Judith N. Shklar «Über Ungerechtigkeit – Erkundungen zu einem moralischen Gefühl»

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«Jedes moralphilosophische Werk enthält wenigstens ein Kapitel über Gerechtigkeit und viele Bücher widmen sich einzig und allein diesem Thema. Wo aber bleibt die Ungerechtigkeit?» (29) «Gibt es nicht viel mehr über den Sinn der Ungerechtigkeit zu sagen, den wir so deutlich erkennen, wenn wir ihn empfinden? Warum also weigern sich die meisten Philosophen, über Ungerechtigkeit ebenso tief und scharfsinnig wie über Gerechtigkeit nachzudenken?» (30)

In ihrem neuesten Buch geht die politische Philosophin Judith Shklar diese Situation an; ihre Disziplin, die Politische Theorie, scheint ihr dazu besser als Geschichte und Ethik geeignet zu sein, «etwas gegen diese Situation zu unternehmen.» Sie geht das Problem an, indem sie nach der Grenze zwischen Unglück und Ungerechtigkeit fragt. Auf den ersten Blick scheint diese Grenze klar gezogen zu sein, das Unglück wird einem unvermeidlichen Los und Geschick, deren Ursache äusseren Naturgewalten zugeschrieben. Ungerechtigkeit hingegen betrifft die menschliche Existenz und Conditio und geht auf vermeidbare und bekämpfbare menschliche Konstrukte zurück. Bei einem genaueren Blick löst sich diese eindeutige Wahrnehmung auf. Schwarzsein scheint ein natürlicher Zustand, ein Erdbeben ein natürliches Ereignis zu sein. Durch gesellschaftliches Verhalten resp. durch wissenschaftliche Nachforschung werden der eine wie das andere als Ungerechtigkeit empfunden und erfahren, ihre Ursachen können auf ideologische Werte resp. auf Missachtung von Sicherheitsnormen zurückgeführt werden. Eine Tat, ein Verhalten mag aus einer bestimmten Intention hervorgegangen sein, das Gegenüber hingegen nimmt die Wirkung der Handlung so und so anders wahr, dass es sie auf einen anderen Sinn, eine andere Ursache zurückführt. – Das heisst, die Grenze zwischen ‘menschlich’ und ‘natürlich’ ist verschiebbar.

Um diese kaum zu bewältigende Problematik in den Griff zu kriegen, nimmt Judith Shklar den Standpunkt des Opfers ein, ohne dabei die Vorstellung einer moralischen Gewissheit zu übernehmen, es müsse eine klare feste Grenze zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem geben. (8) Die Missstände im Namen des Opfers sehen legt vielmehr nahe, «sie neuerlich zu überprüfen – und vor allem das Phänomen der Ungerechtigkeit mit neuen Augen zu betrachten.» (8)

Es gibt offensichtlich keine Möglichkeit, nicht zwischen Unglück und Ungerechtigkeit zu unterscheiden. (12) Werte, Urteile, Gesetze, Konventionen, Normen sind zwar historisch bedingt und erweisen sich als veränderlich und vielmehr als veränderbar. (13) Gleichwohl ergeht aus der Opfer-Perspektive die Forderung, die Pflicht sogar, die erlittene Ungerechtigkeit zu prüfen und ihr gerecht zu werden. Auf diese Weise funktioniert die Moral. Diese ist ein «rechtsähnlicher Begriff», der «viel zu wünschen übrig lässt, da er unserer alltäglichen Erfahrung moralischer wie politischer Entscheidungs- und Konfliktsituationen nicht entspricht.» (18) Die Moral verfällt wiederum der Vorstellung einer festen Grenze und misst , was dem Opfer widerfahren ist, an der Gerechtigkeit. Deren Regeln reichen gemäss Judith Shklar keinesfalls aus, über «die Forderungen Geschädigter» klar zu entscheiden. (25) Ebenso gilt, «ohne rechtliche Institutionen […] kann es keine […] gerechten […] gesellschaftlichen Beziehungen geben […].“ (33, 34)

Wie wir, die Bürger, die Gesetze verinnerlichen, muss das Rechtssystem unseren Sinn für Ungerechtigkeit aufrechterhalten (195) – könnte das Fazit dieses Buchs lauten.

