Lena Andersson: Der gewöhnliche Mensch

Rezension von Julia Rüegger

Der Titel ist Programm: Ragnar Johansson ist ein durch und durch gewöhnlicher Mensch, und das bedeutet vor allem: einer, der sich Mühe gibt, gewöhnlich zu sein und ja nicht zu viel vom Leben zu erwarten. Denn: «Von Grösse zu träumen, hiess, das Normale für untauglich zu erklären, und das wollte er nicht.» (26) Geboren wurde er sieben Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in einem kleinen Vorort von Stockholm, wo er im Schoss des nationalen «Volksheims» zu einem soliden Bürger herangezogen wird. Und «Volksheim» (auf Schwedisch folkhemmet) bezeichnet als politische Metapher des schwedischen Wohlfahrtsstaates weit mehr als nur ein Regierungssystem: Es benennt eine ganze Ära und mit ihr das Versprechen, der schwedischen Gesellschaft durch eine Mischung von Leistungsdenken und Gemeinwohl, Fleiß und Rationalität in einen Zustand glückseliger Modernität zu verhelfen, die dem Leben seiner BürgerInnen umfassend Sinn und Struktur verleiht.

Ragnar geht in diesem Glauben voll und ganz auf. Er verwehrt sich dagegen, das Kutschereigeschäft des Vaters zu übernehmen, das seiner Meinung nach bald der Vergangenheit angehören wird, und wird Werklehrer an einer neugegründeten Schule. Kurz darauf trifft er Elisabeth, «knapp über dreissig, psychisch stabil und von unabhängigem Wesen» (67), die im ländlichen Norrbotten aufwuchs und in der Schule dazu angehalten wurde, Standardschwedisch zu sprechen. Sie wird trotz Einnahme der Pille schwanger, und so kommen kurz nacheinander Erik und Elsa zur Welt, die Ragnar im vollen Einklang mit seinen Werten zu erziehen versucht. Da passt es äusserst gut, dass die junge Familie bald in eine Neubausiedlung umziehen kann, die als Wohnraum der Zukunft und Inkarnation des Volksheims gepriesen wird: «Hier sollte die neue Zeit beginnen, leuchtend und strahlend.» (93) Neben kommunalen Sport- und Spielplätzen gab es allerlei «kommunale Räumlichkeiten, in denen man sich treffen konnte, um sich im demokratischen Prozedere zu üben und gleichzeitig Spass zu haben.» (92)

In dieser neuen Welt angekommen, dem Ballast der Vergangenheit enthoben, kann sich Ragnar ganz dem Sport widmen und seiner emphatischen Idee davon, was Moderne, Staat und ein gelingendes Leben bedeuten. Während sich der heranwachsende Sohn den Prinzipien des Vaters bald zu entziehen beginnt, versucht die Tochter als begnadete Skirennläuferin beinahe zwanghaft, ihrem Vater zu gefallen und seiner Leistungserwartung zu entsprechen. So vergehen Jahre, in denen Vater und Tochter jede freie Stunde beim Training oder einem Wettkampf in der schwedischen Provinz verbringen – bis zu dem Tag, an dem Olof Palme, der Premierminister und Garant des sozialdemokratischen Volksheim-Idylls, ermordet wird. Diese Tragödie, die ganz Europa erschütterte, markiert auch für Ragnars eigenes Leben eine Zeitenwende. Insgeheim wünscht er sich, wie seine Frau zuhause zu bleiben und das Staatsbegräbnis im Fernsehen mitzuverfolgen, anstatt auf einen weiteren anonymen Wettkampf zu fahren. Von nun an beginnt seine Prinzipientreue zu bröckeln, und als Elsa kurz darauf verkündet, mit dem Sport aufzuhören, scheint ihm das den Todesstoss zu versetzen. «Wenn er sich innerlich nicht so leer gefühlt hätte, hätte er geweint, aber das hätte ein lebendiges Herz verlangt, und seines schien tot.» (255)

Als Elsa sich mit Haut und Haar der Welt der Literatur und Philosophie zuwendet, fürchtet Ragnar, dass sie in «befremdliche Schichten» (262) aufsteigen könnte und fühlt sich zunehmend nutzlos und allein. Aber vielleicht hat es genau diese Desillusionierung gebraucht, damit Ragnar selbst noch einmal aus seinem zum Panzer gewordenen Weltverständnis ausbrechen kann. Er scheint zu erkennen, dass er sich jetzt als alternder Mann noch einmal selbst modernisieren muss, und das heisst vor allem: in seinen Werten und Gewohnheiten flexibler zu werden. Bei einer Schulfahrt in Paris kommt er einer Lehrerkollegin näher, geht eine Weile mit ihr fremd und trennt sich dann offiziell von Elisabeth, für die das Ende dieser eher zweckhaften Ehe wohl auch keinen Untergang bedeutet.

