Matthias Wittmann «Die Gesellschaft des Tentakels»

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Tentakel sind gemäss der offiziellen Zoologensprache die acht Arme bei Oktopoden. Aber eigentlich haben «Oktopoden […] acht Arme, die Füsse und Hände und Augen und Schwänze und Gehirne und (provisorische) Gelenke und Zungen und Geschlechtsteile und noch viel mehr sein können.» (8) «So gesehen sprechen Oktopoden in acht Zungen zu uns.» (9) Das erste Kapitel in diesem Tentakel-Buch heisst logischerweise – ‘logisch’, ein Wort, das für das tentakelhafte Zusammenwirken gerade nicht gilt – «Vielzüngigkeit».

Die Sprache des Autors passt sich dieser Vielzüngigkeit an. Kann man seine Sprache beredt nennen? Nein, sie ist viel mehr. Sie ist fröhlicher Übermut, übermütige Akrobatik, überschüssige Virtuosität, «ominöse Überfüllung» des Sprachgefässes. Es ist ein Genuss, das Tentakel-Buch von Matthias Wittmann zu lesen.

Oktopoden haben mehrere Zentren. Sie funktionieren je einzeln nicht systematisch und auch nicht systematisch zusammen. Das fasziniert den Autor. Damit eröffnet sich ihm ein immenses Feld von fiction und Forschung, Einbildungen und KI, Phantasmagorien und historischem Wissen, Ängsten und wissenschaftlicher Neugier. Er untermalt diese Szenerien mit Filmbeispielen und konturiert sie mit literarischen und philosophischen Hinweisen.

«Ein tentativer, tentakulärer An-Fang könnte die Frage sein, warum uns Kraken so unfassbar ergreifen.» (15) Oktopoden haben keine Hardware, ihr Körper ist skelettlos und ungeschützt. (13) In der Folge besteht seine Wirkung auf die menschliche Einbildungskraft darin, sie «vergessen zu lassen, dass es eine solide Datenbasis […] überhaupt geben könnte.» (16) Und weiter faszinieren seine Augen. Ein Film hat versucht, die menschliche Wahrnehmung in den Oktopoden zu transplantieren, nicht, um diesen zu anthropomorphisieren, sondern um die menschliche Wahrnehmung oktopodisch zu dezentrieren. (18) Und dann plötzlich wird, wer sich wahrnehmend vorwagt, angeblickt und angesaugt. Und befindet sich ungewollt in der Gesellschaft von Tentakeln, einer multiplen Gestalt, die uns mit ihrer mehrfachen Ambiguität in sich bannt. «Ob der Oktopus die Gestalt unseres Verschwindens ist, sei dahingestellt. Der Oktopus ist mit Sicherheit die Gestalt unserer krisenhaften Gegenwart und einer neuen Realität von Relationen.» (202)