Aether 04: Was ist neu an der New Economy? – Eine Spurensuche

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«Uns interessierte die Frage, welche Folgen die neuen Informationstechnologien nach der Krise der 1970er-Jahre und dem Ende des Kalten Krieges auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in der Schweiz hatten […] Es müssen also Wirtschaftsgeschichte, Unternehmensgeschichte, Technikgeschichte, Mediengeschichte, Geschlechtergeschichte, Stadtgeschichte, Sozialgeschichte und Politikgeschichte – kurz: ein umfassendes Spektrum von historischen Ansätzen zusammengedacht werden. Aether 04 wagt erste Schritte in dieses Unterfangen…» (A5,6)

Die Aufsätze und Abhandlungen in diesem Heft, das gleichzeitig mit Aether 05 erschienen ist (zu 05 gab’s bei uns eine Vernissage Veranstaltung), handeln von der technologischen Wissensgeschichte der Schweiz, die zugleich auch in den transnationalen Kontext gestellt wird. Sie betrachten die «Great Transformation» der Industrie, ausgelöst durch Grossrechner, PC, Internet etc., «zu einer Wissensgesellschaft und schliesslich zu einer sogenannten Digitalen Gesellschaft» (A5). Zugrunde gelegt wurde ein Artikel aus «WIRED», dem Sprachrohr der New Economy Bewegung, der die fundamentale Transformation historisierte und wie aus dem Rückblick betrachtete. (A4) Ein spannendes Szenario, das bereits das Narrativ für das vorliegende Magazin vorlegte – das jenes nun auf seine «empirische Belastbarkeit» prüfen kann. Dafür stellt Aether 04 eine zeitliche Projektionsfläche von 1980 bis 2020 bereit und gibt gut recherchierte Einblicke in vielfältige Entwicklungen von Vernetzungen. Vernetzung ist das Prinzip der technologischen Entwicklung. Sie ermöglicht immer grösser werdende Datensammlungen, aus diesen werden Algorithmen ermittelt, diese wiederum führen zu revolutionären Strategien bei der Vereinfachung und Steigerung von Prozessen und beeinflussen damit den Arbeitsmarkt. Gefördert wird diese Entwicklung durch die gleichzeitige Digitalisierung der Werbung.

Spannend ist, dass auf dieser retrospektiven Projektionsfläche gezeigt werden kann, wie Zukunft geschaffen wird, wie der Start neuer Technologien zukünftige Aussichten generiert. Diese haben enorme finanzielle Investitionen zur Folge, wodurch überhaupt erst die Finanzierung der Forschung und ihrer Unternehmen zustande gekommen ist.

Das Magazin versammelt Einblicke in die Forschung neuer Technologien und in Unternehmensgeschichten und stellt damit wertvolles ‘Material’ dar für die Bildung neuer Periodisierungen, Begrifflichkeiten und Transformationen – mithin: es stellt selbst bereits eine kleine wunderbare Wissensgeschichte der Technologie her.

Alexander Honold «Poetik der Infektion. – Zur Stilistik der Ansteckung bei Thomas Mann»

Diese Studie von Alexander Honold basiert auf seiner Gastprofessur in Bamberg 2020 sowie auf dem Thomas Mann Kolloquium an der ETH Zürich und an der Uni Basel 2019. Die Problematik der Krankheitsdarstellung in ausgewählten Werken von Thomas Mann wird sowohl in den grösseren wie auch aktuellen Rahmen von Medizin und Literatur verschoben. In dieser «Dissonanz» können aufgrund von kontagiösen sprachlichen Erzählformen kulturelle kognitive Deutungsmöglichkeiten bewirkt werden.

Literatur reagiert auf Krankheiten, Leiden, Epidemien, Infektionen – und zugleich übernimmt sie – die Ansteckung funktioniert auch in Hinsicht auf Sprache und Erzählformen – in quasi nachträglicher Manier eine kognitive Funktion in Hinsicht auf Krankheitsverläufe und Schicksale, politische Massnahmen und medizinwissenschaftlicher Forschung. Hierbei sind zwei Formen von Mimesis am Werk. (I) Durch Ansteckung bilden sich Krankheitsmuster und -verlauf in allen Facetten am Einzelnen und in der Gesellschaft ab (Ängste, Verdächtigungen etc.). – (II) Durch Ansteckung bilden sich eine medizinische und eine politische Terminologie in der Sprache, in der Sprache der Fiktion ab.

