Günther Freitag: Melancholische Billeteure.
Wieser 2017.
Von singenden Gebissen, toten autoritären Vätern und kriminellen Bewährungshelfern: «Melancholische Billeteure» ist ein Buch für Menschen, die gerne ins Theater (oder in die Oper) gehen, für Menschen, die gerne beissenden schwarzen (Wiener) Humor haben, und für Menschen, die gerne skurrile, aber liebenswürdige Figuren mögen.
Günther Freitag, von Haus aus Autor für das Theater («Drei Traumkongruenzen», 1990 und «Rost», 2010) und Romancier (zuletzt «Die Entführung der Anna Netrebko», 2015), gelingt ein grossartiges, aberwitziges Buch. Im Zentrum des Romans stehen drei Figuren: Edwin, Dora und Viktor. Edwin und Dora sind Billeteure am Burgtheater in Wien – und zwar mit Leib und Seele. Als «Kenner» sind sie für das linke Parkett zuständig, da sitzen nämlich die Leute, die die Stücke sehen wollen, während rechts die Leute sitzen, die gerne im Theater gesehen werden wollen. Edwin und Dora richten ihr Leben nach dem Spielplan im Theater, sie bereiten sich akribisch auf Vorproben, Hauptproben und Generalproben vor, schreiben jede noch so kleine Veränderung im Spiel auf, urteilen über das Regiekonzept und über die Leistung der Schauspielenden. Wobei natürlich immer die Regie schlecht wegkommt (oder der neue Intendant), die Schauspielenden dagegen sind wie Götter für sie. An «der Burg» spielen ja auch nur die Grossen, versteht sich. Edwin und Dora glauben, dass sie als Billeteure entscheidend mitverantwortlich sind für den Erfolg oder Misserfolg eines Theaterabends. Wenn die Leute auf der linken Seite merken würden, dass zwischen ihnen etwas nicht stimmt, dann würde das Unruhe im Parkett geben, die bis über den Bühnenrand in den Bühnenraum schwappen würde und die Schauspielerinnen und Schauspieler würden sich nicht konzentrieren können und folglich schlecht spielen. Die Harmonie unter den Billeteuren gilt es also zu erhalten! Freitag gelingt eine Schilderung des Theaterbetriebs, wie man sie selten liest. Auch wenn alles mit einem grossen Augenzwinkern geschrieben ist, findet man dennoch einige Körnchen Wahrheit in der absurden Welt des Theaters und kann sich ab und an ein lautes Lachen nicht verkneifen.
Doch die Harmonie zwischen Edwin und Dora gerät je länger desto mehr ins Wanken. Denn Viktor, der Exfreund von Dora, wird aus dem Gefängnis entlassen und kehrt ins Leben von Dora zurück. Obwohl sie ihn verachtet, fühlt sie sich stark zu ihm hingezogen und lässt sich wieder auf ihn ein. Edwin, der heimlich in Dora verliebt ist, bemerkt ihre «Affäre» mit diesem «Taugenichts» (wenn «die Burg» das wüsste…) und stellt ihr nach. Dass dies nichts Gutes für «die Burg» heisst, sei hier nur angedeutet.
Als ob dies noch nicht genug Sprengstoff bieten würde, verschachtelt sich der Roman immer mehr. Nebst den drei Hauptfiguren lernen wir nämlich auch die Mütter von Edwin (eine reiche, schnöselige alte Dame mit einem Papagei, den sie mehr liebt als ihren Sohn) und Viktor (eine senile alte Dame die behauptet, ihre Pflegerin wolle sie ermorden) sowie die «Frau Kammersängerin» kennen, die Dora in ihrer Freizeit betreut. Die «Frau Kammersängerin», die Dora «Maman» nennen muss, ist so ziemlich verrückt. Seit sie an ihrer ersten Premiere (vor rund 50 Jahren) keinen Ton herausgebracht hat, hat ihr Sohn es geschafft, sie in eine Scheinwelt zu retten. Er liess Zeitungsartikel fälschen, die von ihren grossen Auftritten schwärmen, hat ihr in ihrer Wohnung eine «Garderobe» gebaut, in der sie in ihrer erfundenen Vergangenheit schwelgen kann. Doch damit nicht genug: Für jede grosse Sopran-Rolle hat ihr Sohn, von Beruf Zahnarzt, ein Gebiss angefertigt (das «Donna-Anna-Gebiss» oder das «Tosca-Gebiss» etc.), die alle feinsäuberlich aufgeräumt in ihrer «Garderobe» darauf warten, eingesetzt zu werden. Gerade die Szenen mit «Maman» sind gleichzeitig so absurd und herzerwärmend komisch, dass man gar nicht mehr aufhören will zu lesen.
Auch die Väter, die eigentlich schon alle tot sind, geistern im Buch herum. Autoritäre Figuren, in ihrem Extremismus (sowohl der Sozialist wie auch der Faschist) total lächerlich und trotzdem gefährlich. Viktor und Edwin hatten keine einfache Kindheit, denn diese waren jeweils geprägt von Vorwürfen und Erniedrigungen durch die Väter.
Eine weitere wichtige Figur ist der Bewährungshelfer von Viktor, der ihn dazu nötigt, seine Verlobte zu beschatten, weil er denkt, sie habe eine Affäre. Da er ihn in der Hand hat, muss sich Viktor fügen. Dass die Verlobte tatsächlich eine Affäre hat, und zwar mit dem Sohn der «Frau Kammersängerin», ist nur eines der vielen Beispiele dafür, wie geschickt und undurchsichtig dieser ganze Roman gesponnen ist.
Klappt man am Ende das Buch zu, weiss man eigentlich nicht so recht, um was es im Roman wirklich ging. Vielmehr hat man einzelne wunderbare Szenen im Kopf, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Es bleibt das schale Gefühl, dass keine der Figuren am Ende ihr Glück finden wird, und dass dies fatale Folgen für «die Burg» haben wird.