Andreas Reckwitz: Pandemie und Staat. Ein Gespräch über die Neuerfindung der Gesellschaft.

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Dabei handelt es sich um ein Gespräch in der Reihe «rausgeblickt» der Friedrich- Ebert-Stiftung. Diese hat mit der «Akademie für Soziale Demokratie […] einen Ort zur Reflexion grundsätzlicher Fragen aus der Sicht der Sozialen Demokratie» geschaffen. In der Reihe «rausgeblickt» werden Gespräche geführt im Zusammenhang mit dem Phänomen der Pandemie. Ausgehend von der Krise werden soziale, persönliche, bildungspolitische, gemeinschaftliche Handlungen und Haltungen untersucht – immer mit Blick nach vorne.

Andreas Reckwitz ortet die Krise historisch, er betrachtet Wandlungen und Schwellen anhand von Strukturmerkmalen der Gesellschaftsformationen. Industrialisierung, Ökonomisierung, Technologisierung sind bisherige Merkmale, die entsprechend verschiedene bestimmende Werte und Kategorien geschaffen haben. Der neueste Wertewandel prämiert das Singuläre, schafft aber von der Gesellschaftsstruktur her ein Dreiermodell, das die Schicht der Service Class stark ausbaut. Durch die Krise steht diese entweder vor dem Ruin oder vor einer Forderung, die systemrelevant geworden ist. (53) «Vielleicht sind wir da am Anfang eines neuen Paradigmas* (61), das vor der Grundentscheidung Ordnung – Dynamik, Sicherheit – Fortschritt einen Ausgang aus der Ausnahmesituation sucht. Im Kontext von Sozioökonomie und Soziokultur beobachtet Reckwitz eine zunehmende Heterogenität sozialer Anerkennung und eine Erosion ziviler Normen. (64) Zudem zweifelt er, ob mit und nach der aktuellen Krise ein komplett neuer kultureller Kompass bestimmen werde.

Was das Problem sozialer und kultureller Heterogenität betrifft, Fragen also, die unter der Idee des Gemeinsinns behandelt würden, (70) sieht er Lösungen und Möglichkeiten vor allem in Mikrokosmen (ein Stadtteil, eine Institution). Vorbildhaft nennt er hier den Bildungssektor, der «mit grosser Heterogenität in der Schülerschaft» (75) umzugehen verstehe. Auch wenn das «Fortschrittsnarrativ» durch die Krise rückläufig geworden ist, auch wenn ein «Verlust an Zukunft» festgestellt werden kann, so wird andererseits eine Offenheit für Interaktionsorte sensibilisiert. (77) Damit solche vermehrt verwirklicht werden können, bedarf es sowohl sozialer Fantasie wie auch einen grösseren Einfluss an Repräsentanten.

Weitere Titel aus der Reihe «rausgeblickt».

Matthias Wittmann «Die Gesellschaft des Tentakels»

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Tentakel sind gemäss der offiziellen Zoologensprache die acht Arme bei Oktopoden. Aber eigentlich haben «Oktopoden […] acht Arme, die Füsse und Hände und Augen und Schwänze und Gehirne und (provisorische) Gelenke und Zungen und Geschlechtsteile und noch viel mehr sein können.» (8) «So gesehen sprechen Oktopoden in acht Zungen zu uns.» (9) Das erste Kapitel in diesem Tentakel-Buch heisst logischerweise – ‘logisch’, ein Wort, das für das tentakelhafte Zusammenwirken gerade nicht gilt – «Vielzüngigkeit».

Die Sprache des Autors passt sich dieser Vielzüngigkeit an. Kann man seine Sprache beredt nennen? Nein, sie ist viel mehr. Sie ist fröhlicher Übermut, übermütige Akrobatik, überschüssige Virtuosität, «ominöse Überfüllung» des Sprachgefässes. Es ist ein Genuss, das Tentakel-Buch von Matthias Wittmann zu lesen.

Oktopoden haben mehrere Zentren. Sie funktionieren je einzeln nicht systematisch und auch nicht systematisch zusammen. Das fasziniert den Autor. Damit eröffnet sich ihm ein immenses Feld von fiction und Forschung, Einbildungen und KI, Phantasmagorien und historischem Wissen, Ängsten und wissenschaftlicher Neugier. Er untermalt diese Szenerien mit Filmbeispielen und konturiert sie mit literarischen und philosophischen Hinweisen.

