Miranda Fricker: Epistemische Ungleichheit

Rezension von Julia Rüegger

Was passiert, wenn Vorurteile uns davon abhalten, unserem Gegenüber unvoreingenommen zu begegnen und seinen Aussagen grundsätzlich Glauben zu schenken? Was macht es mit mächtigen oder mit marginalisierten Personen, wenn keine Sprache und noch nicht einmal ein soziales Sensorium für Phänomene wie sexualisierte Gewalt oder psychische Erkrankungen besteht? Und wie wirken sich diese epistemischen Ungerechtigkeiten auf die persönliche Entwicklung von Individuen, auf unser soziales Miteinander und unsere Wissenspraktiken aus?

Diese ebenso komplexen wie hochpolitischen Fragen thematisiert Miranda Fricker in ihrem Buch »Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens», das bereits 2007 auf Englisch erschien, doch erst jetzt von Antje Korsmeier ins Deutsche übersetzt wurde. Es bietet grundlegende Analysen an der Schnittstelle von Ethik und Erkenntnistheorie, gepaart mit der Einsicht, dass unser Wissen und unsere Urteilsbildung nie nur das Abbild neutraler Informationsbeschaffung sind, sondern eingebettet in hochgradig soziale und politische Situationen, die von vielschichtigen Machtverhältnissen und vorurteilsgeleiteten Stereotypen durchzogen sind. Dass uns diese Gedanken inzwischen nicht mehr ganz neu erscheinen, ist auch Frickers theoretischer Arbeit zu verdanken.Der Philosophin ging es von Anfang an darum, Ansätze feministischer Kritik in das eher konservative Feld der Erkenntnisphilosophie einzubringen und blinde Flecken in der Theoriebildung anzusprechen, wie Fricker im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt: «Es war […] meine eigene rastlose Enttäuschung von der Disziplin der Philosophie, die den Anstoss zu diesem Buch gab, sowie mein Bedürfnis, diese Enttäuschung zu verstehen: Ich wollte zeigen, dass es zumindest eine glaubwürdige Theorie faktischen Wissens gibt, bei der Fragen von Macht, von sozialer Identität und von Vorurteilen im Zentrum stehen.» (16)

An zahlreichen Beispielen, die Fricker oftmals aus literarischen Texten oder Filmszenen bezieht, die sie einem detektivischen Close Reading unterzieht, zeigt sie im ersten, längeren Teil des Buches auf, dass Zeugnisungerechtigkeit (testimonial injustice) dann auftritt, wenn einer Sprecherin aufgrund von Vorurteilen auf Seiten der Zuhörerin nicht so viel Glauben geschenkt wird, wie es ohne diese Vorurteile der Fall wäre – kurz, wenn «ein Glaubwürdigkeitsdefizit aufgrund von Identitätsvorurteilen» (27) auftritt. Dieses Beispiel erläutert Fricker anhand einer Szene aus dem Spielfilm «Der talentierte Mister Ripley», in der Herbert Greenleaf, der Vater des ermordeten Dickie, seine Beinahe-Schwiegertochter Marge mit einer abschätzigen Bemerkung zum Schweigen bringt, als diese ihren Verdacht äussert, dass der gemeinsame Freund Tom Ripley der Mörder sei: «Marge, es gibt weibliche Intuition, und es gibt Fakten.» (33)

Aus Frickers Perspektive stellt Greenleafs Reaktion für Marge einerseits eine Ungerechtigkeit dar, die sie als wissendes Subjekt betrifft und damit zugleich in ihrem Menschsein herabsetzt: «Jegliches epistemische Unrecht verletzt jemanden in seiner Eigenschaft als Wissenssubjekt und damit in einer Eigenschaft, die für den Wert des Menschen wesentlich ist.» (28) Sind solche Situationen der Zeugnisungerechtigkeit anhaltend und systematisch, untergraben sie nicht nur das Selbstbewusstsein einer Person, sondern stellen laut Fricker gar eine Form der Unterdrückung dar. (92) Neben dem umfassenden Schaden, der für die betroffene Person entsteht, stellt Zeugnisungerechtigkeit aber auch ein allgemeineres Problem beim Versuch kompetenter Wissensbildung und Wahrheitsfindung dar. Denn wenn gewisse epistemische Ressourcen aufgrund von Vorurteilen auf Seiten der Zuhörer:innen nicht in angemessener Weise Gehör finden und dadurch die wahrhaftige Einschätzung einer Situation verunmöglicht wird, entsteht daraus mitunter eine fatale Verzerrung von Tatsachen, in deren Folge sich bestehende Machtverhältnisse und Ungerechtigkeiten wiederum reproduzieren können.

Als Antwort auf diese ebenso komplexe wie alltägliche Gemengelage aus asymmetrisch verteilten Glaubwürdigkeitsökonomien und der grundsätzlichen «epistemischen Schuldbeladenheit» von Vorurteilen plädiert Fricker nicht primär für gesellschaftliche Transformation, sondern für die Entwicklung bestimmter epistemischer Tugenden wie der Zeugnissensibilität, die Zeugnisgerechtigkeit auf individueller Ebene herstellen sollen. Die Tugend der Zeugnisgerechtigkeit als «Fähigkeit, mittels derer der Einfluss identitätsbezogener Vorurteile auf das Glaubwürdigkeitsurteil der Zuhörerin bemerkt und korrigiert werden kann» (29), kann Zeugnisungerechtigkeit zwar nicht ganz abschaffen, sie aber immerhin deutlich eindämmen, so Frickers Hoffnung. 

Im zweiten, sehr viel kürzeren Teil des Buches erläutert Fricker, was sie unter der zweiten Sorte epistemischer Ungerechtigkeit, der «hermeneutischen Ungerechtigkeit» (hermeneutic injustice) versteht. Anders als die Zeugnisungerechtigkeit, die bestimmten Sprecher:innen aufgrund von Vorurteilen in spezifischen Situationen keine oder nur mangelhafte Glaubwürdigkeit zuerkennt, entsteht hermeneutische Ungerechtigkeit aufgrund einer «Lücke in den kollektiven hermeneutischen Ressourcen», einem «Mangel unserer geteilten Werkzeuge, mit denen wir gesellschaftliche Vollzüge deuten». (30) Mehrere Jahre vor Beginn der MeToo-Debatte erläutert Fricker in diesem Kapitel, wieso gerade der Fall von sexueller Belästigung lange Zeit von betroffenen Personen nicht erkannt und schon gar nicht sinnhaft gedeutet und als Belästigung benannt werden konnte – und als Folge davon auch nicht kritisiert und verurteilt werden konnte, weil es schlicht und einfach kein kollektives Bewusstsein von dieser Form des Unrechts gab. Aus solchen «hermeneutischen Lücken» (218) entsteht aber offensichtlich nicht für alle das gleiche epistemische Unrecht: vielmehr ermöglicht hermeneutische Ungerechtigkeit für einige Personengruppen einen strukturellen Vorteil und Machtzuwachs, während sie andere Personen (zusätzlich) marginalisiert und entmachtet; sie im Verstehen ihrer Erfahrungen einschränkt und schlimmstenfalls zu einer vollkommenen Ohnmacht gegenüber der eigenen Lebenssituation führt.

Auch wenn die hermeneutische Ungerechtigkeit nicht von Einzelpersonen begangen wird, tritt sie in der Regel in Gesprächen zwischen Einzelpersonen zutage. Die Tugend der hermeneutischen Gerechtigkeit, die Fricker hierfür in Anschlag bringt, setzt demnach auch in diesen Situationen an und erfordert eine «proaktive und gesellschaftliche bewusstere Art des Zuhörens» (234), in der das, was gesagt wird, ebenso wichtig ist wie das, was nicht oder nur undeutlich gesagt werden kann. Und auch wenn eine solch ethisch-intellektuelle Tugend zunächst nur in einzelnen Sprechsituationen zum Einsatz käme, könne sie auf lange Sicht zu gesellschaftlichem und politischem Wandel beitragen, der auf die Abschaffung bestimmter hermeneutischer Ungerechtigkeiten zielt.

Dass Fricker hier und an einigen anderen Stellen zumindest kurz auf die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen eingeht, die den weiteren Rahmen für die Ursachen und Wirkungsweisen epistemischer Ungerechtigkeit bilden, ist beruhigend. Trotz der ausführlichen Erläuterung der vorgeschlagen Tugenden bleibt es nämlich fraglich, wie sinnvoll es ist, so stark auf individuell tugendhafte Zuhörer:innen zu setzen, die mittels Achtsamkeit und Reflexion eigenständig in der Lage sein sollten, historisch-kulturell bedingte Vorurteilsstrukturen spontan zu hinterfragen und strukturelle Schieflagen oder gar hermeneutische Lücken durch bewussteres Zuhören einfach auszugleichen.