Literatur, umgekehrt, kreiert mit dem Abbild einer Struktur des Einzelnen und der Gesellschaft im Zustand von Krankheit und Epidemie eine Diagnose, eine Kritik und eine Deutung. Kann indes eine Poetik der «buchstäblichen Ansteckung» massgeblich und antizipierend Aufschluss geben für soziales und politisches Verhalten?

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Angelika Krebs: «Das Weltbild der Igel – Naturethik einmal anders.»

Schwabe Verlag. Basel 2021

Das neue Buch von dem AutorenInnen Kooperativ um Angelika Krebs ist eine Hommage an Peter Kurzeck und im Gedenken an ihn verfasst. 2013 hätte er an eine Tagung nach Basel und zu ihr ins Seminar kommen sollen – alles war vorbereitet. Ein Schlaganfall hat die Begegnung verhindert, indes nicht die Gespräche mit Peter Kurzeck. In dem vorliegenden Buch gehen sie weiter, imaginär, erinnert.

Da ist die aus dem Roman «Vorabend» stammende Geschichte der Igel, die für den Band titelgebend geworden ist (45): Fünf Igel wollen eine stark befahrene Strasse überqueren und schaffen es nicht. Zu dicht ist der Verkehr. Die Igel kennen den Weg seit je her, es ist der Weg zu ihrem Winterquartier. Dann halten sie das Warten nicht mehr aus und rennen los. Einer schafft es auf die andere Seite, zwei kopfüber zurück gerannt, zwei sind tot. – Weniger Autos und mehr Verkehrsregeln und -rechte für Igel wären Lösungen, statt derjenigen, dass die Welt-für-Igel «wegverschwindet». (51)

Aus Tierethik, Naturethik, Anthropozentrik, Ökozentrik lassen sich Positionen gewinnen in der Problematik um eine tier- und naturgerechte Welt. Mit Peter Kurzeck wird hier versucht, die Natur als ein Gegenüber zu begreifen, das uns zu fühlen und zu denken (auf-) gibt, dem man etwas schuldet. Eine naturästhetische Resonanz fordert von uns, dass wir anders in und mit der Natur leben. (13)

Um diese Sicht bewusst zu machen erschafft Peter Kurzecks Schreiben die Methode, Zeitebenen ineinander kippen zu lassen. Dazu sagt er: «Die Igel sind auch auf dem Bild, aber die sieht man nicht.» (34) Oder er veranschaulicht sein Vorgehen am Beispiel des Baums, der in den Himmel zeigt. An ihm begreifen wir schmerzlich, dass «wir die Erde nicht hätten aufgeben sollen.» (13) – Wir begreifen unseren Verlust.

Aus diesem Begreifen entsteht sein Roman «Vorabend» und steht für einen neuen Einklang mit der Natur. Dabei wird der Roman nicht resümiert, vielmehr wollen die philosophischen Einlassungen Lust machen, den Roman zu lesen, selber zu lesen.

Also, geht lesen. – So geht Lesen. (32)

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Buchempfehlung: Roberto Simanowski – Todesalgorithmus – Das Dilemma der künstlichen Intelligenz

‹Todesalgorithmus› meint jene Künstliche Intelligenz (KI), die selbstbestimmend entscheidet, ob ein automatisiertes Auto, das in eine Unfallsituation verwickelt wird, eher die unbeteiligten Insassen oder den alkoholisierten Fahrer auf der Gegenfahrbahn, den vorschnellen Velofahrer oder aber die in Gedanken versunkene Passantin opfern soll. Die ursprüngliche Programmierung – etwa «der schwächere Verkehrsteilnehmer muss geschont werden» – bestimmt jeweils die fortlaufende Selbstbestimmung der KI.

Im globalen Massstab bestimmt ein vermessen gewordener Mensch, bestimmen in ihrer Macht entgrenzte Menschen über das Schicksal des Planeten. Geht die „Fahrt“ in derselben Weise weiter wie bisher, werden alle Menschen Opfer des Klimakollapses. Warum also nicht die Regierung an eine KI übergeben, die jetzt schon und immer besser imstande ist, die für ein Überleben aller Menschen notwendigen Bedingungen vorzugeben und rettende Massnahmen durchzusetzen? Allerdings setzt die Herrschaft der KI Sicherheit und Gehorsam gegen Freiheit und Entscheidung, nachdem in der Entscheidungsfreiheit die Verantwortung verspielt worden ist für mehr Profit, mehr Unterhaltung, mehr Macht.

