Die Vegetarierin

Han Kang.
Aufbau, 2016 (original 2007)
übersetzt von Ki-Hyang Lee

Ein dunker Wald. Kein Mensch weit und breit. Während ich zwischen den dornigen Büschen herumirrte, zerkratzte ich mir das Gesicht und die Arme. Ich hatte den Eindruck, Teil einer Gruppe gewesen zu sein, aber offensichtlich hatte ich diese verloren. Ich hatte Angst. Mir war kalt. Ich durchquerte ein vereistes Tal, bevor ich einen hellen Bau entdeckte, der einer Scheune ähnelte. Ich schob die Matte vor dem Tor beiseite und ging hinein. Da sah ich sie: Hunderte von riesigen roten Fleischstücken hingen an langen Bambusstangen. Blut rann von den frischeren Stücken herunter. Ich lief unendlichen Reihen von Fleischstücken entlang und fand keinen Ausgang. Mein weisses Kleid wurde ganz blutig.

Yeong-Hye ist eine unscheinbare, angepasste Person, eine brave Tochter und eine folgsame Ehefrau. Was sie von den anderen Frauen unterscheidet ist lediglich der fast immer fehlende BH. Dann hat sie einen Traum. Einen Albtraum über menschliche Grausamkeit. Sie verbannt alles Tierische aus dem Haus und ab da gerät ihre Welt aus den Fugen: Ihr Mann verlässt sie, ihr besessene Schwager nutzt ihre Schwäche aus und vergeht sich an ihr, ihr Vater will sie mit Gewalt zu einer angepassteren Lebensweise zwingen, während ihre Mutter und ihre Schwester bei allem nur zuschauen. Doch Yeong-Hye kehrt nicht in den Alltag zurück, sondern verwandelt sich von einer Vegetarierin in eine Pflanze, die nur noch von Wasser und Licht leben möchte und bis zum Schluss, das Leben in einer psychischen Anstalt verbringend, sich noch immer in jenem Traum bewegt.

Wartet sie auf eine Antwort?

Han Kangs Roman ist ein Einblick darin was geschieht wenn jemand sich entgegen jeder Konvention anders benimmt – und somit von seinem Umfeld zur Vernunft gebracht werden soll. Ein verstörendes, schreckliches, lesenswertes Buch.

Han Kang (*1970) ist eine südkoreanische Autorin und Dozentin, die zwar mit Lyrik debütierte, jedoch vor allem für ihre Prosawerke bekannt ist, in denen sie oftmals die jüngere Geschichte Südkoreas verarbeitet. Für The Vegetarian hat sie den Man Booker International Prize 2016 gewonnen, den sie mit ihrer englischen Übersetzerin Deborah Smith teilte.