Es wäre daher wünschenswert gewesen, dass Fricker genauer ausgeführt hätte, was es für demokratische Institutionen, für Politik, Bildung, Medien und die Rechtsprechung bedeuten könnte, diesen epistemischen Ungerechtigkeiten und ihren individuellen wie kollektiven Schäden verstärkt Rechnung zu tragen, anstatt sich allein auf die Tugendhaftigkeit von Einzelpersonen zu fokussieren. Auch Frickers Gebrauch von Beispielen fällt nicht immer überzeugend aus, und wenn sie in der Einleitung davon schreibt, sie wolle verstehen, wie unser epistemisches Verhalten «sowohl rationaler als auch gerechter werden könnte» (26), kommen schon mal Zweifel auf, ob der Begriff der Rationalität in diesem Kontext wirklich so unbeschadet zu gebrauchen ist. Zudem mutet es seltsam an, dass im ganzen Buch das Wort «intersektional» kein einziges Mal auftaucht, obwohl Fricker viel davon schreibt, wie bestimmte (race, class- oder genderbezogene) Identitätskonstruktionen mit sozialen, epistemischen und materiellen Ungleichheiten zusammenwirken. Und dass das wichtige Thema der hermeneutischen Ungerechtigkeit gerade mal einen Fünftel der gesamten Buchlänge ausmacht, ist schade und nicht ganz nachvollziehbar.

Dennoch ist Frickers Buch eine beachtliche Leistung. Mit der Rede von Zeugnisungerechtigkeit, hermeneutischer Ungerechtigkeit und epistemischer Ungerechtigkeit prägt Fricker Begriffe, die im kritischen Diskurs selbst eine hermeneutische Lücke schliessen und die uns zeigen, wieso epistemisches und soziales Unrecht aufs Engste miteinander verbunden sind. Damit leistet Fricker zumindest auf der Ebene der Problemanalyse einen fundamentalen Beitrag sowohl zur Erkenntnisphilosophie als auch zu politischer Philosophie und Ethik, und nicht zuletzt zu gesellschaftlichen Debatten darüber, wer worüber sprechen kann; wem wir aus welchen Gründen nicht nur zuzuhören, sondern auch zu glauben bereit sind – und wem wir diese grundlegende Form der Anerkennung verweigern.

Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des WIssens. C. H. Beck, München 2023.

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Sinthujan Varatharajah: an alle orte, die hinter uns liegen

Eine Rezension von Jonas Rippstein

In an alle orte, die hinter uns liegen geht Sinthujan Varatharajah der Frage nach, ob der Kolonialismus jemals zu einem Ende kam. Die schnelle Antwort: Nein. Scharfsinnig erkundet der*die Autor*in einerseits die eigene Familiengeschichte, die mit einer prägenden Fluchterfahrung verbunden ist und andererseits die Kolonialgeschichte und die mit ihr verbundenen eurozentristischen Wahrnehmungen und Denkweisen, welche aufgedeckt, ins Wanken gebracht und neugedacht werden, um den Leser*innen anschaulich aufzuzeigen, dass die Spuren des Kolonialismus bis in die Gegenwart reichen.  

Schon auf den ersten Seiten zeigt sich eine Besonderheit des Buches: Es erscheint nicht wirklich wie ein reines Sachbuch, auch nicht wie ein Roman, manchmal jedoch wie ein Tagebuch, obschon es dies auch nicht sein möchte. Dies hängt unter anderem mit dem Anfang (und dem Ende) zusammen: Im Prolog beschriebt Varatharajah in einer poetischen, pointierten Sprache seine*ihre Gedanken während einer U-Bahn-Fahrt in Berlin. Es kommt zu einer Gedankenkaskade über das eigene Sein der*des Autors*in, die wie folgt beginnt: „Wenn ich denke, dann bewege ich. Wenn ich denke, dann erinnere ich. Und gleichzeitig vergesse ich. Ich denke, um zu bewegen, um zu erinnern, um zu vergessen. Ich denke, um mich zu bewegen, weg von diesem Ort, von diesem Leben.“ Die Erzählstimme reflektiert im Prolog über unzählige Themen und verwebt diese mit autobiographischen Erfahrungen und der Weltgeschichte: Hieraus entsteht eine Schreibpraxis, die sich durch das ganze Werk zieht. Es ist die Rede von kolonialer Gewalt, von der westlichen Wahrnehmung der Welt, vom Krieg gegen Tiere oder von Tempelglocken, die von ihm*ihr gehört und zu einer Metapher für die Verbrechen der Europäer*innen werden: „Ich denke an das Echo dieser Glocken, das bis in unsere Gegenwart nachhallt. / Sie läuten noch immer.“

Dieses Echo, dieses Läuten der Vergangenheit bis in die Gegenwart, hört Varatharajah unzählige Male in feinsinnigen Beobachtungen. Gleich zu Beginn, im Kapitel „zur kamera“, zeigt der*die Autor*in auf, wie die Kamera als vermeintlich harmlose Apparatur ihren Teil zur gewaltsamen Unterdrückung in den Kolonien beitrug. Dabei gelingt es Varatharajah mithilfe der Theorien unzähliger Vordenker*innen aufzuzeigen, wie durch die Fotokamera koloniale Gewalt ermöglicht, durchgesetzt und legitimiert wurde: „Auch wenn die Lebewesen, ob Menschen oder Tiere, beim Ablichten keinen offensichtlichen Schaden davontrugen, so wurde ihnen dennoch mit und in diesem Akt etwas unwiderruflich genommen. Auch wenn es nicht unbedingt ihr Leben war, so wurde ihr Anrecht auf ihr eigenes Abbild und damit ein Teil ihrer selbst genommen. Sie waren nach dem Ablichten gewissermaßen nicht mehr dieselben Menschen, die sie vor dem Auslösen der Kamera waren.“ Den Theorien Varatharajahs zufolge werden die Abgelichteten in diesem Kontext zu Bildern, die um die Welt reisen und sich in den Köpfen der Menschen festsetzen, unter anderem in Form von Stereotypen. Die Gewalt der Bilder sei anders als die Gewalt von Kanonen, obschon sie beide einen Schaden hinterlassen: Eine Waffe zerfleischt den Körper, die Kamera hingegen frisst sich in die Seele, und „[hinterlässt] leere Hüllen, die ihrer Wesen beraubt wurden.“

Nebst der Kritik an der Kolonialfotografie und dem damit verbunden eurozentristischen Blick erzählt der*die Autor*in eine Familiengeschichte, die mit dem Vater beginnt, der in den Achtzigerjahren aus Sri Lanka nach Deutschland flüchtet, nachdem anti-tamilische Ressentiments im Inselstaat entfacht werden und die singhalesische Regierung mit Gewalt gegen Tamil*innen vorgeht. Mit dabei hat dieser eine japanische Kamera, mit welcher er sein neues Leben mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern dokumentiert. Dies ist ein entscheidender Moment, denn nun wird die Macht des Visuellen umgedreht. Varatharajah schreibt hierzu über den eigenen Vater: „Mit der Kamera konnte er, der aus der Peripherie der Inselgeografie stammte, er, der vom Rande der Gesellschaft kam, sich selbst zentrieren und eine neue Geschichte schreiben. Für ihn und die Menschen in seinem unmittelbaren sozialen Umfeld fing damit eine neue Zeit an. Eine Zeit, in der ihre Erinnerungen nicht nur in Wörtern, Gedanken, Gefühlen und Prägungen am Körper weiterlebten, sondern auch als materielle Abbilder.“ Zentral für die Ausführungen Varatharajahs ist weiterhin ein Bild, das der Vater von der Mutter schoss, worauf sie von hinten vor einem Elefantengehege zu sehen ist. Hiervon ausgehend schreibt Varatharajah eine Kolonialgeschichte, die aufzeigt, wie die heutige europäische Gesellschaft mit ihrer eigenen gewaltsamen Vergangenheit verbunden ist. Es ist beispielsweise die Rede von Zoos, von innovativen Erfindungen oder von geografischen Namensgebungen. Varatharajah gelingt es, das Erzählte zu dekonstruieren und zu sezieren, um schliesslich eurozentristische Perspektiven aufzuspüren und sie den Leser*innen aufzuzeigen.

