Andreas Guski: Dostojewskij. Eine Biographie.
C.H. Beck 2018
Andreas Guski, emeritierter Basler Slawistik-Professor, lässt in seiner dicht und elegant geschriebenen Biographie den grossen russischen Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski wiederaufleben. Er versucht diesen mit nüchternem Blick aus seiner Zeit heraus zu begreifen und jeglichen Formen der Verklärung entgegenzuwirken. Wie Guski im Vorwort schreibt, wird die Figur Dostojewskijs gerade jetzt von erstarkenden völkischen und orthodoxen Kräften in Russland wiederentdeckt. Nach der Lektüre der Biographie muss man zunächst eingestehen: keine gänzlich abwegige Bezugnahme. Guski macht jedoch klar, dass Dostojewskij ein Meister der Provokation war und es liebte, seine Thesen bis aufs Äusserste zuzuspitzen. Im Gegenzug hatte er auch keinerlei Hemmungen, umstandslos von vorgängig formulierten Thesen abzurücken oder ihnen völlig gegenläufige entgegenzuhalten. Dies zeigt sich in den dichten und präzisen Textinterpretationen Guskis, welche den Zugang zum Inhalt einzelner Erzählungen erleichtern und darüber hinaus reich an erhellenden Einblicken in die Schreib- und Gestaltungstechniken Dostojewskijs sind. Das Resultat ist eine gelungene Mischung aus Biographie und Exegese, die sogar bekennenden Fans blinde Flecken der Verklärung vorzuhalten vermag.
Das Schlüsselereignis
1821 geboren, landet Dostojewskij nach dem Tod seiner Mutter im Internat; er ist dreizehn Jahre alt. Bald darauf beginnt er die Ausbildung zum Leutnant an der militärischen Ingenieursschule. Vom Militärischen hält er nicht viel und widmet sich in dieser Zeit der Literatur. 1844 bittet er schliesslich um die Entlassung aus dem Staatsdienst. Nur ein Jahr später verhilft ihm sein Briefroman «Arme Leute» zum literarischen Senkrechtstart. Um 1848, inmitten der Wirren der europäischen Revolutionsjahre, schliesst sich Dostojewskij den «Petraschewzen» an, einem vom französischen Frühsozialisten Charles Fourier inspirierten revolutionären Zirkel. Im Jahr darauf werden Dostojewskij und einige weitere Mitglieder verhaftet und zum Tode durch Erschiessen verurteilt. Am 22. Dezember 1849 wird er in einer vom Zaren inszenierten Scheinhinrichtung zum Schafott geführt und wenige Augenblicke vor dem Schiessbefehl begnadigt. Das Urteil lautet nun vier Jahre Arbeitslager und weitere sechs Jahre sibirisches Exil. Dieses erschütternde Erlebnis wird zum Schlüsselereignis seines Lebens. Dostojewskij selbst beschreibt es als «Wiedergeburt» und Guski sieht darin nicht zuletzt auch eine Wende «vom linken Westler zum orthodoxen Slawophilen, vom Intellektuellen zum Volksfreund, vom Revolutionär zum Nationalkonservativen».
Die vier Jahre Arbeitslager in Sibirien gleichen einem Abstieg in die Hölle. Dostojewskij bringt die schrecklichen Zustände später in seinen «Aufzeichnungen aus dem Totenhaus» zu Papier. Die sechs Jahre Exil verbringt er als Soldat in der Garnisonsstadt Semipalatinsk. Auch dank eines Schreibens an die Zarin – über weite Strecken ein Musterbeispiel der Anbiederung – erlangt er schliesslich 1857 das Publikationsrecht wieder und kann nun damit beginnen, die vielen in der Zwischenzeit entstandenen Erzählungen zu veröffentlichen. Mit seinem Bruder gründet er die Zeitschrift «Die Zeit», in der von nun an seine Texte erscheinen. In den 1860er-Jahren, einer Phase gesellschaftlicher Öffnung im Russland des 19. Jahrhunderts – Abschaffung der Leibeigenschaft, Lockerung der Zensur –, trifft das Magazin den konservativen Nerv der Zeit. Insbesondere das Credo der «Bodenständigkeit», einen Kompromiss zwischen Slawophilen und Westlern anstrebend, verschafft den Brüdern Dostojewskij viele Leser*innen und Abonnent*innen.
Europa und die Spielsucht
1862 begibt sich Dostojewskij auf seine erste Europareise. Seine Empfindungen und Einsichten hält er in «Winternotizen über Sommereindrücke» fest. Die Schilderung von Städten wie Berlin, Paris und London zur Zeit der Weltausstellung sind eindrückliche Beispiele seines literarischen Könnens. Vor allem aber sind sie Vorboten der von nun an in seinem Werk stets präsenten Kritik an Kapitalismus, bürgerlicher Gesellschaft, Fortschrittsglauben und moderner Konsumgesellschaft. Dem Träumen vom gesichtslosen «universalen Allgemeinmenschen», das er sowohl Kapitalisten wie Sozialisten anlastet, stellt er die Bedeutung historischer, ja völkischer Verankerung entgegen; dem materialistischen Denken, die Fähigkeit des Einzelnen, sich aus eigener Kraft zu ändern. Auf diese Weise begegnet er dem von ihm als Gefahr erkannten, aufklärerischen Denkens westlicher Prägung entspringenden Nihilismus.
Gleichzeitig erliegt er den Reizen Europas. Während er unglücklich verliebt seiner verehrten Polina nachreist, macht er Bekanntschaft mit den in Europa legalen Spielbanken. Dostojewskij, ebenso leidenschaftlicher wie erfolgloser Spieler, wird von da an und bis kurz vor seinem Tode von Schulden und Gläubigern verfolgt. Er bezieht jeweils Vorschüsse, die er dann in Form von Druckbögen auf Termin zurückzahlen muss. Das Geld ist zu diesem Zeitpunkt meist bereits ausgegeben oder verspielt. So entstehen unter enormem Zeitdruck die Bücher «Aufzeichnungen aus dem Kellerloch», «Der Spieler» sowie «Schuld und Sühne». Bei der Niederschrift von «Der Spieler» – er hat drei Wochen Zeit dafür! – hilft ihm seine zukünftige Frau Anna Snitkina.
Gleich nach der Hochzeit im Jahr 1867 verlassen sie zusammen erneut die russische Heimat. Der vierjährige Europaaufenthalt wird zu einer eigentümlichen Mischung aus Hochzeitsreise und Flucht vor den Gläubigern, aus exzessivem Schreiben und verheerenden Ausflügen an den Spieltisch. Dank gütiger Mithilfe Annas entsagt Dostojewskij schliesslich dem Glückspiel und die mittlerweile dreiköpfige Familie kehrt nach Russland zurück. Er arbeitet für slawophile Magazine, nimmt immer öfter und dezidiert zu aktuellen politischen Themen Stellung und bringt seine letzten beiden Romane zu Papier. 1880 hält er die berühmt gewordene Puschkin-Rede, in welcher er diesen als Erwecker des russischen Selbstbewusstseins deutet und als gleichsam völkischen wie universellen Dichter preist. Im Anschluss wird er von der Menge als Prophet gefeiert und stirbt auf dem Höhepunkt seines Ruhmes wenige Monate später in seiner Petersburger Wohnung.