützung eines Freundes, wieder etwas Lebensmut zu schöpfen. Gemeinsam schleppen sie in Libyen Ziegel, bis Ibrahima nach Algerien zurückkehrt. Die Veränderung ist unübersehbar: Die Zeit in Libyen hat den gesprächigen und humorvollen Ibrahima verstummen lassen; frühere Bekannte erklären ihn für verrückt. Lange dauert es, bis er mehr Boden unter den Füssen findet – und schliesslich in Irun sein erschütterndes Zeugnis ablegt.

Auch dort beschäftigen ihn die furchtbaren Bilder und Erfahrungen. «Der Kopf ist wie ein Schrank, und um etwas aus dem Schrank herauszuholen, musst du eine andere Sache hineinstellen. Aber ich mache nichts, während sie hier über mein Asyl entscheiden.» Ibrahima wird daran gehindert, sich eine Zukunft zu erschliessen, und verharrt in erzwungener Untätigkeit. Diese teilt er mit vielen anderen Geflüchteten in Europa, deren Asylprozesse sich über Jahre hinziehen, ohne dass sie die Möglichkeit hätten, zu arbeiten, zu lernen, an der Gesellschaft teilzuhaben – und so auch einfacher über das Erlittene hinwegzukommen. Ibrahima klagt nicht an, aber er findet klare, kraftvolle Worte, um die entwürdigenden und oft tödlichen Bedingungen aufzuzeigen, denen Schutzsuchende ausgesetzt sind – Bedingungen, die gerade im Fall Libyen von der europäischen Migrationspolitik mitkreiert werden.

Ibrahima Balde, Amets Arzallus: Kleiner Bruder. Die Geschichte meiner Suche. Suhrkamp Verlag Berlin 2021.

Chris Kraus „Aliens & Anorexie“

Eine Rezension von Chaim Howald:

Eine Frau begibt sich in Mitten eines psychedelischen Strudels von Zitaten auf die Suche nach Menschlichkeit und Weiblichkeit, nach weiblicher Identität in Kunst und Gesellschaft, sowie künstlerischer Identität. In ihrem Innersten zerrüttet durch Liebe und Unterwerfung, Entgrenzung und Entfremdung bleiben zuletzt existentielle Fragen nach der Abhängigkeit von Körperlichkeit und Geist.

«Eigentlich ist alles schon einmal gesagt worden (…)» wird die Frau oft auch zitiert, mit deren verfremdeten Aussagen es der Autorin bereits auf den ersten Seiten gelingt, mich aus der Reserve zu locken. Im Vertrauen darauf, wie viel davon sie sich zu eigen machen kann, erscheint dieses Buch als eine augenzwinkernde Reaktion, frei nach Kirby Ferguson (Everything is a Remix): «Kreativität ist nicht Magie. Sie passiert dann, wenn gewöhnliche Instrumente der Reflektion auf Bestehendes angewandt werden. Die Grundoperationen der Kreativität sind: Zitieren [Kopieren], Transformieren und Kombinieren.»

Mit diesen Werkzeugen nähert Kraus sich hier drei Frauen und ihren Körpern über ihr Verhalten und ihre Sozialisierung. Sie zeigt auf wie politisch das Private auch heute noch ist und mokiert sich gleichzeitig en-passant über beinahe jeden klassischen Erklärungsansatz für irgendetwas. Dabei streut sie punktgenau, vorerst zufällig – ja bisweilen absurd – zusammengestellt Zitate von Form und Inhalt ein. So kann mich kaum erstaunen, dass ich das vierte «Sample» der eingangs erwähnten Frau, Ulrike Meinhof, innerlich plötzlich mit der Stimme des MCs der Gruppe Freundeskreis lese und mich der Refrain ihres 1997er Titels «Cross the Tracks» während der weiteren Lektüre nicht mehr loslassen will. In meinem Kopf findet ein multimedialer Remix statt – und es zeichnet sich bereits eine der ganz grossen Stärken dieser Chimaira eines zumindest vordergründig stark autobiographisch angehauchten, psychologisierenden, feministischen Essay-Brief-Romans ab: Die völlige in Besitznahme meiner Gedankenwelt mittels gezielter Reizüberflutung.

So wird durch die – anfangs verwirrende und durchaus immer wieder etwas anstrengende, stets aber stringente – Verflechtung der verschiedenen Erzählebenen und ihrer jeweiligen dazu gehörenden -techniken fassbar gemacht, was Worte in der Regel kaum zu transportieren vermögen: Das Psychedelische.

