Kathrin Röggla „Ausreden“

Kathrin Röggla schreibt so, dass man sie laufend zitieren könnte und zu zitieren wünschte. Ihr Sprechen, Schreiben, Denken sprudelt, unablässig, in Einem fort. Denken/Ordnen sagt Perec. – Kontinuierlich weiterlesen, antwortet Rögglas Text, dann stellt sich Ordnung her.

Am Anfang war das Ausreden-Lassen, sein Medium war ein demokratischer Bus (7). Aber auch beim Ausreden-Lassen gibt es Hindernisse, die unterbrechen. Diese sind Kritik und Gegenargument. Doch bevor überhaupt ein Gegenüber sich mit seiner Gegenrede manifestiert, ist diese als innere Mehrsprachigkeit bereits manifest – und du selbst unterbrichst Deine Rede.

An einem andern Anfang hat sich beim Sprechen-Wollen ein Medium – der Computer – dazwischen geschoben, das dazu da ist, die Bedingung zu kommunizieren zu gewährleisten. Doch dann treten technische Pannen auf. Die Autorin, die Sprechende gerät mit ihm in Konflikt. Und muss sich mit dem Medium beschäftigen.

Aber eigentlich war am Anfang die Frage gestellt worden, was ‘mich [= Röggla] zum Schreiben bringe’. Die Frage endet mit der Erkenntnis, «dass eigentlich niemand etwas zu Ende formulieren kann.» (12) Gibt es überhaupt beim Kommunizieren ein Hören und Verstehen? Oder gibt es nur Kommunikationsstrategien?

Im Weiteren analysiert Kathrin Röggla das rechtsextreme Denken und dessen strategischen Umgang mit Sprache und zeigt auf, wie durch kontinuierliche einfache Rückfragen ein immer grösserer Anteil an Sprecheinheiten dazu gewonnen würde und mit diesen überhaupt Terrain gewonnen werde. Und zwar, indem ES (das rechtsextreme Denken) schliesslich Sprechen und schreiben verbietet resp. uniformiert. Dieser Kommunikation verweigert sich Die Literatur und begibt sich in den Status der Unterbrechung, im Bewusstsein, dass «noch die einfachste Form der Narration geprägt [ist] von der Abgründigkeit, dass alles anders sein könnte.» (44)

Kathrin Röggla: Ausreden. – Droschl Verlag, Wien 2022

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Franz Kafka / Guy Davenport „Die Aeroplane in Brescia“

Eine wunderbare – mehrfache – Stilstudie über ein frühes Event in der Geschichte der Aviatik. – Kafkas Text nimmt einen Zeitungsbericht zum Ausgangspunkt, Davenport’s Text hingegen denjenigen von Kafka, der Übersetzer-Kommentator übernimmt diesen Flugmodus und schreibt ein exquisites Stück ‘aviatische Literatur (-geschichte)’.

Kafkas Text hat zwei Anfänge. Der erste startet mit einem Zeitungsbericht, doch der Bericht ist nur Anlass, als Beobachter entlassen zu werden und selbst in das Geschehen aufzubrechen. Beim zweiten ist er in Brescia, am Ort des grossen Ereignisses angekommen und bricht auf zur abenteuerlichen Fahrt zum Flugfeld. «Eine künstliche Einöde ist hier geschaffen worden […].“ (13) Trotz des Gemenges an Besuchern und Fahrzeugen, trotz der Dichte an Situationen, Signalen, Bewegungen und Lärm scheint die Szenerie diese Leere aufgenommen zu haben und ohne Staffage auszukommen, ausser vielleicht den vorgelagerten  Hangars, «die mit ihren zusammengezogenen Vorhängen dastehen wie geschlossene Bühnen wandernder Komödianten.» (12) Diese eigentümliche Szenerie scheint selbst die Bedingung zu sein, dass sie, durch eine geheimnisvolle ‘union’ mit den Flugzeugen, selbst Teil des Flugs wird. So wie der Mensch Teil der Maschine ist, ist die Szenerie Teil der Bewegung. Wir befinden uns gleichsam in einer späten Ära des Futurismus.