Das Buch endet mit einem Epilog, der im selben Stil wie der Prolog daherkommt. Die Gedankenkaskade geht weiter, und der*die Autor*in erkennt, dass das Denken, das Erinnern und das Vergessen wohl nie ein Ende finden werden. „Ich sehe nur meine eigenen Spuren“, erkennt Varatharajah abschliessend. Es ist ein Abschluss, der die Endlosigkeit der Thematik einfängt, und den Leser*innen abermals ins Bewusstsein ruft, dass die Beobachtung von (Kolonial-)Geschichte immer einer Spurensuche gleicht, die glücklicherweise in Büchern wie an alle orte, die hinter uns liegen eingefangen und thematisiert wird.

an alle orte, die hinter uns liegen ist ein starkes Buch, das mit einer gehaltvollen Kraft die Leser*innenschaft dazu zu bewegen vermag, die eigene Perspektive auf die Welt zu hinterfragen, seien es die grossen, geschichtlichen Zusammenhänge oder die Erzählungen von einfachen Dingen wie Alltagsgegenständen. Varatharajah lädt die Leser*innen zudem ohne Zwang und ohne dogmatisches Denken ein, seinem*ihrem Blick zu folgen. Wer das Buch nach dem Fertiglesen beiseite legt, kann erkennen, wie sich die eigene Sicht nach der Lektüre wandelt, wie sich Perspektiven verschieben, und die eigenen Spuren ersichtlich werden.  

Toni Morrison: Rezitativ

Zwei Mädchen, eines schwarz, eines weiss, aus schwierigen familiären Verhältnissen werden von der staatlichen Fürsorge für einige Monate in ein Kinderheim eingewiesen, in dem sonst hauptsächlich Waisenkinder sind. Sie werden in dasselbe Zimmer eingeteilt, lernen sich kennen und respektieren und – da sie sich von den anderen Kindern deutlich unterscheiden und wie nicht dazugehören – sie lernen zusammenzuhalten.

In ihrem weiteren Leben treffen sie sich mehrmals wieder, jedes Mal rein zufällig, es sind beliebige Zusammentreffen, ohne Bedeutung und nachfolgende Verpflichtung. Bei fast jeder Begegnung rückt die Erinnerung an ihre gemeinsame kurze Zeit im Kinderheim in den Mittelpunkt, und vor allem die Szene mit Maggie. An Maggie machen sie die Erfahrung vom ‚inneren Menschen‘: „[…] dass darinnen noch jemand war […]. (12) Diese Szene prägt ihre Begegnungen, ihr Leben und schliesslich ihre Haltung (ethos). Ihre Haltung einander gegenüber soll wieder jene nicht hinterfragbare Offenheit erreichen, die bei ihrer ersten Begegnung so grundlegend gewesen ist.

Das Rezitativ ist ein Sprechgesang, der Übergang von einer Arie zur nächsten, der Handlung ist oder Haltungen und Meinungen kundtut, ein Streitgespräch, das Spannung erzeugt und auf die Folter spannt. – Das Rezitativ ist weder Sprechen noch Singen, diese formale Unentschiedenheit wird für Toni Morrison’s Schreiben wesentlich.

Handelt es sich bei der Wahl um Werte und Vorstellungen, die eine Sache oder eine Person positiv oder negativ bestimmen oder charakterisieren (was bestimmt jemanden als ‚schwarz‘ oder ‚weiss‘?), so besteht bei der Entscheidung eine Freiheit, die im Falle dieser Geschichte die andere Person ohne Vorurteile anerkennt.

Das umfassend erhellende Nachwort von Zadie Smith betont, dass Toni Morrison’s Kunst des Schreibens in einer minutiösen Durcharbeitung ihres Tests bestehe, nichts dem Zufall überlassen werde und Reden und Beschreibungen auselaboriert seien. (48) Dann aber wird „Rezitativ“ zu einer Herausforderung an die Leserschaft, bei sich selbst Werte und Vorstellungen, sprich: Vorurteile offen zu legen und sich einzugestehen. Dieser Text ist ein kreatives und methodisches Experiment, mit den eigenen Vorurteilen aufzuräumen.

Toni Morrison: Rezitativ. Rowohlt, Hamburg 2023

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Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus

Eine Rezension von Julia Rüegger

Jeder Text ist präzise geschliffen wie eine Murmel, in deren Innenleben sich verschiedene Orte und Zeiten durchdringen; von der Kindheit der Grossmutter, die überleben musste, „während die anderen rundherum qualvoll starben“ über den tristen Alltag in der Sowjetzeit bis zur Majdan-Revolution 2013/14 und zur Gegenwart des Krieges, die dem Band eine traurige Aktualität verleiht. Zusammen spannen die Texte ein Netz vom früheren Ostgalizien über westukrainische Provinzen, nach Jalta ans Schwarze Meer und in die sibirischen Straflager, bevölkert von Vorfahrinnen und Zeitgenossen, unter denen sich so unterschiedliche Figuren wie der Zionist und Esperanto-Erfinder Lejzer Zamenhof und ein namenloser Ukrainer antreffen, der „für den Krieg zu alt [ist], für Demenz zu jung.“

Die Autorin dieser geschichtsträchtigen und oft tragischen Murmeln, Tanja Maljartschuk, wurde 1983 in Iwano-Frankiwsk in der Ukraine geboren; in derselben Stadt wie die Schriftsteller-Legende Juri Andruchowytsch. 2011 emigrierte sie nach Wien und veröffentlichte bisher die zwei vielgepriesenen Romane Blauwal der Erinnerung und Biografie eines zufälligen Wunders. Das 2022 erschienene Buch Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus versammelt nun 21 Texte, die die Autorin zwischen 2014 und 2022 geschrieben hat; in der Zeit zwischen der Annexion der Krim, dem (Euro-)Majdan-Aufstand und dem Beginn von Putins Angriffskrieg im Februar letzten Jahres. Ein Jahrzehnt, dessen Ereignishaftigkeit und Tragik für eine ganze Epoche ausreicht.

Wie in ihren Romanen eröffnen Maljartschuks Essays aus diesem zerrissenen Jahrzehnt eine Kartografie der ukrainischen Seele, ihrer Sehnsüchte und ihrer Traumata. Voller eindringlicher Bilder, persönlicher Anekdoten und scharfsinniger Reflexionen erzählt sie davon, was es bedeutet, wenn die Psyche eines Landes durch die historischen Umstände zu einem Borderline-Fall wird, und was es heisst, verstehen und erinnern zu wollen, was lange Zeit vor der eigenen Geburt geschehen und unter unzähligen Schichten von Terror und Verdrängung begraben ist. So lesen wir schon auf der ersten Seite: „Mein Urgrossvater hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, aber ich weiss nicht, gegen wen. Zwanzig Jahre später hat sein Sohn im Zweiten Weltkrieg gekämpft, aber ich weiss nicht, gegen wen.“ Ähnlich wie der ukrainisch-deutschen Autor*in Sasha Marianna Salzmann geht es nämlich auch Maljartschuk darum, sich von der Scham angesichts der eigenen Herkunftsgeschichte nicht ersticken zu lassen; jener Scham, die die Täter und ihre Nachfahr*innen ebenso befällt und lähmt wie die Opfer. So lautet eine der wiederkehrenden Fragen im Buch:  „Wie kann man der Generation, die in der Sowjetunion geboren und sozialisiert wurde, helfen, die eigenen Geschichten ohne Scham zu erzählen?“ – auf die sogleich die skeptische Nachfrage folgt, ob „wir diese Geschichten überhaupt hören [wollen]“.


Es gibt Texte, zum Beispiel „Erinnerungen an das Sinnliche“, die sich wie ein Fotoalbum mitsamt der Negative lesen. Auf wenigen Seiten lassen sie längst verstorbene Charaktere und vergangene Landschaften wiederauferstehen, bergen Knochen zerstörter jüdischer Grabstätten oder die buchstäblich hinter Fassaden verborgenen Fresken eines mittelalterlichen katholischen Klosters in Kyjiw, das von der russischen Kaiserin Katharina der Grossen aufgelöst und in ein Irrenhaus umfunktioniert wurde. Andere Texte bringen die Schrecken des Stalinismus ins Gedächtnis zurück und illustrieren Maljartschuks Einsicht, dass der Kommunismus entgegen aller Hoffnungen und Beteuerungen kaum ehrenhafte Heldengestalten hervorbrachte, sondern vor allem Menschen, die dazu gezwungen wurden, gewissenlos zu sein. So etwa, wenn sie im Text „Schlummernde Schande des Kommunismus“ an Hryhir Tjutjunnyk erinnert, einen Autor „rührender Erzählungen über Bauern und Kinder“, der zwar nicht zu den gerade mal dreissig Dissidenten des damaligen ukrainischen Literaturbetriebs gehörte, aber so bitterarm war, dass er seine Texte auf dem Fenstersims schreiben musste, und der sich eines Abends im Jahr 1980 in seiner Toilette erhängte. Er ist nur einer von vielen ukrainischen Literat*innen, an die sich heute kaum noch jemand erinnert.

