Rezension von Julia Rüegger
Was passiert, wenn Vorurteile uns davon abhalten, unserem Gegenüber unvoreingenommen zu begegnen und seinen Aussagen grundsätzlich Glauben zu schenken? Was macht es mit mächtigen oder mit marginalisierten Personen, wenn keine Sprache und noch nicht einmal ein soziales Sensorium für Phänomene wie sexualisierte Gewalt oder psychische Erkrankungen besteht? Und wie wirken sich diese epistemischen Ungerechtigkeiten auf die persönliche Entwicklung von Individuen, auf unser soziales Miteinander und unsere Wissenspraktiken aus?
Diese ebenso komplexen wie hochpolitischen Fragen thematisiert Miranda Fricker in ihrem Buch »Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens», das bereits 2007 auf Englisch erschien, doch erst jetzt von Antje Korsmeier ins Deutsche übersetzt wurde. Es bietet grundlegende Analysen an der Schnittstelle von Ethik und Erkenntnistheorie, gepaart mit der Einsicht, dass unser Wissen und unsere Urteilsbildung nie nur das Abbild neutraler Informationsbeschaffung sind, sondern eingebettet in hochgradig soziale und politische Situationen, die von vielschichtigen Machtverhältnissen und vorurteilsgeleiteten Stereotypen durchzogen sind. Dass uns diese Gedanken inzwischen nicht mehr ganz neu erscheinen, ist auch Frickers theoretischer Arbeit zu verdanken.Der Philosophin ging es von Anfang an darum, Ansätze feministischer Kritik in das eher konservative Feld der Erkenntnisphilosophie einzubringen und blinde Flecken in der Theoriebildung anzusprechen, wie Fricker im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt: «Es war […] meine eigene rastlose Enttäuschung von der Disziplin der Philosophie, die den Anstoss zu diesem Buch gab, sowie mein Bedürfnis, diese Enttäuschung zu verstehen: Ich wollte zeigen, dass es zumindest eine glaubwürdige Theorie faktischen Wissens gibt, bei der Fragen von Macht, von sozialer Identität und von Vorurteilen im Zentrum stehen.» (16)
An zahlreichen Beispielen, die Fricker oftmals aus literarischen Texten oder Filmszenen bezieht, die sie einem detektivischen Close Reading unterzieht, zeigt sie im ersten, längeren Teil des Buches auf, dass Zeugnisungerechtigkeit (testimonial injustice) dann auftritt, wenn einer Sprecherin aufgrund von Vorurteilen auf Seiten der Zuhörerin nicht so viel Glauben geschenkt wird, wie es ohne diese Vorurteile der Fall wäre – kurz, wenn «ein Glaubwürdigkeitsdefizit aufgrund von Identitätsvorurteilen» (27) auftritt. Dieses Beispiel erläutert Fricker anhand einer Szene aus dem Spielfilm «Der talentierte Mister Ripley», in der Herbert Greenleaf, der Vater des ermordeten Dickie, seine Beinahe-Schwiegertochter Marge mit einer abschätzigen Bemerkung zum Schweigen bringt, als diese ihren Verdacht äussert, dass der gemeinsame Freund Tom Ripley der Mörder sei: «Marge, es gibt weibliche Intuition, und es gibt Fakten.» (33)
Aus Frickers Perspektive stellt Greenleafs Reaktion für Marge einerseits eine Ungerechtigkeit dar, die sie als wissendes Subjekt betrifft und damit zugleich in ihrem Menschsein herabsetzt: «Jegliches epistemische Unrecht verletzt jemanden in seiner Eigenschaft als Wissenssubjekt und damit in einer Eigenschaft, die für den Wert des Menschen wesentlich ist.» (28) Sind solche Situationen der Zeugnisungerechtigkeit anhaltend und systematisch, untergraben sie nicht nur das Selbstbewusstsein einer Person, sondern stellen laut Fricker gar eine Form der Unterdrückung dar. (92) Neben dem umfassenden Schaden, der für die betroffene Person entsteht, stellt Zeugnisungerechtigkeit aber auch ein allgemeineres Problem beim Versuch kompetenter Wissensbildung und Wahrheitsfindung dar. Denn wenn gewisse epistemische Ressourcen aufgrund von Vorurteilen auf Seiten der Zuhörer:innen nicht in angemessener Weise Gehör finden und dadurch die wahrhaftige Einschätzung einer Situation verunmöglicht wird, entsteht daraus mitunter eine fatale Verzerrung von Tatsachen, in deren Folge sich bestehende Machtverhältnisse und Ungerechtigkeiten wiederum reproduzieren können.
Als Antwort auf diese ebenso komplexe wie alltägliche Gemengelage aus asymmetrisch verteilten Glaubwürdigkeitsökonomien und der grundsätzlichen «epistemischen Schuldbeladenheit» von Vorurteilen plädiert Fricker nicht primär für gesellschaftliche Transformation, sondern für die Entwicklung bestimmter epistemischer Tugenden wie der Zeugnissensibilität, die Zeugnisgerechtigkeit auf individueller Ebene herstellen sollen. Die Tugend der Zeugnisgerechtigkeit als «Fähigkeit, mittels derer der Einfluss identitätsbezogener Vorurteile auf das Glaubwürdigkeitsurteil der Zuhörerin bemerkt und korrigiert werden kann» (29), kann Zeugnisungerechtigkeit zwar nicht ganz abschaffen, sie aber immerhin deutlich eindämmen, so Frickers Hoffnung.
