Michael Hampe: Die Wildnis, die Seele, das Nichts. Über das wirkliche Leben

Hanser

Die Welt befindet sich im Ausnahmezustand. Draussen herrscht Chaos, die Versorgungslage ist prekär, die Zukunft ungewiss. Aaron Fisch, Verleger und Liebhaber der schönen Künste und des guten Essens, sitzt in seinem Haus fest, die Vorratskammer hat er in weiser Voraussicht mit Nahrungsmitteln vollgestopft. Nun versucht er sich an einer Biographie über seinen verstorbenen Freund und Dichter Moritz Brandt. Dabei kann er auf die Hilfe seiner intelligenten Computersoftware Kagami zählen. Sie hat nicht nur Zugriff auf ein enzyklopädisches Archiv, sondern auch auf Brandts Nachlass, bestehend aus Tagebucheinträgen, Notizen und drei ausführlichen philosophischen Essays.

Die oft sehr ausgreifenden Dialoge zwischen Aaron und Kagami werden von den drei Themen angestossen, die sowohl dem Buch als auch den drei Essays von Brandt den Titel geben. In unterschiedlichen Phasen seines Lebens hat sich Brandt ausführlich mit der Wildnis, der Seele und dem Nichts auseinandergesetzt. Von Hampe im Nachwort als «philosophischen Roman» bezeichnet, verbindet das Buch geschickt Erzählung und reflektierte Vertiefung. Da sind beispielsweise Tagebuchnotizen Brandts aus der Zeit, als er in Cambridge bei der berühmten Philosophin Dorothy Cavendish studiert. In Gegenüberstellung mit Notaten Cavendishs und den Essays ergeben diese ein detailreiches Bild der beteiligten Charaktere und machen Dringlichkeit und Triebkräfte der jeweiligen Denkwege nachvollziehbar.

Im Verlauf des Buches wird mehr und mehr klar, dass Brandts Schreiben von der Frage nach dem wirklichen Leben motiviert war. Was versprechen sich Menschen von der Konfrontation mit der Wildnis? Welchen Ursprungs ist die Vorstellung einer Seele? Wie geht man mit der Unausweichlichkeit des Todes um? Hinter all diesen Fragen steckt das Bedürfnis sich zu verändern und die Vorstellung, es müsste so etwas wie ein echtes, authentisches Leben geben. Doch – so eine implizite These Hampes – genau dieses Bedürfnis hält uns oft davon ab, unser wirkliches Leben zu meistern. Denn, so die ebenso implizite These: Unsere Gedankenausflüge sind immer in der uns umgebenden Welt und unserem Charakter verankert.

Hampes Buch ist unterhaltsam und ernst zugleich. Und obwohl philosophische Positionierung und Wertung weitgehend in die Figuren gelegt wird, offenbaren sich bei der Lektüre doch gewisse Ansichten über Philosophie oder zumindest deren akademische Formen. So zeigt sich der Konflikt unvereinbarer Positionen – der Kampfplatz endloser Streitigkeiten – als scheinbar grundlegende Konstellation philosophischer Auseinandersetzung. Oder wie Brandt in einem seiner Essays sagt: «Philosophie wird da interessant, wo es um unvereinbare Grundvoraussetzungen des Denkens, Handelns und Bewertens geht. Denn genau an solchen Stellen gerät sie an die Grenzen der Argumentation.» Die argumentativ abgestützte Behauptung kann hier nichts mehr beitragen.

Ein ähnlicher Gedanke findet sich bereits in vorangegangenen Büchern Hampes; so etwa im systematischer angelegten «Die Lehren der Philosophie – Eine Kritik». In Abgrenzung zu einer doktrinären Philosophie, wie sie an den Universitäten verbreitet ist, wird dort eine narrative Philosophie vorgeschlagen. Hampes neues Buch ist in dieser Hinsicht eine gelungene Probe aufs Exempel. Gelungen auch deshalb, weil der allzu menschliche Drang nach Vereindeutigung ebenfalls zu seinem Recht kommt. Denn selbst wenn, wie Aaron Fisch nahelegt, der Chor daraus entspringender (Selbst-)Behauptungen meist einem Jahrmarkt der Eitelkeiten gleichkommt, so scheint doch klar, dass das nicht zwingend so sein müsste.