Der Opportunist – eine Genealogie

Jonas Helbig
Wilhelm Fink, 2015.

Auf offenem Meer treibend, wartet das Schiff auf den Moment, in dem der Wind günstig ist, damit es schnell zum Hafen hin (ob portum) segeln kann. – Ursprünglich stammt der Begriff ‘Opportunismus’ aus dem griechischen Wort ‘kairos’, mit dem der richtige Zeitpunkt für eine Entscheidung oder ein Handeln bezeichnet wurde. Dann wandelt er sich zu ‘occasio’ und im 19. Jahrhundert zu ‘opportunitas’.
Opportunismus figuriert in einem Bereich der Macht, in einem binären System also (Freund – Feind), in dem der ‘kairos’ dasjenige Moment ist, das die Macht entweder zu stabilisieren und zu erweitern ermöglicht, oder aber zu destabilisieren und zu stören vermag.
Im gesellschaftlichen Bereich erfährt der Begriff eine Moralisierung. Der Opportunist wartet auf die günstige Gelegenheit, um eine Sache zu seinem Vorteil zu entscheiden, auf Kosten Anderer zu seinen Gunsten zu handeln, ohne sich dabei um die moralische «Gerechtfertigtkeit» zu kümmern. – Der Opportunist wird aufgrund des gültigen und aktuellen Wertesystem negativ gewertet und moralisch verurteilt. Wie der Kriminelle gegenüber dem ehrlichen Bürger, der Ketzer gegenüber dem Gläubigen steht der Opportunist gegenüber dem aufrechten Bürger.
Die genealogische Methode, die dieser Untersuchung zu Grunde gelegt ist, analysiert den jeweiligen ‘sozialen Diskurs’ (hier: denjenigen des Rechts, der politischen Kommunikation und der Oekonomie) auf seine Regelmässigkeit resp. Unregelmässigkeit hin. Sie interessiert sich für das historische Gewordensein von Normen und Werten und vor allem für die Schnittpunkte ihrer Umwandlungen. Zum Schluss und quasi als Reflexion geht die Arbeit ein auf Luhmanns Begriff des Opportunismus als einer «höheren Form von Rationalität», jenseits von Wert und Zweck.