Auch in der Gegenwart spürt Maljartschuk (west- und osteuropäische) Orte und Szenen auf, an denen die Wunden des 20. Jahrhunderts und seiner totalitären Systeme wie Heimsuchungen brennen. So gesteht die Autorin, die beim Zusammenbruch der Sowjetunion gerade mal neun Jahre alt war, dass sie zusammenzuckt, wenn sie in der Frankfurter Allee in Berlin die Spuren des Kommunismus auch ausserhalb der Ukraine entdeckt. Sie beschreibt den schmerzhaften Wunsch vieler Ukrainer*innen nach Zugehörigkeit zu Europa und ihre Verbitterung, als 2004 gleich zehn Länder, die sich grösstenteils im ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion befunden hatten – unter anderem Polen und Ungarn –, in die Europäische Union aufgenommen wurden, die Ukraine aber nicht. Und sie fragt, ob die Traumata, die für den heutigen Zustand der Ukraine verantwortlich sind, nicht eigentlich allgemeineuropäische Traumata sind und die Ukraine das Unterbewusstsein Westeuropas bildet.

Fast zwangsläufig kulminieren die immer wieder düster aufblitzenden Vorahnungen im kurzen Text „Anno Belli“, dem Text über den Kriegsausbruch im Februar vor einem Jahr, mit dem über Nacht eine neue Zeitrechnung begann: „Alles, was davor geschah, wird ausschliesslich als Vorkriegszeit bezeichnet, weit entfernt, in einem anderen Leben, in einer anderen Welt.“ Die Zäsur, die die Nacht der Invasion markiert, ist umso bitterer und bedrohlicher, da sie für die Autorin mit der Ahnung einhergeht, „dass das gerade Geschehene meine und die Zukunft meiner Landsleute für sehr lange bestimmen wird, dass wir, wenn wir es überleben, uns Jahrzehnte damit werden beschäftigen müssen.“

Dabei ist die Gegenwart des Krieges schwer genug auszuhalten, selbst aus der sicheren Distanz von Wien: Maljartschuk hält die Internetseite, auf der man alle Luftalarmausbrüche in Echtzeit verfolgen kann, nun konstant offen, und mitten in der Nacht schreibt ihr ihre Kindheitsfreundin Natalka SMS mit der Aufforderung, sofort und intensiv für ihren Ehemann an der Front zu beten. Derweil reist ihre Nichte Sofia mit dem Zug von Wien in die Ukraine, um ihren Vater zu besuchen, der es nicht übers Herz bringt, das Haus, an dem er sein Leben lang gebaut hat, zu verlassen, um sich selbst in Sicherheit zu bringen.

Kein Wunder, fragt sich Maljartschuk, wie sie in dieser Zeit noch Schriftstellerin sein kann, wie sie es anstellen könnte, schreibend „in dieser Realität bleiben zu dürfen“, in der ihre fast siebzigjährige Mutter nach einem Schutzbunker googelt, in der sie durch Österreich, Deutschland und die Schweiz fährt und an etwa fünfzig „Kriegsauftritte[n]“ teilnimmt, bis sie völlig ausgebrannt ist. Und in der sie dennoch weiterschreibt.

Die vielleicht beeindruckendste Leistung dieser Essays ist daher auch, dass sie beides zugleich schaffen: uns teilhaben zu lassen an der ukrainischen (und damit auch der europäischen) Geschichte, die abwechslungsweise stillsteht, rast, sich über Nacht verkehrt – und uns dennoch immer wieder ein kurzes Aufatmen zu verschaffen: wenn wir die Usambaraveilchen der Mutter der Autorin vor uns sehen, während im Baumarkt Flugblätter mit der Anleitung zum Packen eines Fluchtkoffers verteilt werden, oder wenn die Autorin zufällig herausfindet, dass viele der fremd klingenden Worte in der Sprache ihrer Eltern in Wirklichkeit jiddische Worte sind, die wie Schmuggelware einen Weg durch die Zeit gefunden haben, die so viele ihrer Sprecher*innen ausgelöscht hat.

Und so liegt, bei aller Furcht vor den vergangenen Zeiten, ihren Abgründen und Katastrophen, auch ein Schimmer Hoffnung darin, zurückzuschauen, zumindest für einen Moment wie den, als Maljartschuk im Text „Beten und Schimpfen“ an die Aufbruchszeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erinnert: Damals, als die kleine westukrainische Provinzstadt Iwano-Frankiwsk zu einem Mekka der ukrainischen Avantgarde-Literatur wurde, zu jenem Karneval, „der auf den Ruinen der Sowjetunion begonnen hatte und über die frisch unabhängigen und durchaus tristen Neunzigerjahre hinweg dauerte“, und deren Protagonist*innen, einschliesslich Andruchowytsch, sie Jahre später bei der Revolution der Würde auf dem Majdan wiedertrifft.

Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus. Kiepenheuer & Witsch 2022.

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Dieter Henrich: Furcht ist nicht in der Liebe

Die menschliche Liebe gründet im UnbedingtenZu Dieter Henrichs Furcht ist nicht in der Liebe

von Benedikt Koller

Seine letzte Schrift widmete Dieter Henrich der Liebe. In seiner philosophischen Auslegung eines Satzes des Evangelisten Johannes zeigt er, wie sich durch eine Analyse des Selbstbewusstseins ein rein rationales Verstehen menschlicher Liebe gewinnen lässt. Doch diese Liebe bleibt ein Geschenk, begründen lässt sie sich nicht – weil sie ihren Grund wie das Selbstbewusstsein im Unbedingten hat.

»Furcht ist nicht in der Liebe.« Diesen Satz aus dem ersten Brief des Johannes ließ der damals dreißigjährige Dieter Henrich 1957 in den Grabstein seiner verstorbenen Mutter meißeln. Seither hat die Sentenz den deutschen Philosophen nicht mehr losgelassen. Nun, 65 Jahre später und kurz vor seinem eigenen Tod am 17. Dezember 2022, ist eine Schrift erschienen, in der Henrich den Satz philosophisch auslegt. Es ist das letzte Buch dieses wirkmächtigen Denkers geworden.

In dem 70-seitigen Bändchen beleuchtet der christlich erzogene und theologisch versierte Henrich nicht bloß die Bedeutung des Satzes im Kontext von Johannes’ Gotteslehre. Vielmehr versucht er mittels eines philosophischen Verfahrens für den Satz eine Bedeutung zu erschließen, »die in allgemeiner menschlicher Erfahrung bewährbar ist«. Denn der Satz weise »auf eine Erfahrung hin, die in jeder Liebe […] gemacht werden kann«. Henrich will mit seiner Auslegung des Satzes also das Geheimnis menschlicher Liebeserfahrung ergründen, wohingegen Johannes’ Satz im christlichen Lehrzusammenhang primär als eine Aussage über die eigentümliche Kraft der Gottesliebe verstanden wird.

Henrichs Verfahren ist philosophisch, da es die Geltung des Satzes sola ratione und damit ohne den Rückgriff auf christliche Glaubensvoraussetzungen erweisen will. Denn letztere würden von Nicht-Gläubigen schlichtweg zurückgewiesen. Wer wie Henrich auch säkulare Menschen von der Evidenz des Satzes überzeugen möchte, dass in der Liebe keine Furcht sei, muss dies allein mit rationalen Argumenten zuwege bringen.

Nachdem er zunächst verschiedene Auslegungsmöglichkeiten der johanneischen Aussage anführt, deren Unvereinbarkeit aufzeigt und damit die »Komplexion der Problemlage« konzediert, legt Henrich »in der lockeren Form einer Skizze« seine eigene philosophische Betrachtung dieses höchst ausdeutungsfähigen Satzes aus dem Johannesevangelium dar.

