Ich kann dich hören

Katharina Mevissen: Ich kann dich hören
Wagenbach Verlag 2019

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Der Zauber des Zuhörens

Drohendes Verstummen
Die Welt des angehenden Cellisten Osman Engels gerät aus den Fugen, als sein Vater einen schweren Unfall erleidet und sich arbeitslos meldet. Osmans Tante Elide holt den Sohn deswegen von Hamburg zurück nach Essen, wo er den Dämonen seiner Kindheit in einer zerrütteten Familie begegnet, in der die Mutter davonlief und der Vater, ebenfalls Musiker, sich von seinen Söhnen weg in den Beruf flüchtete. Osmans Tante gab damals ihren Lebenstraum für ihn und seinen Bruder auf und zog die beiden gross. Eine Mauer des Schweigens und des Unglücks trennte die Familienmitglieder voneinander: Elide resignierte, die Söhne gingen so weit weg wie möglich, einer nach Kanada, der andere in eine Hamburger WG und in die Musik, auch der Kontakt zum Vater brach ab. In Hamburg kämpft Osman weiterhin mit Schweigen und Einsamkeit; ihm, dessen Verbindung zur Familie schon lange brach liegt, entgleitet nun auch der Draht zur Musik sowie zu seiner Mitbewohnerin, für die er Gefühle hegt, die er nicht in Worte fassen kann. Eines Tages findet Osman im Zug ein Diktiergerät, auf dem die spezielle Geschwisterbeziehung zwischen Ella und Jo aufgezeichnet ist.

Vom Schweigen zum Dialog
Der Roman setzt an der Stelle ein, an der verschiedene Figuren gegen ihre Situation rebellieren und damit Bewegung in ihr Leben und die gesamte Personenkonstellation um sie herum bringen. So lebt Elide endlich wieder ihr eigenes Leben, zieht nach Paris und stellt Osmans Vater damit unsanft auf dessen eigene Beine. Auch Osmans Mitbewohnerin ergreift unbeholfen die Initiative und bringt ihn in Zugzwang. Er weicht jedoch aus, arbeitet sich vergeblich an seinem Cello ab, bleibt frustriert und stumm und flüchtet zu Ellas Stimme im Diktiergerät. Diese hat Gespräche mit ihrer gehörlosen Schwester, Jo, auf Band gespielt. Auch Jo befindet sich in einem Emanzipationsprozess, dem Ella bloss hilflos zusehen kann. In Ella findet Osman endlich jemanden, der er sich nicht entziehen kann. Er ist völlig in ihrem Bann, muss ihre Gespräche mit Jo immer wieder anhören. Schliesslich beginnt er, auch sich selber und den Menschen um ihn herum wieder zuzuhören. Mit dem Gehör kommen auch Musikalität und Sprache zurück, und Osman schafft es, seine Vergangenheit

Kommunikation als Lebenselixier
Die 1991 geborene Katharina Mevissen, die für ihren Roman 2016 das Bremer Autorenstipendium erhielt, legt eine feinfühlige und intime Reportage vor über Menschen, die mitsamt ihrer jeweiligen Sprache nicht nur ihre Mitmenschen, sondern auch sich selbst aus den Augen verlieren und um diese Beziehungen ringen. Die Autorin versteht es meisterhaft, sowohl Sprachlosigkeit als auch verschiedene Ausdrucksformen – Deutsch, Türkisch, Musik, Geräusch – in ihren Text zu bringen. Den Soundtrack zum Buch, sowie Übersetzungen der Türkischen Passagen, sind dem Roman als Anhang beigefügt, es empfiehlt sich, die angegebene Musik beim Lesen auch zu hören. 
Jeder Figur gibt Mevissen eine ganz eigene Stimme, an der sie deren Charakterentwicklungen zeigt. Zu Beginn des Buches leiden alle Figuren spürbar an Kommunikationsproblemen, die nach und nach aufgelöst werden. So beginnt Elide, neben Osman die zweite Ich-Erzählerin, plötzlich wieder Türkisch statt ihrem fehlerhaften, spät im Leben gelernten Deutsch zu sprechen, als sie beschliesst, ihr Leben zu ändern. Suat hingegen lässt Mevissen nur widerwillig und in unfertigen Sätzen sprechen, genauso wie von seinen Mitmenschen scheint er sich von der Sprache jeweils auf halbem Weg zurückzuziehen. Erst sehr spät kommt er überhaupt zu Wort. Auch Osman kann sich zu Beginn des Romans vor allem durch die Musik ausdrücken, deren Sprache er ausgeliefert ist und in der sich sein Gemüt wohl oder übel zeigt. Osmans Worte hingegen sind ungelenk, fehl an Platz, seine Zerrissenheit zwischen verschiedenen sozialen Milieus und seine Unerfahrenheit gegenüber tiefen emotionalen Beziehungen scheinen durch. Zum vielleicht ein wenig kitschigen Ende der Erzählung hin findet sich Osman aber doch in der Musik wie auch in seiner nun flüssigen und fröhlicheren Sprache zurecht. Die kommunikativ wohl interessanteste Figur ist jedoch die gehörlose Jo, die nur als abwesende Gesprächspartnerin Teil der Geschichte ist. Ihre Worte finden sich einmal aus Osmans Perspektive, der nur Geräusche und Silben wahrnimmt, unterlegt mit Ellas Kommentaren, die mit Jo streitet. Am Ende des Buches wird dieselbe Passage aus Ellas Sicht beschrieben und erhält mit ihrer Übersetzung Sinn. Der Autorin, die sich im Literaturprojekt «Poesie Handverlesen» für gebärdensprachliche Literatur einsetzt, gelingt mit den Schwestern Ella und Jo eine eindrückliche Darstellung der nicht-lautlichen Sprache und der umso intensiveren Kommunikation.   
«Ich kann dich hören» ist ein kurzes, kunstvoll komponiertes Büchlein. Es hinterlässt trotz seiner leisen Worte einen bleibenden Eindruck und erinnert das Lesepublikum daran, wie schön das Leben sein kann, wenn man es teilt, wenn man miteinander in Verbindung steht und füreinander da ist.