«Ein tentativer, tentakulärer An-Fang könnte die Frage sein, warum uns Kraken so unfassbar ergreifen.» (15) Oktopoden haben keine Hardware, ihr Körper ist skelettlos und ungeschützt. (13) In der Folge besteht seine Wirkung auf die menschliche Einbildungskraft darin, sie «vergessen zu lassen, dass es eine solide Datenbasis […] überhaupt geben könnte.» (16) Und weiter faszinieren seine Augen. Ein Film hat versucht, die menschliche Wahrnehmung in den Oktopoden zu transplantieren, nicht, um diesen zu anthropomorphisieren, sondern um die menschliche Wahrnehmung oktopodisch zu dezentrieren. (18) Und dann plötzlich wird, wer sich wahrnehmend vorwagt, angeblickt und angesaugt. Und befindet sich ungewollt in der Gesellschaft von Tentakeln, einer multiplen Gestalt, die uns mit ihrer mehrfachen Ambiguität in sich bannt. «Ob der Oktopus die Gestalt unseres Verschwindens ist, sei dahingestellt. Der Oktopus ist mit Sicherheit die Gestalt unserer krisenhaften Gegenwart und einer neuen Realität von Relationen.» (202)

Botho Strauss «Nicht mehr. Mehr nicht – Chiffren für sie»

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„Vor mir steht mein Name. Er schliesst alles aus, was ich bin.“ (7) Im Folgenden erzählt die Protagonistin des neuen Textes von Botho Strauss, die norddeutsche Dichterin Gertrud Vormweg, ihr Leben.  Sie spricht, sie schreibt in Aufzeichnungen, Notaten, Notizen – Botho Strauss nennt sie „Chiffren“ – in gleichsam loser Folge und doch in der Folge einer Geschichte, einer Entwicklung und schliesslich einer Überwindung. Es ist die Geschichte eines Verlassen-Werdens und Verlassen-Seins. Es ist nicht (nur) ihre Geschichte. Sie erzählt ihre Geschichte als Geschichte der Dido, lieber Elissa genannt, sie erzählt die Geschichte im Vorbild ihrer Geschichte. Dazu dienen die Aufzeichnungen, die Form, die Botho Strauss  „Chiffren“ nennt.

‚Vormweg‘, der Name der Dichterin, ist der Anfang einer extremen Spannung mit der Aporie als ihrem Ende. Von diesem Ende, vom Verlassen-Sein her entstehen die Chiffren. „Oder ist der Weg verloren gegangen?“ (13) Chiffren gehen durch die Zeiten hindurch, über Zeiten hinweg, vergessen das Vergehen (der Zeit). Sie gewähren der Sprache Asyl, ein Dach über dem Kopf, sie ermöglichen überhaupt Sprache. Sie setzen zu einem Sprechen an, das versiegt war und das nun, mit der Anderen (mit dem Vorbild, mit Dido) wieder aufbricht zu einer Ich-Form, mit dem anderen gelebten Leben wieder eine Geschichte erwirbt. Und damit kann sie ihr Schicksal in eine sprachliche Form bringen.

Ihr Sein, ihr Verlassen-Sein, scheint durch ihr (auch erworbenes) Schicksal hindurch. Ihr Schicksal ist gleichsam „geprägte Form“. Ihr (neues) sprachliches Ich hingegen, durch das das Sein nicht durchscheint, bricht zu einem neuen Sprechen auf, das aus dieser Form herausgetreten ist. Die Chiffren benennen die Erinnerungen um. Sie haben das, was nicht aussprechbar war oder was nur in Aus-Reden zerredet werden konnte, verlassen und mit einem Sprach-Tanz begonnen. Die Sprache verwandelt das Nicht-Mehr, die geprägte Form im Zeitstrahl. Mit der neuen Sprachform verwandelt auch sie sich. Als Verlassene blieb sie zurück, wartete, lernte zu dulden und beginnt nun, das Nicht zu akzeptieren. Das tanzende leere Kleid des Covers (Buchumschlags) ist ein schönes Bild für diesen gegenläufigen Prozess, der Sprache gegen die Zeit. Es ist, als hätte eine Vergebung stattgefunden, und die Vorgeschichte und ihr Schicksal wären gleich-gültig geworden. Damit entsteht eine neue Spannung, diejenige von Ichten – Nichten (Celan), oder ist es umgekehrt?