Bezeugt nicht allein schon die Erfahrung liebender Menschen die Evidenz von Johannes’ Satz? In der Innigkeit zweier Liebender scheint die Furcht vor den Widerfahrnissen des Daseins einstweilen abwesend, die Sorge um die Selbsterhaltung – zumindest vorübergehend – in den Hintergrund gerückt. Einer der möglichen Einwände gegen die Furchtlosigkeit in der Liebe lautet darauf, dass doch gerade aus der Liebe selbst eine neue Furcht erwachse: die Furcht um die geliebte Person, die als verletzliches Wesen jederzeit den Gefährdungen des Lebens ausgesetzt bleibt. Henrich gibt zwar zu, dass vollständige Furchtfreiheit den Menschen nicht versprochen werden kann. Doch im Folgenden sollen »weiter ausgreifende philosophische Überlegungen ganz anderer Art« zeigen, dass »die Furchtlosigkeit in der Liebe« und also die menschliche Liebeserfahrung selbst von den vorgebrachten Einwänden gar nicht getroffen wird. Denn jene Einwände verkennen die Eigenart der Liebe und ihre Singularität unter den menschlichen Erfahrungen.

Nur: Wie lässt sich die Eigenart der menschlichen Liebeserfahrung adäquat bestimmen? Laut Henrich eben durch jene »Überlegungen ganz anderer Art«, die »der Philosophie als solcher zugänglich sind«. Henrich zufolge haben diese Überlegungen ihren Platz »im Fundierungsbereich der Ethik und damit zugleich in der Grenzregion der Vernunft, für die der Titel ›Metaphysik‹ umzuwidmen gewesen ist«. Und so plausibilisiert Henrich sodann mittels metaphysischer Überlegungen, dass »die Liebe auch im Forum der endlichen Rationalität etwas ganz anderes bedeuten kann als ein intensives Gefühl und das Grundmuster einer sozialen Verhaltensweise der Menschen«. Wie sonst müssen wir die menschliche Liebe also verstehen?

Das Besondere an Henrichs metaphysischem Argumentationsgang besteht nun darin, dass er zeigt, wie sich ein rein rationales Verstehen der menschlichen Liebeserfahrung aus einer Analyse des Selbstbewusstseins gewinnen lässt. Denn für jegliches Verstehen – und somit auch für das Verstehen der menschlichen Liebeserfahrung – sei das Selbstbewusstsein »der unhintergehbare Ausgangspunkt«, insofern endliche Subjekte, die wir Menschen sind, allererst durch ihr Selbstbewusstsein ausgezeichnet sind. Henrich fasst dieses Wissen von sich selbst, das jeglichem Wissen von Gehalten vorausgesetzt ist, als eine gegebene Faktizität auf – im Sinne einer eingesetzten Aktivität, über die endliche Subjekte immer schon verfügen. Das seiner selbst bewusste Subjekt ist somit weder der Urheber seines Selbstbewusstseins, noch entsteht dieses erst im Umgang mit anderen Subjekten. Und da dieses Wissen von sich selbst eine Faktizität darstellt, die von nirgends hergeleitet werden kann, vermag sich das selbstbewusste Subjekt seinen eigenen Ursprung oder Grund auch nicht durchsichtig zu machen. Letzterer ist ihm schlechthin vorausgesetzt. Oder in anderen Worten: Das seiner selbst bewusste Subjekt ist endlich, weil es seinen Grund in einem anderen hat – dem Unbedingten. Eben diese Eigenschaft, nicht sein eigener Grund zu sein und diesen darum auch nicht mit den Mitteln des (endlichen) Bewusstseins verstehen zu können, ist denn auch das Kennzeichen von Endlichkeit.

Das solcherart endliche Subjekt ist sich in seiner eingesetzten Aktivität seiner bewusst, bleibt jedoch nicht allein auf sich bezogen. Es ist überdies dazu disponiert, ein Bewusstsein von Gehalten auszuprägen, wobei dem Selbstbewusstsein hierbei eine Orientierungsfunktion zukommt. Anders ausgedrückt: Endliche Subjekte gehen auf Sachgehalte in der Welt und sind damit offen für andere ihrer selbst bewusste Subjekte, mit denen sie Umgang pflegen. So führen Menschen ein bewusstes Leben, deren Subjekt sie sind. In ihrem Lebensvollzug navigiert ihr Selbstbewusstsein sie durch die von ihnen bewusst erlebte Welt und befestigt sie in ihrer Subjektstellung.

Die Verfassung seines Selbstbewusstseins, nämlich dass es sich über seinen Ursprung notwendig unsicher sein muss, impliziert allerdings, dass ein endliches Subjekt sich auch seiner Orientierung im bewussten Leben nie vollends gewiss sein kann. Kurzum: Menschen bleiben stets unsicher und gefährdet. Doch ihre Offenheit Sachgehalten und Subjekten gegenüber ermöglicht es ihnen, mit anderen Personen eine vertiefte Verbindung einzugehen, die durch gegenseitiges Interesse, wechselseitige Hilfe, Zuwendung und die Anerkennung des Gegenübers als Subjekt seiner eigenen Lebensführung geprägt ist. Eine solche zur Lebensform sich ausprägende Verbindung zwischen Menschen nennt Henrich »reife Liebe«. In ihr erfahren Liebende zusammen eine »Befestigung ihrer Subjektstellung« und ihrer »Weise der Bemühung um Orientierung«. Henrich schreibt: »Die Liebe […] hat die singuläre Eigenschaft, dass die Sorgen des Alltags und vor der Zukunft ihre bedrängende Realität verlieren.« In ihr bilden Liebende ein gemeinsames »Bewusstsein eines Erhobenseins aus alltäglicher Bedrohung und von einem Geschehen, das in einem Unbedingten fundiert ist.«

Selbstredend bleiben endliche Subjekte auch in reifer Liebe verletzliche Menschen und als solche stets den Unwägbarkeiten des Lebens ausgesetzt. Doch so, wie das Selbstbewusstsein den Menschen eine Orientierung im bewussten Leben ermöglicht und sie so in ihrem Selbstsein stabilisiert, so befestigt auch die Liebeserfahrung zweier oder mehrerer Menschen ihre Subjektstellung. Denn in reifer Liebe bestätigen und anerkennen sich Menschen als das, was sie sind: selbstbewusste endliche Subjekte, die nicht ihr eigener Grund sind. Dieses wechselseitige Anerkennungsgeschehen erfahren sie gleichsam als eine »Verankerung« ihres notwendig unsicheren Selbst, indem sie gemeinsam die Überzeugung machen, »in einem Grund, der unverbrüchlich, weil Unbedingtem zugehörig, verwurzelt zu sein.« Kurzum: Sie erfahren die Liebe selber als ein Geschehen des Unbedingten. Henrich schreibt sogar, dass das Unbedingte als Grund im Vollzug der Endlichkeit (als Liebesgeschehen) wirklich wird.

Die Furchtlosigkeit in der Liebe herrscht insofern, als Menschen in dieser eigenartigsten aller humanen Erfahrungen gewahr werden, dass die Liebe ebenso ein vom Unbedingten herrührendes Geschenk (ein Gegebenes) ist wie das unhintergehbare Selbstbewusstsein, das sie als endliche Subjekte grundlegend konstituiert. Daher zeitige die menschliche Liebeserfahrung denn auch das Gefühl der Dankbarkeit, wie Henrich schreibt. So erfahren Menschen in der reifen Liebe ihre Zugehörigkeit zum Unbedingten, das ihnen zwar nicht durchsichtig werden kann, und doch sowohl der annehmbare Grund ihres Selbstbewusstseins als auch ihrer Liebe ist.

Zur Person:

Das für Subjekte fundamentale Selbstbewusstsein war so etwas wie Dieter Henrichs Lebensthema. Der 1927 in Marburg geborene und später in Berlin, Heidelberg und München lehrende Philosophie-Professor avancierte nach seiner Habilitation 1956 über Kants praktische Philosophie schnell zu einem der einflussreichsten Interpreten der klassischen deutschen Philosophie. Er, der trotz intensivster Beschäftigung mit Hegels Systemphilosophie zeit seines Lebens Kantianer geblieben ist, nutzte das metaphysische Denken selbst dann noch zur ständigen Neuaneignung und -interpretation der nachkantischen Philosophie, als Habermas’ Diktum von der Notwendigkeit »nachmetaphysischen Denkens« längst zur vorherrschenden akademischen Praxis geworden war. Ob er nun über Kants Sittenlehre (Selbstbewusstsein und Sittlichkeit, 1956) oder Fichtes ursprüngliche Einsicht (1967) schrieb, die Gemeinsamkeiten im Denken Hölderlins und Hegels herausstellte (Hegel im Kontext, 1971; Der Grund im Bewusstsein, 1992) oder die Summe seiner Theorie der Subjektivität zog (Denken und Selbstsein, 2007), stets suchte er nach dem Grund von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, von Subjektivität und Wissen. Dabei verdeutlichte er immer wieder von Neuem, dass diese Grundbegriffe der menschlichen Erkenntnis ihren Grund nicht in einem Endlichen haben können, sondern im Unbedingten, dem Absoluten wurzeln. Und so bleibt der am 17. Dezember 2022 im Alter von 95 Jahren verstorbene Dieter Henrich als einer von wenigen großen metaphysischen Denkern in einer angeblich nachmetaphysischen Welt in Erinnerung.

