Hermann Burger – Lokalbericht.
Edition Voldemeer, Zürich.
De Gruyter, 2016
Mit der grossen Werkausgabe aus dem Jahr 2014 rückte Hermann Burger 25 Jahre nach seinem Tod wieder auf die literarische Bühne zurück. Die Edition Voldemeer brachte bereits 2009 mit „Der Lachartist“ eine Erzählung aus Burgers Nachlass heraus. Nun wird ein weiterer, bislang unveröffentlichter Fund zugänglich gemacht: „Der Lokalbericht“. Der Titel klingt zunächst eher nach einer Mischung aus Zeitungsressort und Wettervorhersage und in der Tat spielt die provinzielle „Kulturhochburg“ Aarau eine Hauptrolle in diesem „Lokalbericht“. Doch Burgers Prosastück von 1970 ist weitaus mehr, als nur eine bitterböse Persiflage auf die Provinzschweiz und ihr verknorztes Sittenleben, sondern ein faszinierender „Metaroman“, eine Schreibwerkstatt und Wirklichkeitsfabrik, in welcher der Autor ein meisterhaftes Vexierspiel mit sich selbst treibt.
Doch worum gehts? Hauptprotagonist Günter Frischknecht arbeitet eigentlich an seiner Dissertation über Günter Grass, sowie als Lehrer an der Kantonsschule Aarau. Viel interessanter ist für ihn jedoch das Vorhaben, einen eigenen Roman zu schreiben. Im ersten Teil des Buches wird in den Schilderungen Frischknechts die literaturwissenschaftliche Akademia mit bissigem und spöttischem Humor aufgerieben. Nie verfällt das Buch jedoch dem erregt-wütenden Gestus eines Thomas Bernhard, sondern zeichnet viel lieber urkomisch-fantastische Szenen, etwa als die versammelte Autorengilde von Goethe bis Thomas Mann in der Universitätsbibliothek gegen die interpretierenden Jungstudenten rebelliert. Die Lesegemeinschaft Legissima, die alte Bibliotheksbestände auffrischt, indem sie diese einer Lektürekur unterziehen, sind dabei ebenso kurios wie der Buchhändler Laubschad, der seine Bücher vor der lesegierigen Kundschaft zu schützen versucht. Deutlich kristallisiert sich dabei als Hauptthema das Zusammen- und Wechselspiel von Literatur und Wirklichkeit heraus. Günter Frischknecht klopft seine Lebenswelt daraufhin ab, wie sie literarisiert und zur von ihm angestrebten „Germanistenprosa“ verwandelt werden könnte. Burger vermeidet jedoch gekonnt ein völliges Abdriften in endlose Reflexionsschlaufen. Sein „Metaroman“ weiss diese Untiefen spielerisch und gelenkig zu nutzen. Die Selbstthematisierungen der Schreibversuche von Frischknecht führen im zweiten Teil sodann ins titelgebende Herzstück des „Lokalbericht“: die Erinnerung an das Aarauer Jugendfest. Die Beschreibung der tumultarischen Ereignisse ist nun völliges Zentrum des Textes und versammelt in schreiend-komischen Szenen ein Personal von grotesken Dorfgestalten. In deren Mitte ist der 18-jährige Günter Frischknecht. Voller Liebeskummer malädeit er auf dem „Toilettenungemach“ des Stockturms, während um ihn herum die karnevaleske Dorfszenerie tobt. Zugespitzt wird diese Episode in der Binnenerzählung „Die Illusion“. Der junge Frischknecht wohnt darin einem Zaubertrick bei, in welchem eine junge Frau in zwei Stücke zersägt wird. Bildhaft wird hier die Frage nach Schein und Sein der Wirklichkeit inszeniert und der Roman erneut auf seinen eigenen Konstruktionscharakter hin beleuchtet.
Die Frage nach der Wirklichkeit des Literarischen ist damit ebenso Thema, wie das Literarische der Wirklichkeit. In einem umfangreichen und äussert erkenntnisreichen Kommentar wird die Entstehungsgeschichte des „Lokalbericht“ vom Herausgeber Simon Zumsteg beleuchtet. Burgers Sujets, so wird klar, sind oftmals aus Zeitungsartikeln und anderen Quellen heraus entstanden. Die Trennlinie zwischen Wirklichkeit und Literatur wird zunehmend flüssig, ebenso wie diejenige zwischen Autor und Figur. Wohin dieses Spiegelkabinett schlussendlich hingesteuert wäre, darüber lässt sich nur spekulieren. Der letzte Teil verstummt nach wenigen Seiten. Die letzte Szene des Buches bildet ein Gespräch zwischen Frischknecht und dem Literaturkritiker Felix Neidthammer, der das von Frischknecht vorgelegt Manuskript zerpflückt. Sein Schlusscredo lautet: „Wenn sie mich schon fragen, lieber Günter Frischknecht, ich würde diesen Roman nicht schreiben, vorläufig nicht.“ Dieser letzte Ratschlag wird im fragmentarischen Abbrechen des Buches pointiert Folge geleistet.
Mit Burgers „Lokalbericht“ liegt ein Buch vor, bei dem man den NachlasswühlerInnen gütlichst dankbar sein muss. Wunderbar ediert und mit skurriler Komik gespickt gilt es Burger nochmals neu zu entdecken.