Roberto Simanowski gelingt auf beängstigende wie herausfordernde Weise eine Analyse unserer allgemeinen aktuellen Klimakrise. Er geht dabei von der Extremsituation aus, in der wir uns jetzt befinden, und setzt ihr das andere Extrem entgegen: eine totalitäre KI-Herrschaft (die in China bereits im Gange ist …). Unausweichlich und ohnmächtig ordnen sich die Menschen unter. Das neue proklamierte Gute (die Rettung der Erde) ist das Ziel, und unser gehorsamer Gang ist der Prozess hin zu einer besseren Welt. – Kehrt der Mensch so in einen quasi paradiesischen Zustand zurück, vor seine Erkenntnisnahme?

Simanowski versteht es, aktuelle politische Szenarien und Situationen mit beinahe science-fiktionalen Konstruktionen zu verflechten. Gekonnt spinnt er uns ein in seine vielfältigen Spekulationen zur Moral der KI. Dabei dienen Theoriestücke aus der Philosophie und Religionsgeschichte dazu, dem neuen Reich der KI recht gute Grundmauern zu schaffen. Simanowskis Buch entlässt seine Leser nicht, sondern spannt sie ein im Sinne einer «List der Vernunft» (Hegel).

Matthias Staub

Rezension: Ernst Hubeli – Die neue Krise der Städte: Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert

Rotpunktverlag, Zürich 2020

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Diese Rezension enstand im Rahmen des Bands Nr. 75 des Widerspruch Magazins.

Die romantische Sehnsucht nach der selbstbestimmten Stadt

Am 23. April 2020 wurde nach zwei Tagen Diskussionen im Grossen Rat von Basel-Stadt eine verwässerte Umsetzung der Wohnschutzinitiative vom Juni 2018 angenommen. Die Sozialdemokratische Partei, das Grüne Bündnis und der Mieter*innenverband Basel kündigten unmittelbar darauf ein Referendum an, da die Umsetzung ihrer Meinung nach nicht den Forderungen der von 61.9 Prozent der Stimmbevölkerung angenommenen Initiative entspricht. Die Annahme selbst war bereits eine willkommene Überraschung und zeigt, dass die Wohnungsnot mittlerweile in grossen Teilen der städtischen Bevölkerung angekommen ist. Oder zumindest auch jene, die sich bis anhin vor Mieterhöhungen und Massenkündigungen geschützt sahen, erkennen, dass die Wohnungskrise nicht vor dem sogenannten Mittelstand halt macht.

Eine etwas progressivere Ausprägung desselben Wandels zeigt sich in Berlin, seit Jahren ein Brennpunkt von Immobilienspekulation und Wohnungskrise. Die Enteignung, das ehemalige Schreckgespenst der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, ist mit der Bewegung „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Auch hier ist der Berliner Senat nicht so bewegungsfähig wie die Bevölkerung: einen Monat nach dem Basler Grossratsentscheid, am 18. Mai, reichte die Enteignungs-Initiative Klage gegen den Berliner Senat ein, weil die Prüfung des mit 77’000 Unterschriften eingereichten Volksbegehrens nunmehr bereits fast ein Jahr dauert.

Dass in Deutschland offen über Enteignung diskutiert und in der Schweiz per Initiative das „Recht auf Wohnen“ in der Kantonsverfassung Basels verankert wird, zeigt: die Wohnungsfrage hat eine neue Dringlichkeit erreicht. Doch das Problem ist keineswegs neu und so sind auch die Lösungen, die heute vorgeschlagen werden, bereits vielfach diskutiert worden. 1872/73 veröffentlichte Friedrich Engels seine Analyse der damals grassierenden Wohnungsnot als eine Replik auf eine Reihe von Artikeln in der Zeitung Volksstaat. Er kritisiert die Vorstellung, die Wohnungsfrage isoliert von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen lösen zu können, da das Wohnen untrennbar mit unserer Vorstellung von Gesellschaft und mit den bestehenden Eigentums-, Produktions- und Arbeitsverhältnissen verbunden ist. „Erst durch die Lösung der sozialen Frage“, schreibt Engels (2015: 77), „wird zugleich die Lösung der Wohnungsfrage möglich gemacht. […] Zunächst wird aber jede soziale Revolution die Dinge nehmen müssen, wie sie sie findet.“