Dieter Henrich: Furcht ist nicht in der Liebe. Philosophische Betrachtungen zu einem Satz des Evangelisten Johannes. Klostermann Verlag: Frankfurt am Main 2022.

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Ingeborg Bachmann und Max Frisch: Der Briefwechsel

«Wir haben es nicht gut gemacht.»

Am 21. November ist er erschienen – der von der literarischen Öffentlichkeit lange erwartete Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Auf über 1000 Seiten erhalten wir Einblick in die private Korrespondenz der beiden Sprachvirtuos*innen. Es ist eine der berühmtesten Liebesgeschichten der deutschsprachigen Literatur.

Ihre erste Begegnung und sogleich auch der Beginn ihrer Liebesbeziehung fand im Juli 1958 in Paris statt, es kam zu Episoden des Zusammenlebens in Zürich, in Uetikon am See, in Rom. Auf das Krisenjahr 1959 folgte eine offene Beziehung. Max Frisch wünschte sich zweitweise ein Bekenntnis schwarz auf weiss, eine Ehe; Ingeborg Bachmann schrieb, sie wolle „einfach leben in einer Wolke von Zärtlichkeit“.

Das fragmentarische Bild der Beziehung zwischen Bachmann und Frisch, das sich beim Lesen der umfangreichen, aber nicht vollständigen Sammlung an Briefen ergibt, zeigt eine abgründige Liebesgeschichte mit vielen Kipp- und Wendepunkten sowie zahlreichen Nebenfiguren. Es ist ein ständiges Pendeln zwischen Sehnsucht und Vorwurf, zwischen vehementer Liebesbekundung und kühler Distanz. Zwischen Zugewandtheit, Zuneigung und Zärtlichkeit und kleinen Sticheleien, die weh tun und immer mehr zu offenen Verletzungen werden.

Zu Beginn des Jahres 1964 kam es zum endgültigen Bruch, Ingeborg Bachmann forderte Max Frisch dazu auf, ihr alle an ihn gerichteten Briefe zurückzugeben. Ihre Bitte wurde nicht erfüllt. Max Frisch versicherte ihr jedoch, vor einer Publikation der Korrespondenz brauche sie sich nicht zu fürchten.

Knapp 60 Jahre später kommt es nun zur Veröffentlichung. Ist das okay? Die 1973 verstorbene Ingeborg Bachmann hätte die Frage damals mit „nein“ beantwortet. Ihre Geschwister gaben jedoch nun das Einverständnis und die von Max Frisch testamentarisch festgelegte 20-jährige Sperrfrist lief bereits 2011 ab. Dürfen wir diese sehr privaten Briefe lesen? Es bleibt ein gewisses Dilemma. Auf jeden Fall ist zu wünschen, dass die Leser*innen auf vorschnelles Urteilen verzichten und diesen Briefwechsel möglichst achtsam und vertrauensvoll lesen.

Die Edition des Briefwechsels zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch ist zugleich Teil der Ingeborg-Bachmann-Gesamtausgabe. Den Titel liefert ein Zitat von Max Frisch. Entstanden ist die Publikation als Kooperation zwischen dem Max-Frisch-Archiv Zürich und der Ingeborg-Bachmann-Forschungsstelle im Literaturarchiv Salzburg. Herausgeber*innen sind Hans Höller, Renate Langer, Thomas Strässle und Barbara Wiedemann.

Wir empfehlen sehr die ausführliche Rezension, die der Literaturkritiker Daniel Graf für die Zeitschrift „Republik“ geschrieben hat.

Thomas Stangl, Anne Weber: Über gute und böse Literatur

Eine Rezension von Julia Rüegger

„Warum ist gute – grosse – Literatur […] oft näher an der schlechten, misslungenen als an der soliden, perfekten, routinierten?“ S. 5

Welche Risiken geht man ein, wenn man über Figuren schreibt, die tatsächlich existiert haben?

Gibt es Geschichten, die nichts verfälschen?

Was hat „rücksichtslose Personenbearbeitung“ mit „Lebendigschreiben“ zu tun? S. 154

Beginnt das Fälschen schon beim Konstruieren eines Textes?

„Kann es Literatur geben, die naiv gelesen schlecht ist und raffiniert gelesen gut?“ S. 31

„Ist es nicht schrecklich, einen Schriftsteller zum Kind, Bruder oder Ex-Mann zu haben und von ihm in einen Roman gesteckt zu werden? “ S. 76

„Ist es […] überhaupt wünschenswert, erzählt zu werden, möchte ich der Gegenstand einer Biografie sein?“ S. 78

Gibt es eine Moral des Verschweigens?

„Was muss die Fiktion können, damit sie nicht enttäuscht, weniger ist als die Wirklichkeit, sondern mehr?“ S. 150

Und kann nicht auch die moralische Haltung eines Autors, einer Autorin zur Eitelkeit verkommen?

Diese und viele weitere tiefschürfende Fragen werfen Thomas Stangl und Anne Weber, zwei deutschsprachige Autor:innen, in ihrer Emailkorrespondenz auf. Beide wurden in den 1960er-Jahren geboren und setzen sich durch die Stoff- und Perspektivenwahl ihrer Werke regelmässig ethischen wie auch ästhetischen Herausforderungen aus. Zwischen 2014 und 2020 haben sie sich in zwei separaten Mailwechseln mit den Grenzgängen ihres Schreibens auseinandergesetzt und das weite, aber auch diffuse Feld zwischen Aufrichtigkeit und Schamlosigkeit ausgelotet.

Während der erste, kürzere Mailwechsel sich um die eher klassische Frage nach Kriterien für gute Literatur und deren moralischen Unterbau dreht, liegt der Schwerpunkt im zweiten Mailwechsel auf dem Umgang mit literarischen Figuren. Genauer: auf dem Umgang mit Figuren, wenn diese auf reale Personen zurückgehen, die entweder – wie bei den Expeditionsreisenden in Stangls Roman „Der einzige Ort“ – seit langer Zeit tot sind, oder – wie bei der von Anne Weber in „Annette, ein Heldinnenepos“ porträtierten Résistance-Kämpferin Anne Beaumanoir – noch leben. Dass aus dieser Betrachtung der eigenen Arbeiten keine Nabelschau erwächst, hat auch damit zu tun, dass Stangl und Weber eine Reihe anderer Autor:innen in ihre Reflexion miteinbeziehen und ihre Lektüren von Pierre Michon und Marguerite Duras, Jonathan Littell und Peter Handke, Franz Kafka und Ursula Krechel kontrovers verhandeln. 

Wer aufgrund des Email-Genres einen süffigen Ton erwartet, wird vielleicht enttäuscht oder ratlos sein: Man sieht es dem Text nicht sofort an, dass er es vor allem als Fragenkatalog in sich hat. So gerät das Zwiegespräch zwischendurch etwas verkopft. Dennoch stecken die beiden Korrespondenzen voller starker und origineller Einsichten, gerade auch wenn das Gespräch aktuelle Themen wie Identitätspolitik oder Autofiktion berührt, sich diesen aber aus einem ungewohnten Winkel nähert. Am spannendsten und schönsten wird die Lektüre jedoch da, wo Stangl und Weber aus dem manchmal etwas zu rigide verfolgten selbstauferlegten Fragekatalog ausbrechen: da, wo sie einander widersprechen; wo sie zugeben, dass ihre eigenen Positionen immer wieder ins Wanken geraten; sie aber zugleich sehr präzise Worte finden, um all die Spannungen nachzuzeichnen, die den Schreibprozess zwischen künstlerischem Risiko und ethischem Anspruch ausmachen. Oder auch da, wo sie sich allen Zweifeln zum Trotz zu (vorläufigen) Bekenntnissen hinreissen lassen, die dann zum Beispiel so klingen:

„[…] dass die Form ihr Eigenleben hat, macht nicht nur gute Literatur aus, es macht auch jede Literatur angreifbar.“ S. 33

– Letzteres gilt wohl auch für diese im besten Sinne unruhig bleibende Korrespondenz.