Nichts anderes geschieht mit Kafkas Text im Weiterschreiben von Davenport. Er wird in mehreren Elementen aufgenommen, Kafka selbst zur Spielfigur. Damit gewinnt der Text von Davenport, aviatisch gesprochen, eine Höhe, die wohl dem Imaginären gebührt. Gemäss dem kongenialen Kommentar des Übersetzers überfliegt der Text von Davenport auch die Ereignisse, die auf Kafkas Text folgen. Im Zweiten Weltkrieg werden Flugzeuge und Flieger nicht zur staunenswerten Bewunderung der Bevölkerung eingesetzt, sondern zu vernichtenden Angriffen auf Städte. Der scheinbar gleichgültige Überflug hat vermutlich mit dem Land zu tun, «in dem man Zenos Bewegung verstehen konnte. Die monotone Gleichförmigkeit Italiens liess an die Einzelbilder eines Films denken», der eine andere «Kontinuität der Dinge» herstellt und gewährt, Bilder, die beiläufig und weit unten vorbeiziehen. (42,43,51)

Die Aeroplane in Brescia. – Engeler Verlag, Schupfart 2021

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Narthex – Die Philosophie der Apokalypse

«Narthex – Heft für radikales Denken» ist eine ein- bis zweimal im Jahr erscheinende philosophische Zeitschrift, herausgegeben von der HARP, der Halkyonischen Assoziation für Radikale Philosophie in Leipzig. Narthex ist das altgriechische Wort für den Riesenfenchel, der als ausgezeichneter Flammenträger galt und mit dem Prometheus der Sage nach das Feuer von den Göttern geraubt hat, um es den Menschen zu bringen.

Das aktuelle Heft widmet sich dem Begriff der Apokalypse und der Konjunktur, die er zurzeit hat.

Das Pathos der Radikalität wird durchaus eingelöst in den sechzehn Artikeln, die den Begriff einkreisen und ihn naturwisssenschaftlich (Klimawandel), kulturwissenschaftlich, philosophisch wie auch theologisch – aus Sicht des Christentums und auch des Islam – beleuchten. Die Artikel sind nicht zu lang, prägnant und präzise geschrieben und informieren substanziell. Das Heft ist ansprechend und zugleich seriös gestaltet, mit einer klaren Trennung von Abbildungen und Text, was den hochwertigen Bildern sehr zugute kommt. Das Ganze ist weit entfernt von der so verbreiteten Häppchenkultur. Das Labyrinth ist eine von zwei Verkaufsstellen in der Schweiz.

Der nachfolgende Link führt auf die Webseite der HARP und bietet weitere Informationen: 

Lettre International

Nr. 135: Politische Korrektheit, Zensur und Boykott

LI ist immer zu empfehlen. Im zuletzt erschienen Heft möchte ich auf den Aufsatz von Marcus Quent aufmerksam machen, der das Verhältnis Jugend und Philosophie reflektiert. Er geht von Adorno aus, der die Philosophie als eine «Sache der Jugend» bezeichnet hat. Sicher können dabei Widerstand und Abstand zum Bestehenden, Gegebenen angeführt werden, doch vielmehr geht es Adorno darum, dass diese a priori vorausgesetzt sind. Das Denken markiert in seiner kritischen Stossrichtung eine «ursprüngliche Distanz», indem es «über die Wirklichkeit, wie sie ist, hinausschiesst». Mit dem Überschuss des Gedankens hört der Mensch nicht auf sich zu revoltieren. Und er bewahrt den Elan, sich nicht zu resignieren, aus dem Abstand, den das Denken schafft. Dieser Satz formt einen Chiasmus. Derselbe Elan kann von zwei verschiedenen Standpunkten beansprucht werden. Sowohl der alte Weise wie der jugendliche Revoltierer gehen von einem Abstand zum Ist-Zustand aus. «Was ist, ist mehr, als was es ist» wird dadurch relativiert – der Verdacht kommt auf, es bestehe zwischen den beiden (Alter und Jugend) eine Komplizenschaft – und zugleich hat die Philosophie aus diesem Mehr ihr Axiom geformt.