In diesem Sinne ist auch das Buch des Architekten und Städteplaner Ernst Hubeli, Die neue Krise der Städte, geschrieben, welches sich bereits im Untertitel als eine Aktualisierung von Engels’ Text zu erkennen gibt. Hubeli versucht, die Dinge, wie er sie findet, auszuloten und betrachtet dabei nicht nur die aktuellen Eigentumsverhältnisse am Wohnungsmarkt, sondern zunächst ganz allgemein die Vorstellung vom Wohnen in unserer Gesellschaft. Und die damit einhergehenden Träume vom Eigenheim, die in krassem Gegensatz nicht nur zur Realität einer Bevölkerung stehen, die zum überwiegenden Grossteil aus Mieter*innen besteht, sondern auch zur ökonomischen Realität. Denn in dieser geht mit dem Besitz des Eigenheims nicht Selbstbestimmung einher, sondern ein „Schuldenberg, der zum eigenen Gefängnis wird“ (S. 32). Das über Hypotheken finanzierte Eigenheim der Mittelklasse gliedert diese ins eigentumsideologische Geschäftsmodell ein, in die Armee aller Eigentümer*innen, die die Interessen der grossen Eigentümer*innen verteidigen soll. Die Subprime-Krise, die 2008 zur Weltwirtschaftskrise führte, machte freilich klar, dass die „Gemeinschaft der Eigentümer“ eine eingebildete war, deren Interessen letztlich vor allem institutionellen Grossanlegern dienten.

Hubeli erkennt darin ein Auseinanderdriften der Begriffe Wohnen und Gesellschaft, welches sich auch in den Wohnungen selbst offenbart, in der „Diskrepanz zwischen heterogenen Lebensformen und homogenen Wohnformen“ (S. 37–38). Im Segment der leistbaren Wohnungen führt das chronische Unterangebot zum Bau immer derselben, anachronistischen Raumkombinationen – „Wo Knappheit herrscht, ist alles begehrt.“ (S. 43) Und die Knappheit wird nicht weniger werden – seit Jahrzehnten ist die Zuwanderung zu den Städten konstant und aus der Gesamtoptik gibt es heute weltweit keine Alternative zu den Städten. Wie also ist die Stadt zu gestalten?

Zunächst ist diese Frage im Grunde nicht trennbar von der Wohnungsfrage. Allgemein kann gesagt werden: wichtig ist ein gesundes Stadtgefüge, das Richtungen festlegt aber weich genug ist, um sich seinen Bewohner*innen anzupassen. Hier gibt Hubeli einige interessante städtebauliche Betrachtungen und legt beispielsweise dar, wie mit Mikroverdichtungen in Baukostenmiete eine weitaus geeignetere Form der Wohnungsbeschaffung zur Verfügung steht als bei Wohnbauförderprogrammen für grosse Neubauprojekte in der Agglomeration.

Es folgt ein Abschnitt des Buches zur Frage der Enteignung, um neuen, leistbaren Wohnraum zu schaffen oder zu erhalten. Am Beispiel Berlins zeichnet Hubeli die diskurshistorische Wende nach, die letztlich dazu geführt hat, dass in Berlin die Enteignung von grossen Immobilienfirmen mehrheitsfähig geworden ist. Daran schliesst sich die Frage an, in welche Hände die so dem Markt entzogenen Wohnungen überführt werden sollen. Ein solidarisches Wohnungswesen kann nicht einfach jenen gehören, die die Immobilien zufällig bewohnen, denn „ohne rechtlich bindende Gemeinwohlorientierung gibt es keine Pflicht zum sozialen Vermieten“ (S. 107). Ein Blickwinkel, unter welchem es sich lohnen würde, auch das hiesige Wohngenossenschaftswesen mit seiner Gemeinnützigkeit einmal näher zu betrachten. Die Enteignungsbestrebungen in Berlin haben den weiteren Vorteil, dass sie privaten Boden rekommunalisieren und daher der Spekulation entziehen würden. Das ist vor allem in innerstädtischen Lagen relevant, wo die Bodenpreissteigerung ein Vielfaches mehr an Rendite verspricht als die Mieteinnahmen, was zu unbewohnten Luxuswohnungen in Stadtzentren führt, die lichterlos auf ihre Wertsteigerung warten. Neben einem mittlerweile in Berlin eingeführten Mietendeckel, der den Markt automatisch entlastet, spricht sich Hubeli hier auch für eine hohe Besteuerung von Bodeneigentum aus, dessen Wertzuwachs Eigentümer*innen heute leistungsfrei abschöpfen.