Das Verfahren, nach dem Botho Strauss in diesem Text quasi kryptisch, chiffriert vorgeht, hat er in einem anderen Essai so beschrieben: „Ich möchte ein Gebärdensammler gewesen sein. – Ein Palimpsestleser, der bei jedem Menschen, den er betrachtet, die Erstschrift eines tieferen Lebens entdeckt.“ (in: „Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern.“ – Rowohlt, Hamburg 2020. S.160)

[Ich verdanke diesen Hinweis Ralf Neubauer, HyperWerk]

Fredric Jameson «Raymond Chandler – Ermittlungen der Totalität»

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Diese Ermittlungen des amerikanischen Professors für Komparative Literatur über Raymond Chandler’s Kosmos sind nicht nur eine umfassende Chandler Biografie, nicht nur eine detaillierte Untersuchung seiner Krimis und Schriften, nicht nur eine Analyse seiner Verfilmungen, nicht nur eine Typologie von Amerika und seiner Gesellschaft, nicht nur seine Theorie des Krimis, sondern auch eine elaborierte Darstellung über sprachliche Experimente, der Sprache der Moderne, «in der Wörter zu Objekten geworden sind» (12).

Los Angeles ist häufiger Schauplatz von Chandler’s Krimis und bietet bereits einen Mikrokosmos, an dem beispielhaft die räumlichen Koordinaten und die soziale Typologie erkundet werden können. Dabei geht der Autor den Gängen des Detektivs nach. Oft wird er weg vom Zentrum an die Ränder der Stadt geführt, er beginnt wahrzunehmen, was und wie ein flüchtiger Blick wahrnimmt. Das Vage, Ungefähre, Vernachlässigte, Beinah-Entgangene geraten dadurch in sein Sichtfeld. Und seine Ermittlung setzt wie mit einem zweiten Blick bei dem an, was unbeachtet vorübergeht, was als ephemer und geringfügig übersehen wird. Die Wahrnehmung der Ränder machen erfahrbar, was bisher unbekannt war und nun wie ein fremdes Territorium erscheint.

Zugleich haben die Ränder eine Umschalt- oder Passagefunktion aus dem Zentrum in etwas Anderes. Das Andere ist z.B. die Wüste, ein leeres, ödes, fremdes Gebiet. Und hier beginnt der eigentliche Chandler. Hier beginnt eine Spurensuche, die die Koordinaten sprengt und der Versuch, das Zentripetale und Zentrifugale miteinander zu koordinieren in extreme Spannung bringt. Der eigentliche Fall, die wichtigen Episoden werden dabei immer stereotypischer, verweisen auf analoge Situationen, beginnen einander ähnlich zu werden und dadurch an sich auf andere Weise belanglos. Die Spuren führen den Ermittler schliesslich dorthin, wo das zu ermittelnde Ereignis bereits versandet ist, verjährt. Der Fall ist nicht nur belanglos geworden, sondern verschwunden. Er kehrt um und geht in sein ‘office’ zurück, um den Fall abzuschliessen: Mit der paradoxen Schlussfolgerung, dass der Fall insofern als abgeschlossen gilt, als das Verbrechen sich als in sich geschlossen erweist.

Elisabeth Masé «Das schlafende Krokodil»

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Das Romandebut der aus Basel gebürtigen, in Berlin lebenden und tätigen Autorin und darstellenden Künstlerin Elisabeth Masé versammelt Szenen einer Kindheit, der Kindheit eines Mädchens. Die Erlebnisse und Wahrnehmungen werden durchwegs aus der Sicht des Mädchens erzählt, jedoch unter strikter Beibehaltung der sächlichen ES-Form. Indes ist die ES-Form hier nicht die Möglichkeit einer Objektivierung, die das Ich zu seinem Schutz vorgibt. Die ES-Form ist, ganz allgemein ausgedrückt, das Auswendige des Mädchens, Hülle, Körper, Haut, Erscheinung, Fleisch.