Umberto Eco «Verschwörungen – Eine Suche nach Mustern»

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Die Aufsätze, die die vorliegende Ausgabe versammelt, sind bereits in anderen Büchern von Eco publiziert. Sie wurden hier aus aktuellem Anlass und leicht überarbeitet neu zusammengestellt. Sie bilden zudem ein Grundthema für sein Werk.

Eine Suche nach Mustern für die Erklärung eines ungreifbaren Phänomens will nicht den Schlüssel geben, eine scheinbar unwiderlegbare Behauptung zu dementieren, sondern im aufgeklärten Sinn eine Erklärung finden, die dazu beiträgt, das ungreifbare Phänomen auf regelrechte Distanz zu halten – also mindestens auf eine Säbellänge.

Dazu nimmt Eco einerseits Karl Popper’s Überlegungen zum Verschwörungssyndrom, andererseits ein literatur- und erkenntnistheoretisches Experiment zum Verhältnis Faktisch – Fiktional, Wahrheit – Falschheit, Realität – Lüge zu Hilfe.

Das Experiment zeigt eine spannende und zugleich gefährliche Vermengung von Faktischem und Fiktionalem, die auch keinem Logiker erlaubt zu verneinen, dass eine Tatsache existiert resp. eine Aussage wahr sei. (S.58) Es gibt also eine Art negativer Seinsanspruch, der zu erschreckenden Realitäten führen kann resp. schon geführt hat («Protokolle der Weisen von Zion»).

Popper leitet aus der Sozialgeschichte her, dass Verschwörungstheorien «ein typisches Ergebnis der Verweltlichung eines religiösen Aberglaubens» sind und vor allem dann mächtig werden, «wenn Menschen an die Macht kommen, die an die Verschwörungstheorie glauben.» (S. 12,13)

Eco ist ein zu leidenschaftlicher Romanautor UND Wissenschaftler, um nicht selbst mit solchen Instrumenten umzugehen und Texte herzustellen/herstellen zu lassen («Wie ich Umberto Eco umgebracht habe»), die mit diesem faktisch-fiktionalen Konstrukt spielen. Schliesslich hilft gerade das Spiel, «in die Erfahrung der Gegenwart wie der Vergangenheit eine Ordnung zu bringen.» (S.56)

Andreas Reckwitz: Pandemie und Staat. Ein Gespräch über die Neuerfindung der Gesellschaft.

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Dabei handelt es sich um ein Gespräch in der Reihe «rausgeblickt» der Friedrich- Ebert-Stiftung. Diese hat mit der «Akademie für Soziale Demokratie […] einen Ort zur Reflexion grundsätzlicher Fragen aus der Sicht der Sozialen Demokratie» geschaffen. In der Reihe «rausgeblickt» werden Gespräche geführt im Zusammenhang mit dem Phänomen der Pandemie. Ausgehend von der Krise werden soziale, persönliche, bildungspolitische, gemeinschaftliche Handlungen und Haltungen untersucht – immer mit Blick nach vorne.

Andreas Reckwitz ortet die Krise historisch, er betrachtet Wandlungen und Schwellen anhand von Strukturmerkmalen der Gesellschaftsformationen. Industrialisierung, Ökonomisierung, Technologisierung sind bisherige Merkmale, die entsprechend verschiedene bestimmende Werte und Kategorien geschaffen haben. Der neueste Wertewandel prämiert das Singuläre, schafft aber von der Gesellschaftsstruktur her ein Dreiermodell, das die Schicht der Service Class stark ausbaut. Durch die Krise steht diese entweder vor dem Ruin oder vor einer Forderung, die systemrelevant geworden ist. (53) «Vielleicht sind wir da am Anfang eines neuen Paradigmas* (61), das vor der Grundentscheidung Ordnung – Dynamik, Sicherheit – Fortschritt einen Ausgang aus der Ausnahmesituation sucht. Im Kontext von Sozioökonomie und Soziokultur beobachtet Reckwitz eine zunehmende Heterogenität sozialer Anerkennung und eine Erosion ziviler Normen. (64) Zudem zweifelt er, ob mit und nach der aktuellen Krise ein komplett neuer kultureller Kompass bestimmen werde.