Zuletzt stirbt Mutter Svea, der an einem Herbsttag zwei Jahre vor Ende des 20. Jahrhunderts der Tod als «vorteilhafte Alternative» (281) erscheint. Mit ihr endet ein Jahrhundert voller Kriege und Traumata, aber auch ein Jahrhundert, in dem Schweden den Wohlfahrtsstaat bekam und Ragnar glauben konnte, Teil einer realen gesellschaftlichen Utopie zu sein (und eines Tages Vater einer Olympia-Siegerin).  Zwar hat Elsa gerade erfolgreich ihre Dissertation in Linguistik abgeschlossen, doch davon versteht Ragnar nicht das Geringste und weiss bei der Abschlussfeier auch nicht so recht, wohin mit sich. Aber immerhin: Er erkennt, dass Elsa ihren Weg gehen wird, in eine Zukunft, von der er nur noch einen kleinen Teil erleben wird.

Auch ich wusste beim Lesen streckenweise nicht so recht, wohin mit der Geschichte von diesem gewöhnlichen Menschen. Erzählt uns Andersson mit Ragnar die Geschichte einer Epoche, die in ihm nur personifiziert wird, oder doch eher die Geschichte eines Individuums, das zur befremdlichen bis tragischen Überidentifikation mit der damaligen Mentalität neigt? Oder will die Autorin ausleuchten, wie jemand altert, dessen Welt sich nicht in der vorgesehenen Richtung entwickelt, und der sich auf seine alten Tage zwischen Ratlosigkeit, Verwunderung und Scham neu erfinden muss? Oder ist der Roman der Abgesang auf eine Zeit, in der der Glaube an ein besseres Leben, an gute Bildung und Aufstiegschancen für alle noch mehrheitsfähig war?

Trotz guter Unterhaltung liess mich die Lektüre etwas ratlos zurück. Es fällt mir schwer, ein Porträt mehrerer Jahrzehnte zu lesen, ohne nach Anzeichen brodelnder Krisenherde Ausschau zu halten, wie sie uns heute auf Schritt und Tritt begleiten. Vielleicht aber wollte Andersson genau diese Empfindung heraufbeschwören und den Kontrast aufzeigen, der sich zwischen jener Zeit, in der man glauben konnte, es werde schon alles gut ausgehen, und unserer polarisierten, krisengeschüttelten Gegenwart aufgetan hat.

Zwar hätte ich von der Journalistin Andersson, die eine ausgewiesene Kritikerin ihres Landes ist, einen schärferen, dezidierter politischen Roman erwartet und gehofft, durch die Lektüre ein klareres Gefühl dafür zu bekommen, was das Volksheim für weniger privilegierte Menschen als Ragnar bedeutet hat, z.B. für Menschen, die dem Leistungsimperativ nicht ohne weiteres entsprechen konnten oder die in jenen Jahren nach Schweden migrierten und dort auf Fremdenfeindlichkeit stiessen (weshalb selbst der moderate Ragnar bei der Schulleitung dafür plädiert, die aufgenommenen Asylsuchenden besser aufs gesamte Land zu verteilen). Vielleicht müsste ich aber auch selbst Schwedin sein, um zu verstehen, dass in dem Roman doch mehr Schärfe und Doppelbödigkeit verborgen sind, als ich erkenne.

Lesenswert ist die Bekanntschaft mit dem «gewöhnlichen Menschen» und die Lektüre all der treffenden Situationsbeschreibungen und minutiös geschilderten inneren Vorgänge allemal. Nicht zuletzt deshalb, weil sich das Porträt einer Gesellschaft, die sich eine Zeitlang um Optimismus und sozialen Fortschrittsglauben versammeln konnte, trotz aller Differenzen auch auf andere westeuropäische Länder übertragen lässt – zumal auf ein Land wie die Schweiz, das ja ebenfalls seine Ragnars hat(te), auch wenn sie hierzulande eher Ueli oder Peter heissen.

Rezension von Julia Rüegger

Basel, 12.03.24