Man könnte von einem Schirm, einer Art Projektionsfläche sprechen, auf dem und durch den, was dem Mädchen passiert und sich ihm ereignet, abgebildet wird. Das Mädchen scheint in einer Höhle zu sein.

Das Mädchen passiert Kindheit, frühe Jugend, Schulzeiten, Sportferien, erste Freundschaften, Pubertät, Adoleszenz, Beziehungen, Studium. Die erste Szene ist dabei eine Schlüsselszene, um das Mädchen in seinem ES, in seiner Höhle, in seiner Art Abwesenheit zu tasten. Kippbilder, Umstülpungen, Träume, Verwandlungen, Angstbilder verhalten das Mädchen in seiner Verbannung. Dort, in der Abgeschiedenheit, schläft, hinter Glas, das Krokodil.

Das Mädchen wartet, dass das Krokodil aufwacht.

Schon früh gibt es die rebellische, doch klare Überzeugung: «Ich werde Malerin […].» (38) Es produziert Zeichnungen, zu jeder Zeit, an jedem Ort: «Es lebt auf Papier […].» (37)

Zeichnungen und Bilder der Autorin begleiten auch den Text. Alters- und Entwicklungsstufen produzieren verschiedene Stile. Darum geht es nicht. Es geht darum, dass dieser permanente Prozess analog zum Prozess der ES-Erzählung eine Projektionsfläche bietet, für das Krokodil und für den Stift in der Hand.

R.D. Precht «Von der Pflicht – Eine Betrachtung»

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Das Thema der Pflicht erscheint mir in der seit zwei Jahren aktuellen Covid-Situation als das wesentlichste und brennendste überhaupt. Gäbe es einen Diskurs über Covid-Diskurse, dann mit dem Thema der Pflicht. Richard Precht unternimmt lobenswerterweise den Versuch, darüber zu reflektieren. Sinnigerweise nennt er seine Erwägungen «Eine Betrachtung» und stellt damit klar, dass er nicht nur unbeteiligter Augenzeuge, sondern teilnehmender Beteiligter IN der aktuellen Situation ist.

Die aktuelle Situation ist durch den Ausnahmezustand, durch Medien und Massenmedien und durch einen in der Menschheitsgeschichte erst- und einmaligen globalen Schwung total/totalitär regiert und organisiert. Nichtsdestotrotz betreibt Richard Precht eine Historisierung von rechtlichen und staatlichen Konstitutionen, eingebunden darin eine Geschichte der Hygiene und der Infektionen resp. Epidemien. Aufgeklärt und überzeugend betrachtet er Grundrechte, gegenseitige (Staat – Bürger) Verantwortungen und Pflichten, Verhältnismässigkeit der Massnahmen. Angemessenheit wird für ihn zum «Schlüsselkriterium legitimen staatlichen Handelns.» (88)

Dieses Kriterium verwiese auf eine Relativierung, die der Form der Betrachtung eigentlich und eingegeben ist. Diese Position vermisse ich an diesem Buch. So verbleibt seine «Pflicht» als eine Moral mit einer festen Unterscheidung (Befürworter – Gegner, Verschwörer) und im Rahmen, obwohl dieser global ist.

Es gibt keine Moral (gut – böse), keine Medizin (gesund – nicht-gesund), keine Politik (gesetzlich – ungesetzlich), die diese Unterscheidungen klarstellte, Gewissheit von Sicherheit bieten und globale Verantwortung übernehmen könnte. Womit gesagt sein soll, dass es darum geht, Unterscheidungen – kritisch – zu prüfen (gemäss Judith Shklar). Kritik fände dann statt mit und zwischen den beiden extremen Positionen ‘Totalitarismus (totalitäre Massnahmen)’ und ‘Anomie, die Demokratie im Zustand der Unregierbarkeit’. (168)