Der letzte Abschnitt des Buches trägt den Titel „Aneignung,“ und versucht das Wesen des Wohnens zu ergründen, das als Grundlage für eine geistige Rückeroberung der Städte dienen soll. Der Abschnitt enthält eine Fülle an Verweisen, von Lukács „transzendentaler Obdachlosigkeit“ zu Netflix’ Reality-TV-Show „Aufräumen mit Marie Kondo“ und ist etwas schwerer zu fassen als die Kapitel, die sich konkreteren Beispielen widmen. Dennoch macht es eine der grossen Stärken des Buches deutlich: Hubeli ist als Autor nie nur Architekt oder nur Städteplaner; er ist in seinen Ausführungen immer auch Soziologe und Philosoph. Das macht sein Buch auch dann interessant, wenn es bereits Bekanntes zusammenfasst und verleiht dem Text eine Spannung, die grundsätzlich anhält, wenngleich sie in den verschiedenen Abschnitten unterschiedlich ausgeprägt ist. Durch diese Art zu schreiben und zu denken wird Hubelis Buch mehr zu einer Streitschrift als zu einer Analyse. Und es gibt den Leser*innen Denkanstösse, die sich nicht im Bereich der Realisierungschancen, im gesetzlich oder ökonomisch Machbaren aufhalten, sondern die die Stadt und das Wohnen in einem offeneren, poetischen Rahmen denken lassen. Oder in Hubelis Worten: „Die romantische Sehnsucht erhellt die Grenzen der Vernunft. Sie stellt den ungebrochenen Glauben an das Machbare und Beherrschbare infrage; das Vernünftige wird gewissermassen verunreinigt, kommt zu sich selbst und kann sich verweltlichen.“ (S. 127)

Jürgen Buchinger

Werner Busch – Die Künstleranekdote

‘Anekdote’ meint wörtlich das ‘Nicht-Herausgegebene’, das bewusst Zurückgehaltene. Sie ist also nicht eine öffentliche, sondern eher eine private und intime Mitteilung, nicht eine allgemeine Aussage, sondern ein geheimes Bekenntnis, nicht eine Norm-, sondern eine Gegendarstellung. In diesem Sinne gehört die Anekdote eher zur Biografik als zu einer Geschichtsdarstellung.

Mit Biografischem befasst sich die Künstleranekdote im 18. Jahrhundert – Thema und Inhalt des neuen Werks von Werner Busch (u.a. «Das sentimentalische Bild»). Die Anekdote beschreibt «den geglückten unmittelbaren Naturzugriff des Künstlers» (8), ganz in der Tradition von Plinius. Zugleich jedoch steht sie im Wandel einer Geschichtsauffassung, die sich im 18. Jahrhundert ablöst vom ‘Exemplum’, hin zu einer Geschichtsschreibung, die von einem Studium der Quellen ausgeht. Darstellung und Beschreibung von geschichtlichen Ereignissen sind in der Folge konstruierbar, der Wahrheitsgehalt der historischen Erkenntnis ist relativiert. (8)

Die Anekdote ist also ein kleines Stück Dichtung und Wahrheit, das sich historischer Daten bedient, nur um etwas Richtiges und Wahres über die Person in ihrer Zeit auszusagen. (23)

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Buchempfehlung: Zeitsprünge – Basler Geschichte in Kürze

Das Historische Museum Basel feierte im letzten Jahr sein 125-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass wurde die gleichnamige Ausstellung mit vielen eindrücklichen Exponaten eröffnet.

Aber das Buch ist nicht nur Begleiter dieser Ausstellung, sondern ein ganz besonderes Werk für Alle an Basels Geschichte Interessierten.