Was das Problem sozialer und kultureller Heterogenität betrifft, Fragen also, die unter der Idee des Gemeinsinns behandelt würden, (70) sieht er Lösungen und Möglichkeiten vor allem in Mikrokosmen (ein Stadtteil, eine Institution). Vorbildhaft nennt er hier den Bildungssektor, der «mit grosser Heterogenität in der Schülerschaft» (75) umzugehen verstehe. Auch wenn das «Fortschrittsnarrativ» durch die Krise rückläufig geworden ist, auch wenn ein «Verlust an Zukunft» festgestellt werden kann, so wird andererseits eine Offenheit für Interaktionsorte sensibilisiert. (77) Damit solche vermehrt verwirklicht werden können, bedarf es sowohl sozialer Fantasie wie auch einen grösseren Einfluss an Repräsentanten.

Weitere Titel aus der Reihe «rausgeblickt».

Matthias Wittmann «Die Gesellschaft des Tentakels»

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Tentakel sind gemäss der offiziellen Zoologensprache die acht Arme bei Oktopoden. Aber eigentlich haben «Oktopoden […] acht Arme, die Füsse und Hände und Augen und Schwänze und Gehirne und (provisorische) Gelenke und Zungen und Geschlechtsteile und noch viel mehr sein können.» (8) «So gesehen sprechen Oktopoden in acht Zungen zu uns.» (9) Das erste Kapitel in diesem Tentakel-Buch heisst logischerweise – ‘logisch’, ein Wort, das für das tentakelhafte Zusammenwirken gerade nicht gilt – «Vielzüngigkeit».

Die Sprache des Autors passt sich dieser Vielzüngigkeit an. Kann man seine Sprache beredt nennen? Nein, sie ist viel mehr. Sie ist fröhlicher Übermut, übermütige Akrobatik, überschüssige Virtuosität, «ominöse Überfüllung» des Sprachgefässes. Es ist ein Genuss, das Tentakel-Buch von Matthias Wittmann zu lesen.

Oktopoden haben mehrere Zentren. Sie funktionieren je einzeln nicht systematisch und auch nicht systematisch zusammen. Das fasziniert den Autor. Damit eröffnet sich ihm ein immenses Feld von fiction und Forschung, Einbildungen und KI, Phantasmagorien und historischem Wissen, Ängsten und wissenschaftlicher Neugier. Er untermalt diese Szenerien mit Filmbeispielen und konturiert sie mit literarischen und philosophischen Hinweisen.

«Ein tentativer, tentakulärer An-Fang könnte die Frage sein, warum uns Kraken so unfassbar ergreifen.» (15) Oktopoden haben keine Hardware, ihr Körper ist skelettlos und ungeschützt. (13) In der Folge besteht seine Wirkung auf die menschliche Einbildungskraft darin, sie «vergessen zu lassen, dass es eine solide Datenbasis […] überhaupt geben könnte.» (16) Und weiter faszinieren seine Augen. Ein Film hat versucht, die menschliche Wahrnehmung in den Oktopoden zu transplantieren, nicht, um diesen zu anthropomorphisieren, sondern um die menschliche Wahrnehmung oktopodisch zu dezentrieren. (18) Und dann plötzlich wird, wer sich wahrnehmend vorwagt, angeblickt und angesaugt. Und befindet sich ungewollt in der Gesellschaft von Tentakeln, einer multiplen Gestalt, die uns mit ihrer mehrfachen Ambiguität in sich bannt. «Ob der Oktopus die Gestalt unseres Verschwindens ist, sei dahingestellt. Der Oktopus ist mit Sicherheit die Gestalt unserer krisenhaften Gegenwart und einer neuen Realität von Relationen.» (202)

Botho Strauss «Nicht mehr. Mehr nicht – Chiffren für sie»