Thomas Stangl, Anne Weber: Über gute und böse Literatur. Korrespondenz über das Schreiben. Matthes & Seitz 2022.

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Felix Philipp Ingold

Anlässlich seines 80. Geburtstags haben wir eine Auswahl an Büchern des vielfach ausgezeichneten Autoren, Publizisten und Übersetzers Felix Philipp Ingold zusammengestellt, der seinerzeit in Basel studiert hatte.

Auch sein neuestes Werk, der Essayband «Denken im Abseits» ist in der Buchhandlung Labyrinth eingetroffen. Gerne teilen wir hier unsere Rezension mit Ihnen:

Felix Philipp Ingold: Denken im Abseits. Privatphilosophien der Moderne. Klagenfurt und Graz: Ritter, 2022.

Felix Philipp Ingold hat eine Anthologie vorgelegt mit etwa zwei Dutzend Portraits von Philosophen, die ausserhalb der Universität als «Selbstdenker» eine eigene Philosophie entwickelt haben. «Privat» heisst hier unbeugsam und eigensinnig, unabhängig von der «schul- und traditionsbildenden Grossmacht der klassischen Philosophie», dabei aber durchaus auf Veröffentlichung zielend. Die Autoren müssen sich nicht unbedingt selber als Philosophen bezeichnet haben, sondern mit den letzten Fragen umgegangen sein, wie etwa Franz Hohler, Hugo Ball und Edmond Jabès. Darüber hinaus sind die meisten der Vorgestellten weitgehend unbekannt oder vergessen; wir begegnen also nicht zum wiederholten Mal Nietzsche oder Blanchot, Cioran oder Walter Benjamin, sondern Benjamin Fondane, Anatol Rapoport, Albert O. Hirschmann und dem famosen Manlio Sgalambro. Am ehesten kennt man Siegfried Kracauer, Fritz Mauthner und Michail Bachtin – aber der Bruder des letzteren, Nicholas Bakhtin, ist unbekannt geblieben.  

Das Buch wird eingeleitet von einem ausführlichen Vorwort, das die Ziele und Grenzen der Unternehmung erläutert. Dort wird auch begründet, warum neben all den Männern keine einzige Autorin präsentiert wird. Das Ganze ist die Prosa eines nun achtzigjährigen Lyrikers, Romanciers und Philologen. Sie ist ebenso dicht wie klar, nie überladen, sondern bleibt durchgängig – sit venia verbo – süffig.

Die Essays sind zwischen zehn und zwanzig Seiten lang und werden jeweils mit einer schwarzweissen Portraitphotographie eröffnet; sie «sollen die Problem- und Formenvielfalt selbsttätigen Philosophierens  vor Augen führen» und «sind so angelegt, dass Biographie und Werk der Autoren in konsequenter Engführung dargestellt und in ihrer jeweils spezifischen Wechselbeziehung erhellt werden». Das gelingt in vollem Umfang. Schlüsselstellen werden ausführlich zitiert und präzise kommentiert, historische Kontexte – immer wieder die grausamen Wirren der Weltkriege – werden aufgerufen, Beziehungen zu anderen Autoren und Künstlern genannt, und dem etwas kleiner gedruckten Block mit bibliographischen Hinweisen jeweils am Ende der Stücke ist zu entnehmen, dass Ingold zu manchen dieser Autoren bereits vor Jahrzehnten wissenschaftlich publiziert hat. Also wird aus der Fülle der Werkkenntnis heraus immer auch interpretiert, präzise spekuliert und schlussendlich wohlbegründet gewürdigt – und manchmal auch lehrreich geurteilt. Ingold findet zuverlässig eine Perspektive, aus der auch noch so Abseitiges fruchtbar betrachtet werden kann. 

Die Essays sind zwischen zehn und zwanzig Seiten lang und werden jeweils mit einer schwarzweissen Portraitphotographie eröffnet; sie «sollen die Problem- und Formenvielfalt selbsttätigen Philosophierens  vor Augen führen» und «sind so angelegt, dass Biographie und Werk der Autoren in konsequenter Engführung dargestellt und in ihrer jeweils spezifischen Wechselbeziehung erhellt werden». Das gelingt in vollem Umfang. Schlüsselstellen werden ausführlich zitiert und präzise kommentiert, historische Kontexte – immer wieder die grausamen Wirren der Weltkriege – werden aufgerufen, Beziehungen zu anderen Autoren und Künstlern genannt, und dem etwas kleiner gedruckten Block mit bibliographischen Hinweisen jeweils am Ende der Stücke ist zu entnehmen, dass Ingold zu manchen dieser Autoren bereits vor Jahrzehnten wissenschaftlich publiziert hat.

Also wird aus der Fülle der Werkkenntnis heraus immer auch interpretiert, präzise spekuliert und schlussendlich wohlbegründet gewürdigt – und manchmal auch lehrreich geurteilt. Ingold findet zuverlässig eine Perspektive, aus der auch noch so Abseitiges fruchtbar betrachtet werden kann. 

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Viele andere Werke von Felix Philipp Ingold warten im hinteren Schaufenster des Labyrinths auf Leser*innenschaft.

Amia Srinivasan „Das Recht auf Sex“

Eine Rezension von Julia Rüegger

Eine derzeit vielbeachtete Neuerscheinung ist „Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert“ der 1984 geborenen Philosophin Amia Srinivasan. Seit 2020 hat Srinivasan als bisher jüngste Person, erste Frau und erste nicht-weisse Person den renommierten Chichele-Lehrstuhl für Politik- und Gesellschaftstheorie an der Oxford University inne. Die Essaysammlung „Das Recht auf Sex“ ist ihr Debüt – und dafür, dass Srinivasan erst relativ spät zur feministischen Theorie gefunden hat, eine Textsammlung, die es knochentief in sich hat.

Obwohl Titel und besonders Untertitel des Buches grosse Erwartungen wecken, geht es inhaltlich (zum Glück) nicht um den Zehn-Punkte-Plan für einen zukünftigen Feminismus, sondern um eine hellwache und sehr kluge Bestandsaufnahme aktueller feministischer Debatten, deren Prägung durch verschiedene Schulen und historische Umstände sowie um deren kritische Revision heute. Dabei widmet sich Srinivasan mit Vorliebe Themen, die Feminist*innen seit jeher spalten und gesellschaftlich polarisieren: zum Beispiel der Pornografie und der Frage nach der Kriminalisierung oder Legalisierung von Prostitution. Dabei zeigt sie auf, wieso gerade diese alten Streitthemen noch immer von Gewicht sind: nicht obwohl, sondern weil es auf sie keine leichten Antworten gibt. Aber auch neuerer Phänome wie der rassistischen, frauen- und transfeindlichen Incel-Bewegung und der fortgeschriebenen Rassifizierung in Dating-Apps nimmt sich Srinivasan in ihrer ganzen Abgründigkeit an und wird nicht müde, auf die Paradoxien hinzuweisen, die sich bei genauerem Hinschauen immer schmerzlicher zeigen.  

So fragt Srinivasan im Essay „Die Politik des Begehrens“ danach, wie politisch geformt unser Begehren ist, und ob es wirklich emanzipiert ist, individuelles Begehren aus einer liberalen Haltung heraus als rein persönliche Angelegenheit zu verstehen, oder ob es nicht doch darum gehen könnte und sollte, das eigene Begehren einer politischen Kritik zu unterziehen um nicht blind die herrschenden Begehrensnormen zu reproduzieren.

Einem ähnlich komplexen Thema widmet sich der Text „Warum man nicht mit seinen Studierenden schlafen sollte“, in dem Srinivasan Einblick gibt in die teils bizarren, teils haarsträubenden Debatten darüber, ob akademische Lehre erotisch sein darf (oder sogar soll) und ob sexuelle Handlungen zwischen Lehrenden und Studierenden verboten gehören oder nicht. Eine Frage, die besonders im US-amerikanischen Sprachraum, wo in den letzten Jahrzehnten zunehmend gesetzliche Regelungen etabliert wurden, von grosser Brisanz ist. Auch hier weicht Srinivasan der Komplexität des Phänomens nicht aus, seziert vielmehr die verschiedenen Machtinteressen, ideologischen Vereinnahmungen und problematischen Freiheitsverständnisse, die sich in ihm niederschlagen – und zeigt auf, warum auch ein einvernehmliches Verhältnis systematisch Schäden anrichten kann, besonders zu Lasten von (nicht-weissen) Frauen*.