Die Rahmenhandlung begleitet Chris Kraus beim Scheitern als Filmvermarkterin, als Regisseurin, in ihrer Beziehung, in erratisch – unerfüllter lesbischer Liebe und weit darüber hinaus – in etwas, was aber nicht so sehr ein Strudel in den Abgrund, als einer in die völlige Selbstentfremdung ist, an dessen Ende Unmengen der Erkenntnis zu warten scheinen.

Mit dieser Selbstentfremdung als Grundlage wird schliesslich der dritte und letzte Strang bearbeitet: Das Leben, Wirken und Verhungern der Simone Weil. Wie bereits zuvor wird auch hier durch einen unglaublichen Detailreichtum ein sehr plastisches Bild der Porträtierten geschaffen – nur wird dieses umgehend mit z.T. gewagten Thesen dekonstruiert und anschliessend das Aufstellen solcher Thesen generell in Frage gestellt.

All dies hat sicherlich das Potential grandios im Chaos unterzugehen. Wenn es das nicht tut, ist dies drei Faktoren zu verdanken: Dem immensen Wissens der Autorin, ihrem Mut, scheinbar Unpassendes zu einer Komposition zu arrangieren und einer gehörigen Portion Chutzpe, Fachpersonen so verschiedener Disziplinen, wie Kunstgeschichte, Philosophie, Psychologie und Medizin einen Teil ihrer Expertise abzusprechen, dies mit einem anarchisch-feministischen Argument zu begründen und gleichzeitig mit dem Feminismus dasselbe zu tun – selbstverständlich (oder zumindest hoffentlich…) mit einem grossen Augenzwinkern.

Aliens & Anorexie, Chris Kraus, Matthes & Seitz Verlag Berlin 2021.

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Es herrscht Krieg gegen die Ukraine – trotzdem lesen?

Auch im Labyrinth sind wir betroffen und sprachlos angesichts der Tatsache, dass die Bevölkerung in der Ukraine täglich tiefer in eine Spirale der Gewalt gezogen wird. Es gibt diesen vergeblichen Wunsch, die Weltuhr gemeinsam ein Stück zurückzudrehen, um vielleicht doch noch zu verhindern, was bereits passiert ist. Der Krieg, der seit dem 24. Februar 2022 die gesamte Bevölkerung der Ukraine erfasst hat, findet in der Ostukraine bereits seit acht Jahren statt. Das Repertoire an Desinformation und Faktenverdrehung, durch das dieser Krieg legitimiert wird, hat sich Putin während seiner über 20-jährigen Regierungszeit angeeignet. Das Vorgehen der russischen Truppen gegen die Zivilbevölkerung hat eine Vorgeschichte – in den Kriegen in Syrien, Georgien, Tschetschenien, Afghanistan.

Vielleicht ist es hilfreich, ein Buch ukrainischer Autor*innen in die Hand zu nehmen. Nicht, um sich dem Schrecken der Gegenwart zu entziehen, sondern um diesen besser zu verstehen. Viele Schriftsteller*innen in der Ukraine erzählen in ihren Texten, wovon sonst kaum berichtet wird. Sie schreiben auch dann, wenn die mediale Aufmerksamkeit wieder nachgelassen hat. Gerade in diesen Tagen, in denen es so schwer fällt, Worte zu finden und sich zu äussern, tun es einige von ihnen doch. Viele ihrer Bücher sind übersetzt und es tut gut, sie zu lesen. Es tut gut, wenn sich in dieser aufgehitzten Zeit der lauten Slogans und eindeutigen Wahrheiten zwischen zwei Buchdeckeln ein vielstimmiger Raum öffnet. Ein Raum, in dem unterschiedliche Erfahrungen und Wahrnehmungen nebeneinander Platz finden.

Vielseitige und bedeutsame Stimmen gegen den Krieg gibt es auch unter den Schriftsteller*innen in Russland, wo der Krieg nicht mehr Krieg genannt werden darf. Beispielsweise Ljudmila Ulitzkaja, Lev Rubinstein und Vladimir Sorokin. Die Ukraine und Russland sind durch unzählige Familien- und Beziehungsgeschichten miteinander verwoben. Doch der Angriffskrieg der russischen Armee gegen die Ukraine hat eine Kluft zwischen die Menschen geschlagen, die wohl nicht wieder zu überbrücken ist. Wie jeder bewaffnete Konflikt ebnet auch dieser Krieg das Feld für allzu feste Zuschreibungen und Pauschalisierungen. Auch wir, die wir den Schrecken aus Entfernung betrachten, versuchen uns zu orientieren. Wenn die Ukrainer*innen auf der einen und die Russ*innen auf der anderen Seite stehen, mag es übersichtlicher wirken. Doch eine solche Schubladisierung ist mit Blick in die Zukunft nicht nur gefährlich, sie verdeckt auch klar das Wesen dieses Krieges. Die Übersetzerin Iryna Herasimovich betont, dass der Kampf gegen Putins Angriffs­krieg in der Ukraine, die oppositionellen Stimmen in Russland sowie der Widerstand in Belarus Glieder ein und derselben Kette sind.

