Levin Westermann „farbe komma dunkel“

Für seinen 2019 erschienenen Gedichtband «bezüglich der schatten» erhielt Levin Westermann den Schweizer Literaturpreis 2021. «farbe komma dunkel» ist 2021 bei Matthes & Seitz erschienen: ein hundertseitiges Langgedicht in durchgängiger Kleinschreibung ohne Interpunktion. – Aber bitte lesen Sie diese Rezension dennoch weiter. Die einzelnen Sätze sind in ihre Kola unterteilt, und diese sind auf der Seite zentriert, so dass die einzelnen Wörter wirklich grosses Gewicht bekommen. Gegliedert ist das Ganze durch das tagaus-tagein markierende «und dann/geht die sonne wieder unter/und dann/geht die sonne wieder auf».

Dazwischen wird in Spurenelementen ein durchaus banaler Alltag auf dem Land geschildert: Ein lyrisches Ich sitzt in einem Wintergarten, hat ein Hüftproblem, kann deswegen nicht joggen, und beobachtet Schafe, Hühner, ein Pferd, einen Pfau, liest Zeitung, kriegt Weltschmerz und möchte schreien, macht sich Sorgen um den Verbleib einer Katze, reflektiert zwischendurch auf erinnerte, kursiv gestellte Zeilen aus Gedichten anderer. Die mangelnde körperliche Bewegung führt zu immer stärkeren Ohnmachtsgefühlen, «und der kopf ist ein wrack / weil bewegungslos / erstarrt […] und was mich rettet sind die bücher / ist die sprache und ihr klang».

Das klingt nach spröder, betroffenheitspflichtiger Lektüre – aber es liest sich unwiderstehlich leicht, entwickelt einen Sog, die Beobachtungen sind wunderbar genau und dabei schlicht, und das Ganze ist hochmusikalisch, fast alles wird eingeknüpft in ein Netz von Leitmotiven und durchzieht ein grosses Klagelied über die «reflexive Ohnmacht» (so hat der englische Kulturtheoretiker Mark Fisher das Gefühl bezeichnet, dass es in die falsche Richtung geht, aber kein Ausweg in Sicht ist, weil alles so verstrickt ist). Sämtliche Mittel sind so eingesetzt, dass der Eindruck von Authentizität entsteht – und grosse Kunst macht ja dann doch froh, auch wenn sie bitter schmeckt. Wenn man Passagen laut liest (das sollte man ja bei Gedichten immer probieren) und sich dabei dem Rhythmus überlässt, blitzt stellenweise auch Humor auf. Nichts ist hier monoton, alles treibt auf einen Umschlagspunkt zu, an dem sich auch der Titel einlöst. Und die Zitate sind fast durchgehend so eindrucksvoll, dass man Lust bekommt, den dreissig (!) verschiedenen Autor:innen (bis anhin kannte ich davon nur fünf) nachzuspüren und sie zu entdecken, wie zum Beispiel die famose Annie Dillard, von der auch das Motto stammt. Am Schluss des Buches sind sie alle aufgeführt.       

Der schöne Pappband ist solide fadengeheftet, was ich sehr mag, denn ich bin fasziniert, trage ihn oft auf mir und lese immer wieder darin – für mich ist dies das Buch der Stunde.

Levin Westermann „farbe komma dunkel“. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021

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