Zwischen Marrakesch und Maputo liegt ein ganzer Kontinent der bewegten Vielfalt. Da ist zum Beispiel Lagos, grösste Metropole des Kontinents und Magnet für alle Menschen voller Selbstvertrauen und konturlosen Plänen. Gut getanzt wird in Lagos ebenfalls. Da ist der neue Afrobeat, die Musik der Millennials, die in den westafrikanischen Ländern pulsiert und wieder vermehrt dem eigenen Alltag, der direkten Umgebung und der eigenen Sprache entspringt. Da sind die Demokratien Botswana oder Mauritius mit ihren seit Jahrzehnten gut funktionierenden Mehrparteiensystemen. Da ist das nicht wirklich demokratische Land Ruanda, das allerdings mit über 60 Prozent den weltweit grössten Frauenanteil in einem gewählten Parlament aufweist. Da war einmal das Königreich Benin, vor seiner gewaltvollen Zerstörung durch britische Truppen eines der kulturell reichsten und technologisch fortschrittlichsten vorkolonialen Imperien. Da sind unzählige wertvolle Artefakte, wobei sich momentan – und das soll sich eine*r mal vorstellen – 90 Prozent des kulturellen Erbes Afrikas ausserhalb des Kontinents befinden. Nicht unerwähnt bleiben darf das süss-würzige und orangefarbene Reisgericht Jollof, um dessen beste und einzig richtige Zubereitung viele Länder Westafrikas miteinander rivalisieren. Genauso wie der Africa Cup of Nations mehr als nur ein Fussballwettbewerb ist, so ist Jollof weitaus mehr als nur ein Reisgericht.
Dies sind nur einige der unzähligen Steinchen des Mosaiks an Erfahrungen, Geschichten und Gemeinschaften, das Afrika – einen Kontinent mit 54 Ländern und über 2000 Sprachen – darstellt. In seinem Buch «Afrika ist kein Land» beleuchtet Dipo Faloyin unterschiedliche Orte in ihrer Gegenwart und Vergangenheit.
Es ist ein Buch, das wertvolles Wissen vermittelt und das Portrait eines modernen Afrika zeigt. Es ist ein Buch, das sich Unwissen und Stereotypen widersetzt. Dass afrikanische Staaten in der Regel scheitern und ihre Bevölkerungen dabei müde und passiv zuschauen, ist eine verkürzte beziehungsweise schlicht nicht zutreffende Vorstellung. Demokratien laufen derzeit leider weltweit Gefahr, ins Autokratische hineinzuschlittern – das ist keineswegs eine genuin afrikanische Erfahrung.
Doch echte Herausforderungen gibt es auf dem Kontinent durchaus, und sie werden von Dipo Faloyin nicht ignoriert. Er zieht überzeugende Linien in die Kolonialzeit und benennt (nicht als erster) die gravierende Mitschuld der europäischen Länder. Seine überzeugende Darstellung setzt bei jener grossen und falschen Karte ein, auf deren Grundlage die europäischen Grossmächte an der Berliner Konferenz 1884/1885 den afrikanischen Kontinent unter sich aufteilten, ohne auch nur im Geringsten an mögliche Folgen zu denken. Die Karte bestand aus «knapp fünf Metern topografischen Unsinns, skizziert von Männern, die nie einen Fuss auf 90 Prozent des Landes, das sie abzubilden behaupteten, gesetzt hatten.» Bis heute ist es die Standardstrategie des Westens, das Schicksal Afrikas nicht den Afrikaner*innen zu überlassen – und dabei immer auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein.
Doch Dipo Faloyin macht deutlich, dass die afrikanischen Länder für sich selbst sorgen müssen und dies auch können. Uns Leser*innen macht er in erfrischend klaren Worten auf gewisse verzerrte Vorstellungen in unseren Köpfen aufmerksam. Dazu passend schreibt die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie im vorangestellten Motto: «Wenn alles, was ich über Afrika wüsste, von den weit verbreiteten Bildern herrührte, würde auch ich denken, dass Afrika ein Ort mit schönen Landschaften, schönen Tieren und unbelehrbaren Menschen ist, die sinnlose Kriege führen, an Armut und AIDS sterben, nicht imstande, für sich selbst zu sprechen.» Das Buch «Afrika ist kein Land» ist mit guten Gründen eine nachdrückliche Leseempfehlung.
Dipo Faloyin: Afrika ist kein Land, Suhrkamp 2023.
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