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„Vor mir steht mein Name. Er schliesst alles aus, was ich bin.“ (7) Im Folgenden erzählt die Protagonistin des neuen Textes von Botho Strauss, die norddeutsche Dichterin Gertrud Vormweg, ihr Leben.  Sie spricht, sie schreibt in Aufzeichnungen, Notaten, Notizen – Botho Strauss nennt sie „Chiffren“ – in gleichsam loser Folge und doch in der Folge einer Geschichte, einer Entwicklung und schliesslich einer Überwindung. Es ist die Geschichte eines Verlassen-Werdens und Verlassen-Seins. Es ist nicht (nur) ihre Geschichte. Sie erzählt ihre Geschichte als Geschichte der Dido, lieber Elissa genannt, sie erzählt die Geschichte im Vorbild ihrer Geschichte. Dazu dienen die Aufzeichnungen, die Form, die Botho Strauss  „Chiffren“ nennt.

‚Vormweg‘, der Name der Dichterin, ist der Anfang einer extremen Spannung mit der Aporie als ihrem Ende. Von diesem Ende, vom Verlassen-Sein her entstehen die Chiffren. „Oder ist der Weg verloren gegangen?“ (13) Chiffren gehen durch die Zeiten hindurch, über Zeiten hinweg, vergessen das Vergehen (der Zeit). Sie gewähren der Sprache Asyl, ein Dach über dem Kopf, sie ermöglichen überhaupt Sprache. Sie setzen zu einem Sprechen an, das versiegt war und das nun, mit der Anderen (mit dem Vorbild, mit Dido) wieder aufbricht zu einer Ich-Form, mit dem anderen gelebten Leben wieder eine Geschichte erwirbt. Und damit kann sie ihr Schicksal in eine sprachliche Form bringen.

Ihr Sein, ihr Verlassen-Sein, scheint durch ihr (auch erworbenes) Schicksal hindurch. Ihr Schicksal ist gleichsam „geprägte Form“. Ihr (neues) sprachliches Ich hingegen, durch das das Sein nicht durchscheint, bricht zu einem neuen Sprechen auf, das aus dieser Form herausgetreten ist. Die Chiffren benennen die Erinnerungen um. Sie haben das, was nicht aussprechbar war oder was nur in Aus-Reden zerredet werden konnte, verlassen und mit einem Sprach-Tanz begonnen. Die Sprache verwandelt das Nicht-Mehr, die geprägte Form im Zeitstrahl. Mit der neuen Sprachform verwandelt auch sie sich. Als Verlassene blieb sie zurück, wartete, lernte zu dulden und beginnt nun, das Nicht zu akzeptieren. Das tanzende leere Kleid des Covers (Buchumschlags) ist ein schönes Bild für diesen gegenläufigen Prozess, der Sprache gegen die Zeit. Es ist, als hätte eine Vergebung stattgefunden, und die Vorgeschichte und ihr Schicksal wären gleich-gültig geworden. Damit entsteht eine neue Spannung, diejenige von Ichten – Nichten (Celan), oder ist es umgekehrt?

Das Verfahren, nach dem Botho Strauss in diesem Text quasi kryptisch, chiffriert vorgeht, hat er in einem anderen Essai so beschrieben: „Ich möchte ein Gebärdensammler gewesen sein. – Ein Palimpsestleser, der bei jedem Menschen, den er betrachtet, die Erstschrift eines tieferen Lebens entdeckt.“ (in: „Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern.“ – Rowohlt, Hamburg 2020. S.160)

[Ich verdanke diesen Hinweis Ralf Neubauer, HyperWerk]

Fredric Jameson «Raymond Chandler – Ermittlungen der Totalität»

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Diese Ermittlungen des amerikanischen Professors für Komparative Literatur über Raymond Chandler’s Kosmos sind nicht nur eine umfassende Chandler Biografie, nicht nur eine detaillierte Untersuchung seiner Krimis und Schriften, nicht nur eine Analyse seiner Verfilmungen, nicht nur eine Typologie von Amerika und seiner Gesellschaft, nicht nur seine Theorie des Krimis, sondern auch eine elaborierte Darstellung über sprachliche Experimente, der Sprache der Moderne, «in der Wörter zu Objekten geworden sind» (12).