Im Essay „Sex, Karzeralismus, Kapitalismus“ schliesslich zeigt Srinivasan auf, wie oft gesetzliche Massnahmen zum Verbot oder zur Einschränkung von Prostitution gerade jenen Sexarbeiter*innen am meisten schaden, die aufgrund ihrer Armut, ihrer Hautfarbe oder ihres Aufenthaltsstatus ohnehin massiver Diskriminierung und existenzieller Bedrohung ausgesetzt sind.

Es handelt sich bei diesen Essays also nicht um eine spritzige popfeministische Lektüre, die mal eben so nebenbei gelesen und verdaut werden kann. Und das liegt nicht darin begründet, dass Srinivasan umständlich oder verklausuliert schreiben würde, sondern eben darin, dass sich die Essays jene Zonen auf dem feministischen Kampfplatz vorknöpfen, die unangenehm, verworren, moralisch höchst aufgeladen und politisch (seit Jahrzehnten) umstritten sind. Zudem basieren die Essays, die von Srinivasans enormer Belesenheit in feministischer Theoriebildung zeugen, auf einer intensiven Recherche, die historische Argumentationslinien und Narrative ebenso aufgreift wie aktuelle Zahlen und Studien.

Nach der Lektüre brummt einer*m der Kopf, und auf die Frage, wie ein reflektierter, progressiver und intersektionaler Feminismus im 21. Jahrhundert aussehen könnte, hat man keine klare Antwort erhalten, sondern vielmehr Orientierungshilfen dafür, in welche Richtung es weiter zu arbeiten, zu denken, lehren, lieben und kämpfen gilt, um den Weg zu mehr Gleichberechtigung für alle Menschen zu bereiten (und welche Fallstricke dabei zu vermeiden sind). Dies ist, angesichts der Komplexität der behandelten Themen, schon ein grosser Verdienst – und zeugt insbesondere auch von Srinivasans Befund, dass „eine wirklich inkludierende Politik […] eine unbequeme Politik ohne Geborgenheit [ist].“

Amia Srinivasan: Das Recht auf Sex. Feminismus im 21. Jahrhundert
Klett-Cotta Verlag 2022

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Ibrahima Balde, Amets Arzallus „Kleiner Bruder“

Eine Rezension von Rahel Locher aus der Wochenzeitung WOZ

Reise gelungen, Suche missglückt

Nach zwei Monaten in der libyschen Hafenstadt Sabrata hat Ibrahima noch immer keine Spur seines kleinen Bruders Alhassane gefunden. Niemand scheint diesen im Lager von Baba Hassan gesehen zu haben. Dabei hatte Alhassane beim letzten Telefongespräch erzählt, er warte dort auf die Gelegenheit, das Meer zu überqueren. Baba Hassan ist eines der Flüchtlingslager an der libyschen Küste, wo Hunderte Menschen darauf warten, ein «Programm» zu kaufen – die riskante Überfahrt im Schlauchboot auf die 300 Kilometer entfernte italienische Insel Lampedusa.

Ibrahima hat innerlich bereits aufgegeben, als er auf dem Rückweg von der Moschee die Wahrheit erfährt, die ihm lange niemand zu sagen wagte: Alhassane hat «naufrage» erlitten – das überfüllte Boot ist auf dem Meer gekentert. Zurück im Lager legt sich Ibrahima auf ein paar Kartons, schlägt erst auf sie ein – und beginnt dann, die schreckliche Nachricht anzuzweifeln. 144 Menschen seien an Bord gewesen. Aber das kann nicht sein, so viele Menschen passen auf kein Schlauchboot. Doch als er nachfragt, heisst es: «In Libyen passen auch 180 Menschen auf ein Schlauchboot, ça c’est tout à fait normal.»

Lieber nicht im Dunkeln erzählen

Im Buch «Kleiner Bruder» erzählt der 1994 im westafrikanischen Guinea geborene Ibrahima Balde seine Lebensgeschichte. Er beschreibt das Aufwachsen in Guinea, wie er sich nach dem Tod des Vaters als ältestes männliches Familienmitglied verantwortlich für den Bruder fühlt, selbst aber nicht im Dorf bleiben kann und deswegen von Alhassanes Aufbruch erst einige Wochen später erfährt. Im Hauptteil des Buchs schildert er die Erlebnisse an den verschiedenen Stationen auf der Route über Mali und Algerien nach Libyen und benennt in einer einfachen, direkten Sprache den Schrecken einer Reise, die so viele junge Menschen aus Westafrika auf sich nehmen. Wenige Zeilen deuten auf das Leben in Europa hin, wo Ibrahima landet, obwohl er lieber in Guinea als Lkw-Fahrer arbeiten würde.

Bei besonders schlimmen Erfahrungen spricht Ibrahima Balde das Gegenüber direkt mit «du» an. Er richtet sich damit an den baskischen Dichter Amets Arzallus, der seine Erzählung in kurzen, prägnanten Sätzen niedergeschrieben hat und dabei nahe an der gesprochenen Sprache geblieben ist. Balde begegnet Arzallus in der baskischen Kleinstadt Irun, wo er schliesslich einen Asylantrag stellt. Durch das Du gewinnt die Erzählung an Unmittelbarkeit, als sässe man selbst neben Balde und hörte seine berührende Geschichte. Etwa, wie er in Libyen in die Fänge eines Menschenhändlers gerät: «Dann hob er seine Guba und zeigte mir die Kalaschnikow. Ja, genau so. Die Guba ist eine lange Weste, die Männer tragen sie. Was eine Kalaschnikow ist, weisst du ja.»

Was danach geschieht, davon möchte Ibrahima lieber nicht im Dunkeln erzählen: «Du bist jetzt hier und hörst zu, aber ich bin dort, es steckt in meinem Körper, und wenn ich davon rede, erlebe ich alles noch einmal.» Ein wichtiges Thema in «Kleiner Bruder»: Wie umgehen mit der erfahrenen Gewalt, den erlebten Schmerzen, den auf dem Weg zurückgelassenen Toten? Wie mit den Jahren in Ländern, wo das eigene Leben nichts wert ist? Wie weiterleben mit der Gewissheit, dass Alhassane ertrunken ist? So wie es Ibrahima selbst eine Zeit lang nicht mehr kümmert, ob er in Libyen mit einer Kalaschnikow erschossen wird, begegnet er auf der ganzen Fluchtroute Menschen, die aufgegeben haben; die zum Beispiel in den Wäldern an der marokkanischen Küste beim Warten auf ein «Programm» zwar vor der Polizei, aber nicht vor ihrer eigenen Geschichte davonlaufen können. Eine Geschichte, über die sie nicht sprechen, die aber in ihren Augen zu erahnen ist.

Etwas Neues in den Schrank stellen

Ibrahima selbst gelingt es mit der Unterstützung eines Freundes, wieder etwas Lebensmut zu schöpfen. Gemeinsam schleppen sie in Libyen Ziegel, bis Ibrahima nach Algerien zurückkehrt. Die Veränderung ist unübersehbar: Die Zeit in Libyen hat den gesprächigen und humorvollen Ibrahima verstummen lassen; frühere Bekannte erklären ihn für verrückt. Lange dauert es, bis er mehr Boden unter den Füssen findet – und schliesslich in Irun sein erschütterndes Zeugnis ablegt.

Auch dort beschäftigen ihn die furchtbaren Bilder und Erfahrungen. «Der Kopf ist wie ein Schrank, und um etwas aus dem Schrank herauszuholen, musst du eine andere Sache hineinstellen. Aber ich mache nichts, während sie hier über mein Asyl entscheiden.» Ibrahima wird daran gehindert, sich eine Zukunft zu erschliessen, und verharrt in erzwungener Untätigkeit. Diese teilt er mit vielen anderen Geflüchteten in Europa, deren Asylprozesse sich über Jahre hinziehen, ohne dass sie die Möglichkeit hätten, zu arbeiten, zu lernen, an der Gesellschaft teilzuhaben – und so auch einfacher über das Erlittene hinwegzukommen. Ibrahima klagt nicht an, aber er findet klare, kraftvolle Worte, um die entwürdigenden und oft tödlichen Bedingungen aufzuzeigen, denen Schutzsuchende ausgesetzt sind – Bedingungen, die gerade im Fall Libyen von der europäischen Migrationspolitik mitkreiert werden.

Ibrahima Balde, Amets Arzallus: Kleiner Bruder. Die Geschichte meiner Suche. Suhrkamp Verlag Berlin 2021.