Das Besondere ist die Art der Präsentation. In beeindruckenden Bildern auf jeder Seite und angenehm kurz gehaltenen Beschreibungen wird die Geschichte unserer Stadt in Schlaglichtern, im Überblick von frühen menschlichen Spuren bis in die heutige Zeit, dargestellt.

„Zeitsprünge“ ist kein Geschichtsbuch im herkömmlichen Sinne, es verfolgt keine chronologische Abfolge. Der Schwerpunkt liegt, nach kurzen Rückblicken auf die ferne Vergangenheit, eher auf der jüngeren Zeit, der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, und städtebaulichen Entwicklung unserer Stadt während der letzten zwei Jahrhunderte. Kurz gefasst, spannend und aufschlussreich!

Esther Stich, Hofstetten, 02.10.2020

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Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abschieds.

In einer langsam voranschreitenden Erzählung schildert Melitta Breznik die letzten Tage ihrer Mutter: Vom Zerfall des Körpers, den inneren Kämpfen von Mutter und Tochter, aber auch vom immer wieder aufblitzenden Schalk der Sterbenden sowie vom gemeinsamen Erinnern an ein gutes als auch schlechtes Früher. Stimmungsvoll fängt Breznik die Szenerie ein und wird dem Thema mehr als gerecht. Die Lektüre vermittelt sachte die zunehmende Langsamkeit und Schwäche des Körpers, die sich bemerkbar machen. Genauso wie dem physischen wird auch dem psychischen Aspekt gedacht. Ängste, Gewissensbisse und Stress, die nur allzu gut nachvollziehbar sind, werden eindrucksvoll geschildert. Und dennoch kippt das Ganze nie in etwas Effekthascherisches. Die Wirkung ist auch so gegeben. Die vermittelte ruhige Art und Weise ist es schliesslich, die am Ende der Lektüre dazu führen kann, dass trotz des schweren Themas etwas Gutes bleibt: Trost.

Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abschieds. Luchterhand 2020.

Patrik Svensson – Das Evangelium der Aale

Hanser, München, 2020

Diese sehr persönlich geprägte Geschichte des Aals versammelt vier verschiedene Umgangsweisen mit ‚Naturgeschichte‘.

(1) Eine autobiografische: Die Beziehung des Autors zum Vater erschliesst ihm die Beziehung zum Aal und der Natur, der Natur am Ort seines Vaters. Und umgekehrt bestimmt dann seine intensive Beschäftigung mit der Geschichte des Aals die Beziehung zum Vater.

(2) Eine historische: Alle Quellen einer wissenschaftlichen und literarischen Beschäftigung mit dem Aal, von Aristoteles über Freud und Günter Grass zu Boris Vian, sind erwähnt und ausführlich beschrieben; sie tragen wesentlich zur Geschichte des Aals bei.

(3) Eine philosophische: Der Philosoph Thomas Nagel verneint ein identifizierendes Bewusstsein zweier verschiedener Wesen. Ich kann mir erklären, wie ein anderes Wesen wahrnimmt, aber unmöglich vorstellen wie das ist und sich anfühlt. Insofern kann der Aal für den Menschen auch immer etwas Geheimnisvolles bewahren.

(4) Eine anthropomorphische: Im Gegensatz zu Thomas Nagel versuchte die Wissenschaftlerin Rachel Carson eine Methode, die eher der Fabel und dem Märchen eignen, eine Art Verpersönlichung des anderen Wesens. Nicht der analytische Verstand, sondern eine vermenschlichende Einbildungskraft ermöglicht, IN den Aal hineinzudenken und dann aus ihm die Welt wahrzunehmen – ihm näher zu kommen.

Die Erfahrungen und Erlebnisse des Aalbiografen Patrik Svensson gingen hingegen stets ins Gegenteilige. Je näher er dem Aal gekommen zu sein glaubte, desto mehr hat sich der Aal entzogen, solange, bis der Autor selbst ihn schliesslich ins Unerforschliche ziehen liess.

Aktuell er- und verhärtet sich diese Tendenz zur Tatsache. Der Aal stirbt aus und entschwindet (uns).

Der Titel des Buchs indes weist auf eine noch andere Geschichte – gleichsam auf eine geheime und mögliche Wiederkunft des Aals. Und es sind der Ton und der Stil dieser anderen Geschichte, in denen uns Patrik Svensson mit dem Aal vertrauter macht.