Es wäre spannend, eine Kritik an Prechts Pflichtbuch zwischen Mill und Baudrillard zu verspannen. «Der Kampf zwischen Freiheit und Autorität ist der bezeichnendste Zug […] Unter Freiheit verstand man den Schutz vor der Tyrannei der politischen Herrscher […].« (Mill, J.St.: Über die Freiheit. – Reclam, Stuttgart 20202, S.11 ff.) Baudrillard («Das radikale Denken». Matthes & Seitz, Berlin 2013, S.5 ff.) richtet seine provokative Kampfansage an die Realität und an die Existenz, aus dem Bewusstsein einer Parteinahme für die objektive Illusion der Welt und gegen den Glauben, «die Realität als seine Art Lebensversicherung einzusetzen oder als Konzession auf Lebenszeit, als eine Art Menschenrecht oder alltägliches Konsumgut.» Die Kritik hätte ihre Ausrichtung am Pflichtbuch von Simone Weil: «Die Pflicht ist allein nicht auf Bedingungen angewiesen. Sie hat ihren Platz in einer Sphäre, die über allen Bedingungen liegt, weil sie über dieser Welt liegt.» («Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber.» – Diaphanes, Zürich 2011, S. 7)

Judith N. Shklar «Über Ungerechtigkeit – Erkundungen zu einem moralischen Gefühl»

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«Jedes moralphilosophische Werk enthält wenigstens ein Kapitel über Gerechtigkeit und viele Bücher widmen sich einzig und allein diesem Thema. Wo aber bleibt die Ungerechtigkeit?» (29) «Gibt es nicht viel mehr über den Sinn der Ungerechtigkeit zu sagen, den wir so deutlich erkennen, wenn wir ihn empfinden? Warum also weigern sich die meisten Philosophen, über Ungerechtigkeit ebenso tief und scharfsinnig wie über Gerechtigkeit nachzudenken?» (30)

In ihrem neuesten Buch geht die politische Philosophin Judith Shklar diese Situation an; ihre Disziplin, die Politische Theorie, scheint ihr dazu besser als Geschichte und Ethik geeignet zu sein, «etwas gegen diese Situation zu unternehmen.» Sie geht das Problem an, indem sie nach der Grenze zwischen Unglück und Ungerechtigkeit fragt. Auf den ersten Blick scheint diese Grenze klar gezogen zu sein, das Unglück wird einem unvermeidlichen Los und Geschick, deren Ursache äusseren Naturgewalten zugeschrieben. Ungerechtigkeit hingegen betrifft die menschliche Existenz und Conditio und geht auf vermeidbare und bekämpfbare menschliche Konstrukte zurück. Bei einem genaueren Blick löst sich diese eindeutige Wahrnehmung auf. Schwarzsein scheint ein natürlicher Zustand, ein Erdbeben ein natürliches Ereignis zu sein. Durch gesellschaftliches Verhalten resp. durch wissenschaftliche Nachforschung werden der eine wie das andere als Ungerechtigkeit empfunden und erfahren, ihre Ursachen können auf ideologische Werte resp. auf Missachtung von Sicherheitsnormen zurückgeführt werden. Eine Tat, ein Verhalten mag aus einer bestimmten Intention hervorgegangen sein, das Gegenüber hingegen nimmt die Wirkung der Handlung so und so anders wahr, dass es sie auf einen anderen Sinn, eine andere Ursache zurückführt. – Das heisst, die Grenze zwischen ‘menschlich’ und ‘natürlich’ ist verschiebbar.

Um diese kaum zu bewältigende Problematik in den Griff zu kriegen, nimmt Judith Shklar den Standpunkt des Opfers ein, ohne dabei die Vorstellung einer moralischen Gewissheit zu übernehmen, es müsse eine klare feste Grenze zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem geben. (8) Die Missstände im Namen des Opfers sehen legt vielmehr nahe, «sie neuerlich zu überprüfen – und vor allem das Phänomen der Ungerechtigkeit mit neuen Augen zu betrachten.» (8)

