Katya Apekina: Je tiefer das Wasser

Der Roman handelt von einem mittelmässigen Autor autobiografischer Romane: Ich resp. mein Leben kommen in all meinen Büchern vor, aber natürlich bin Ich NICHT der Protagonist.  Die Beschreibungen und Charakterisierungen werden von allen als Verrat empfunden. Ein betroffener Jugendfreund beschuldigt ihn gar des «emotionalen Vampirismus». Doch umgekehrt ermöglicht gerade dieser das Aufbrechen und Eindringen in tiefere Schichten einer Familiengeschichte, die symptomatisch steht für die Mentalität einer amerikanischen Generation, die im Rassenhass und -wahn gross geworden ist.

Der Roman besteht aus Stimmen, aus tagebuchartigen Kundgebungen, die vor allem im ersten Teil sehr genau und authentisch aus der jeweiligen persönlichen und zeitlichen Perspektive wiedergegeben sind. Im zweiten Teil bleiben die Stimmen zwar persönlich, werden jedoch zeitlich ausgreifender, werden reflexiv und erinnernd.

Nach dem Selbstmordversuch der Mutter [1997] sind die beiden Töchter aus dem  Süden zu ihrem Vater nach New York gekommen. Die Mutter befindet sich in einer Nervenheilklinik. Der Vater hat die Familie vor Jahren verlassen [1985], was die ältere Tochter, jetzt 16jährig, ihm nicht verziehen hat. Obwohl der Vater nun alles für das Wohl seiner Töchter tut, kann er nicht verhindern, dass die ältere zurückgeht.

Im ersten Teil sind die Konturen der Figuren noch gewahrt, obgleich mit dem Selbstmordversuch der Mutter schon ihre Auflösung in Gang gesetzt worden ist. Und je weiter diese fortschreitet, desto klarer wird, dass diese Entgrenzung des Ich, der Identität, die conditio der Personen ist. Verursacht wird diese mit der Fiktionalisierung durch die autobiografischen Romane des Vaters. Die Übergriffe des Vaters erfolgten stets mit dem Schreibstift.

Mit dem zweiten und den folgenden Teilen entsteht der neue Roman des Protagonisten-Autors und mit ihm eine gesteigerte Vereinnahmung der jüngeren Tochter. Immer mehr übernimmt sie die Rolle ihrer Mutter. Sie kann ihre Identität beinah beliebig mit derjenigen ihrer Mutter auswechseln, um in dieser Rolle weiterhin die Muse für den Vater-Autor und seinen Roman sein zu können. Doch wie sie behauptet, ihre Identität wechseln zu können, bleibt unklar, ob ihre Vorstellungen nicht bereits Wahnvorstellungen sind.

Diese Zone der Entgrenzung des Ich ist und bleibt sehr komplex. Und nicht messbar ist beim autobiografischen Roman auch die Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität messbar. Ihre Klammer besteht aus den beiden Positionen: (i) Die Andern erkennen sich wieder in den Romanen, (ii) die Romane entstehen nur dank der innigen Beziehung des Autors zu seiner Frau. Doch für den Autor gibt es in dieser Beziehung eine Quelle, die etwas Anderes ist als autobiografischer Stoff. Sie ermöglicht sein Schreiben – und schliesslich: sie konsumiert sein Schreiben. Der Roman ist dann nur das positive Produkt aus dieser Konsumation.

Der Schreibprozess hat den Autor in seiner Macht (‘er muss schreiben’) und in der Folge zieht er alle mitbetroffenen Leben in den Prozess hinein – und in die fiktive Welt. Sie werden für ihre Fiktionalisierung vereinnahmt. Sie dienen dem gelingenden Schreiben des Autors, dem gelingenden Entstehen des Buchs.

Damit legt die Fiktionalisierung die Grundlage zur Psychose, zur Selbstentfremdung und Selbstzerstörung. Doch umgekehrt gilt auch: die Selbstzerstörung ist der Ausweg aus der selbstentfremdenden Psychose.

Am Grunde dieses psychotischen Schreibprozesses stehen die Zeit und das Erleben des Rassenhasses und -wahns. Wie ist Mentalitätsbildung aufgrund solcher Erlebnisse möglich? Und wie sind Werte wie ‘Familie’, ‘Ehrfurcht’, ‘Treue’, ‘Verantwortung’ etc. möglich? – Sie sind möglich, das beweist das Leben des Jugendfreundes des Protagonisten-Autors. – Angesichts dieser Wahrheit wird der Verrat, den die Fiktionalisierung begeht, zu einem Verrat an sich selbst, also an der Literatur, und in eigener Sache.