Los Angeles ist häufiger Schauplatz von Chandler’s Krimis und bietet bereits einen Mikrokosmos, an dem beispielhaft die räumlichen Koordinaten und die soziale Typologie erkundet werden können. Dabei geht der Autor den Gängen des Detektivs nach. Oft wird er weg vom Zentrum an die Ränder der Stadt geführt, er beginnt wahrzunehmen, was und wie ein flüchtiger Blick wahrnimmt. Das Vage, Ungefähre, Vernachlässigte, Beinah-Entgangene geraten dadurch in sein Sichtfeld. Und seine Ermittlung setzt wie mit einem zweiten Blick bei dem an, was unbeachtet vorübergeht, was als ephemer und geringfügig übersehen wird. Die Wahrnehmung der Ränder machen erfahrbar, was bisher unbekannt war und nun wie ein fremdes Territorium erscheint.

Zugleich haben die Ränder eine Umschalt- oder Passagefunktion aus dem Zentrum in etwas Anderes. Das Andere ist z.B. die Wüste, ein leeres, ödes, fremdes Gebiet. Und hier beginnt der eigentliche Chandler. Hier beginnt eine Spurensuche, die die Koordinaten sprengt und der Versuch, das Zentripetale und Zentrifugale miteinander zu koordinieren in extreme Spannung bringt. Der eigentliche Fall, die wichtigen Episoden werden dabei immer stereotypischer, verweisen auf analoge Situationen, beginnen einander ähnlich zu werden und dadurch an sich auf andere Weise belanglos. Die Spuren führen den Ermittler schliesslich dorthin, wo das zu ermittelnde Ereignis bereits versandet ist, verjährt. Der Fall ist nicht nur belanglos geworden, sondern verschwunden. Er kehrt um und geht in sein ‘office’ zurück, um den Fall abzuschliessen: Mit der paradoxen Schlussfolgerung, dass der Fall insofern als abgeschlossen gilt, als das Verbrechen sich als in sich geschlossen erweist.

Elisabeth Masé «Das schlafende Krokodil»

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Das Romandebut der aus Basel gebürtigen, in Berlin lebenden und tätigen Autorin und darstellenden Künstlerin Elisabeth Masé versammelt Szenen einer Kindheit, der Kindheit eines Mädchens. Die Erlebnisse und Wahrnehmungen werden durchwegs aus der Sicht des Mädchens erzählt, jedoch unter strikter Beibehaltung der sächlichen ES-Form. Indes ist die ES-Form hier nicht die Möglichkeit einer Objektivierung, die das Ich zu seinem Schutz vorgibt. Die ES-Form ist, ganz allgemein ausgedrückt, das Auswendige des Mädchens, Hülle, Körper, Haut, Erscheinung, Fleisch.

Man könnte von einem Schirm, einer Art Projektionsfläche sprechen, auf dem und durch den, was dem Mädchen passiert und sich ihm ereignet, abgebildet wird. Das Mädchen scheint in einer Höhle zu sein.

Das Mädchen passiert Kindheit, frühe Jugend, Schulzeiten, Sportferien, erste Freundschaften, Pubertät, Adoleszenz, Beziehungen, Studium. Die erste Szene ist dabei eine Schlüsselszene, um das Mädchen in seinem ES, in seiner Höhle, in seiner Art Abwesenheit zu tasten. Kippbilder, Umstülpungen, Träume, Verwandlungen, Angstbilder verhalten das Mädchen in seiner Verbannung. Dort, in der Abgeschiedenheit, schläft, hinter Glas, das Krokodil.

Das Mädchen wartet, dass das Krokodil aufwacht.

Schon früh gibt es die rebellische, doch klare Überzeugung: «Ich werde Malerin […].» (38) Es produziert Zeichnungen, zu jeder Zeit, an jedem Ort: «Es lebt auf Papier […].» (37)

Zeichnungen und Bilder der Autorin begleiten auch den Text. Alters- und Entwicklungsstufen produzieren verschiedene Stile. Darum geht es nicht. Es geht darum, dass dieser permanente Prozess analog zum Prozess der ES-Erzählung eine Projektionsfläche bietet, für das Krokodil und für den Stift in der Hand.