Es gibt offensichtlich keine Möglichkeit, nicht zwischen Unglück und Ungerechtigkeit zu unterscheiden. (12) Werte, Urteile, Gesetze, Konventionen, Normen sind zwar historisch bedingt und erweisen sich als veränderlich und vielmehr als veränderbar. (13) Gleichwohl ergeht aus der Opfer-Perspektive die Forderung, die Pflicht sogar, die erlittene Ungerechtigkeit zu prüfen und ihr gerecht zu werden. Auf diese Weise funktioniert die Moral. Diese ist ein «rechtsähnlicher Begriff», der «viel zu wünschen übrig lässt, da er unserer alltäglichen Erfahrung moralischer wie politischer Entscheidungs- und Konfliktsituationen nicht entspricht.» (18) Die Moral verfällt wiederum der Vorstellung einer festen Grenze und misst , was dem Opfer widerfahren ist, an der Gerechtigkeit. Deren Regeln reichen gemäss Judith Shklar keinesfalls aus, über «die Forderungen Geschädigter» klar zu entscheiden. (25) Ebenso gilt, «ohne rechtliche Institutionen […] kann es keine […] gerechten […] gesellschaftlichen Beziehungen geben […].“ (33, 34)

Wie wir, die Bürger, die Gesetze verinnerlichen, muss das Rechtssystem unseren Sinn für Ungerechtigkeit aufrechterhalten (195) – könnte das Fazit dieses Buchs lauten.

Aether 04: Was ist neu an der New Economy? – Eine Spurensuche

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«Uns interessierte die Frage, welche Folgen die neuen Informationstechnologien nach der Krise der 1970er-Jahre und dem Ende des Kalten Krieges auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in der Schweiz hatten […] Es müssen also Wirtschaftsgeschichte, Unternehmensgeschichte, Technikgeschichte, Mediengeschichte, Geschlechtergeschichte, Stadtgeschichte, Sozialgeschichte und Politikgeschichte – kurz: ein umfassendes Spektrum von historischen Ansätzen zusammengedacht werden. Aether 04 wagt erste Schritte in dieses Unterfangen…» (A5,6)

Die Aufsätze und Abhandlungen in diesem Heft, das gleichzeitig mit Aether 05 erschienen ist (zu 05 gab’s bei uns eine Vernissage Veranstaltung), handeln von der technologischen Wissensgeschichte der Schweiz, die zugleich auch in den transnationalen Kontext gestellt wird. Sie betrachten die «Great Transformation» der Industrie, ausgelöst durch Grossrechner, PC, Internet etc., «zu einer Wissensgesellschaft und schliesslich zu einer sogenannten Digitalen Gesellschaft» (A5). Zugrunde gelegt wurde ein Artikel aus «WIRED», dem Sprachrohr der New Economy Bewegung, der die fundamentale Transformation historisierte und wie aus dem Rückblick betrachtete. (A4) Ein spannendes Szenario, das bereits das Narrativ für das vorliegende Magazin vorlegte – das jenes nun auf seine «empirische Belastbarkeit» prüfen kann. Dafür stellt Aether 04 eine zeitliche Projektionsfläche von 1980 bis 2020 bereit und gibt gut recherchierte Einblicke in vielfältige Entwicklungen von Vernetzungen. Vernetzung ist das Prinzip der technologischen Entwicklung. Sie ermöglicht immer grösser werdende Datensammlungen, aus diesen werden Algorithmen ermittelt, diese wiederum führen zu revolutionären Strategien bei der Vereinfachung und Steigerung von Prozessen und beeinflussen damit den Arbeitsmarkt. Gefördert wird diese Entwicklung durch die gleichzeitige Digitalisierung der Werbung.

Spannend ist, dass auf dieser retrospektiven Projektionsfläche gezeigt werden kann, wie Zukunft geschaffen wird, wie der Start neuer Technologien zukünftige Aussichten generiert. Diese haben enorme finanzielle Investitionen zur Folge, wodurch überhaupt erst die Finanzierung der Forschung und ihrer Unternehmen zustande gekommen ist.

Das Magazin versammelt Einblicke in die Forschung neuer Technologien und in Unternehmensgeschichten und stellt damit wertvolles ‘Material’ dar für die Bildung neuer Periodisierungen, Begrifflichkeiten und Transformationen – mithin: es stellt selbst bereits eine kleine wunderbare Wissensgeschichte der Technologie her.