So sieht es auch das Labyrinth. Wir möchten bewusst Autor*innen aus der Ukraine, aus Russland und aus Belarus berücksichtigen und haben in diesem Sinne eine Auswahl an Büchern zusammengestellt, die sich zu lesen lohnt. Die Auswahl ist nicht abgeschlossen. Wenn Sie von einem passenden Titel gehört oder ihn bereits gelesen haben, ergänzen wir unsere Auswahl gerne. Wenn Sie eine Solidaritätsveranstaltung rund um den Krieg gegen die Ukraine planen und gerne einen Büchertisch vor Ort hätten, nehmen Sie mit uns Kontakt auf.

Bild: „Nein zum Krieg!“; aus dem Telegramchat „Feminists against war“.

Zur Auswahl

Levin Westermann „farbe komma dunkel“

Für seinen 2019 erschienenen Gedichtband «bezüglich der schatten» erhielt Levin Westermann den Schweizer Literaturpreis 2021. «farbe komma dunkel» ist 2021 bei Matthes & Seitz erschienen: ein hundertseitiges Langgedicht in durchgängiger Kleinschreibung ohne Interpunktion. – Aber bitte lesen Sie diese Rezension dennoch weiter. Die einzelnen Sätze sind in ihre Kola unterteilt, und diese sind auf der Seite zentriert, so dass die einzelnen Wörter wirklich grosses Gewicht bekommen. Gegliedert ist das Ganze durch das tagaus-tagein markierende «und dann/geht die sonne wieder unter/und dann/geht die sonne wieder auf».

Dazwischen wird in Spurenelementen ein durchaus banaler Alltag auf dem Land geschildert: Ein lyrisches Ich sitzt in einem Wintergarten, hat ein Hüftproblem, kann deswegen nicht joggen, und beobachtet Schafe, Hühner, ein Pferd, einen Pfau, liest Zeitung, kriegt Weltschmerz und möchte schreien, macht sich Sorgen um den Verbleib einer Katze, reflektiert zwischendurch auf erinnerte, kursiv gestellte Zeilen aus Gedichten anderer. Die mangelnde körperliche Bewegung führt zu immer stärkeren Ohnmachtsgefühlen, «und der kopf ist ein wrack / weil bewegungslos / erstarrt […] und was mich rettet sind die bücher / ist die sprache und ihr klang».

Das klingt nach spröder, betroffenheitspflichtiger Lektüre – aber es liest sich unwiderstehlich leicht, entwickelt einen Sog, die Beobachtungen sind wunderbar genau und dabei schlicht, und das Ganze ist hochmusikalisch, fast alles wird eingeknüpft in ein Netz von Leitmotiven und durchzieht ein grosses Klagelied über die «reflexive Ohnmacht» (so hat der englische Kulturtheoretiker Mark Fisher das Gefühl bezeichnet, dass es in die falsche Richtung geht, aber kein Ausweg in Sicht ist, weil alles so verstrickt ist). Sämtliche Mittel sind so eingesetzt, dass der Eindruck von Authentizität entsteht – und grosse Kunst macht ja dann doch froh, auch wenn sie bitter schmeckt. Wenn man Passagen laut liest (das sollte man ja bei Gedichten immer probieren) und sich dabei dem Rhythmus überlässt, blitzt stellenweise auch Humor auf. Nichts ist hier monoton, alles treibt auf einen Umschlagspunkt zu, an dem sich auch der Titel einlöst. Und die Zitate sind fast durchgehend so eindrucksvoll, dass man Lust bekommt, den dreissig (!) verschiedenen Autor:innen (bis anhin kannte ich davon nur fünf) nachzuspüren und sie zu entdecken, wie zum Beispiel die famose Annie Dillard, von der auch das Motto stammt. Am Schluss des Buches sind sie alle aufgeführt.       

Der schöne Pappband ist solide fadengeheftet, was ich sehr mag, denn ich bin fasziniert, trage ihn oft auf mir und lese immer wieder darin – für mich ist dies das Buch der Stunde.

Levin Westermann „farbe komma dunkel“. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021

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