Alexander Honold «Poetik der Infektion. – Zur Stilistik der Ansteckung bei Thomas Mann»

Diese Studie von Alexander Honold basiert auf seiner Gastprofessur in Bamberg 2020 sowie auf dem Thomas Mann Kolloquium an der ETH Zürich und an der Uni Basel 2019. Die Problematik der Krankheitsdarstellung in ausgewählten Werken von Thomas Mann wird sowohl in den grösseren wie auch aktuellen Rahmen von Medizin und Literatur verschoben. In dieser «Dissonanz» können aufgrund von kontagiösen sprachlichen Erzählformen kulturelle kognitive Deutungsmöglichkeiten bewirkt werden.

Literatur reagiert auf Krankheiten, Leiden, Epidemien, Infektionen – und zugleich übernimmt sie – die Ansteckung funktioniert auch in Hinsicht auf Sprache und Erzählformen – in quasi nachträglicher Manier eine kognitive Funktion in Hinsicht auf Krankheitsverläufe und Schicksale, politische Massnahmen und medizinwissenschaftlicher Forschung. Hierbei sind zwei Formen von Mimesis am Werk. (I) Durch Ansteckung bilden sich Krankheitsmuster und -verlauf in allen Facetten am Einzelnen und in der Gesellschaft ab (Ängste, Verdächtigungen etc.). – (II) Durch Ansteckung bilden sich eine medizinische und eine politische Terminologie in der Sprache, in der Sprache der Fiktion ab.

Literatur, umgekehrt, kreiert mit dem Abbild einer Struktur des Einzelnen und der Gesellschaft im Zustand von Krankheit und Epidemie eine Diagnose, eine Kritik und eine Deutung. Kann indes eine Poetik der «buchstäblichen Ansteckung» massgeblich und antizipierend Aufschluss geben für soziales und politisches Verhalten?

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Angelika Krebs: «Das Weltbild der Igel – Naturethik einmal anders.»

Schwabe Verlag. Basel 2021

Das neue Buch von dem AutorenInnen Kooperativ um Angelika Krebs ist eine Hommage an Peter Kurzeck und im Gedenken an ihn verfasst. 2013 hätte er an eine Tagung nach Basel und zu ihr ins Seminar kommen sollen – alles war vorbereitet. Ein Schlaganfall hat die Begegnung verhindert, indes nicht die Gespräche mit Peter Kurzeck. In dem vorliegenden Buch gehen sie weiter, imaginär, erinnert.

Da ist die aus dem Roman «Vorabend» stammende Geschichte der Igel, die für den Band titelgebend geworden ist (45): Fünf Igel wollen eine stark befahrene Strasse überqueren und schaffen es nicht. Zu dicht ist der Verkehr. Die Igel kennen den Weg seit je her, es ist der Weg zu ihrem Winterquartier. Dann halten sie das Warten nicht mehr aus und rennen los. Einer schafft es auf die andere Seite, zwei kopfüber zurück gerannt, zwei sind tot. – Weniger Autos und mehr Verkehrsregeln und -rechte für Igel wären Lösungen, statt derjenigen, dass die Welt-für-Igel «wegverschwindet». (51)

Aus Tierethik, Naturethik, Anthropozentrik, Ökozentrik lassen sich Positionen gewinnen in der Problematik um eine tier- und naturgerechte Welt. Mit Peter Kurzeck wird hier versucht, die Natur als ein Gegenüber zu begreifen, das uns zu fühlen und zu denken (auf-) gibt, dem man etwas schuldet. Eine naturästhetische Resonanz fordert von uns, dass wir anders in und mit der Natur leben. (13)

Um diese Sicht bewusst zu machen erschafft Peter Kurzecks Schreiben die Methode, Zeitebenen ineinander kippen zu lassen. Dazu sagt er: «Die Igel sind auch auf dem Bild, aber die sieht man nicht.» (34) Oder er veranschaulicht sein Vorgehen am Beispiel des Baums, der in den Himmel zeigt. An ihm begreifen wir schmerzlich, dass «wir die Erde nicht hätten aufgeben sollen.» (13) – Wir begreifen unseren Verlust.

Aus diesem Begreifen entsteht sein Roman «Vorabend» und steht für einen neuen Einklang mit der Natur. Dabei wird der Roman nicht resümiert, vielmehr wollen die philosophischen Einlassungen Lust machen, den Roman zu lesen, selber zu lesen.

Also, geht lesen. – So geht Lesen. (32)

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