Im zweiten, sehr viel kürzeren Teil des Buches erläutert Fricker, was sie unter der zweiten Sorte epistemischer Ungerechtigkeit, der «hermeneutischen Ungerechtigkeit» (hermeneutic injustice) versteht. Anders als die Zeugnisungerechtigkeit, die bestimmten Sprecher:innen aufgrund von Vorurteilen in spezifischen Situationen keine oder nur mangelhafte Glaubwürdigkeit zuerkennt, entsteht hermeneutische Ungerechtigkeit aufgrund einer «Lücke in den kollektiven hermeneutischen Ressourcen», einem «Mangel unserer geteilten Werkzeuge, mit denen wir gesellschaftliche Vollzüge deuten». (30) Mehrere Jahre vor Beginn der MeToo-Debatte erläutert Fricker in diesem Kapitel, wieso gerade der Fall von sexueller Belästigung lange Zeit von betroffenen Personen nicht erkannt und schon gar nicht sinnhaft gedeutet und als Belästigung benannt werden konnte – und als Folge davon auch nicht kritisiert und verurteilt werden konnte, weil es schlicht und einfach kein kollektives Bewusstsein von dieser Form des Unrechts gab. Aus solchen «hermeneutischen Lücken» (218) entsteht aber offensichtlich nicht für alle das gleiche epistemische Unrecht: vielmehr ermöglicht hermeneutische Ungerechtigkeit für einige Personengruppen einen strukturellen Vorteil und Machtzuwachs, während sie andere Personen (zusätzlich) marginalisiert und entmachtet; sie im Verstehen ihrer Erfahrungen einschränkt und schlimmstenfalls zu einer vollkommenen Ohnmacht gegenüber der eigenen Lebenssituation führt.
Auch wenn die hermeneutische Ungerechtigkeit nicht von Einzelpersonen begangen wird, tritt sie in der Regel in Gesprächen zwischen Einzelpersonen zutage. Die Tugend der hermeneutischen Gerechtigkeit, die Fricker hierfür in Anschlag bringt, setzt demnach auch in diesen Situationen an und erfordert eine «proaktive und gesellschaftliche bewusstere Art des Zuhörens» (234), in der das, was gesagt wird, ebenso wichtig ist wie das, was nicht oder nur undeutlich gesagt werden kann. Und auch wenn eine solch ethisch-intellektuelle Tugend zunächst nur in einzelnen Sprechsituationen zum Einsatz käme, könne sie auf lange Sicht zu gesellschaftlichem und politischem Wandel beitragen, der auf die Abschaffung bestimmter hermeneutischer Ungerechtigkeiten zielt.
Dass Fricker hier und an einigen anderen Stellen zumindest kurz auf die gesellschaftlichen und politischen Dimensionen eingeht, die den weiteren Rahmen für die Ursachen und Wirkungsweisen epistemischer Ungerechtigkeit bilden, ist beruhigend. Trotz der ausführlichen Erläuterung der vorgeschlagen Tugenden bleibt es nämlich fraglich, wie sinnvoll es ist, so stark auf individuell tugendhafte Zuhörer:innen zu setzen, die mittels Achtsamkeit und Reflexion eigenständig in der Lage sein sollten, historisch-kulturell bedingte Vorurteilsstrukturen spontan zu hinterfragen und strukturelle Schieflagen oder gar hermeneutische Lücken durch bewussteres Zuhören einfach auszugleichen.
Es wäre daher wünschenswert gewesen, dass Fricker genauer ausgeführt hätte, was es für demokratische Institutionen, für Politik, Bildung, Medien und die Rechtsprechung bedeuten könnte, diesen epistemischen Ungerechtigkeiten und ihren individuellen wie kollektiven Schäden verstärkt Rechnung zu tragen, anstatt sich allein auf die Tugendhaftigkeit von Einzelpersonen zu fokussieren. Auch Frickers Gebrauch von Beispielen fällt nicht immer überzeugend aus, und wenn sie in der Einleitung davon schreibt, sie wolle verstehen, wie unser epistemisches Verhalten «sowohl rationaler als auch gerechter werden könnte» (26), kommen schon mal Zweifel auf, ob der Begriff der Rationalität in diesem Kontext wirklich so unbeschadet zu gebrauchen ist. Zudem mutet es seltsam an, dass im ganzen Buch das Wort «intersektional» kein einziges Mal auftaucht, obwohl Fricker viel davon schreibt, wie bestimmte (race, class- oder genderbezogene) Identitätskonstruktionen mit sozialen, epistemischen und materiellen Ungleichheiten zusammenwirken. Und dass das wichtige Thema der hermeneutischen Ungerechtigkeit gerade mal einen Fünftel der gesamten Buchlänge ausmacht, ist schade und nicht ganz nachvollziehbar.
Dennoch ist Frickers Buch eine beachtliche Leistung. Mit der Rede von Zeugnisungerechtigkeit, hermeneutischer Ungerechtigkeit und epistemischer Ungerechtigkeit prägt Fricker Begriffe, die im kritischen Diskurs selbst eine hermeneutische Lücke schliessen und die uns zeigen, wieso epistemisches und soziales Unrecht aufs Engste miteinander verbunden sind. Damit leistet Fricker zumindest auf der Ebene der Problemanalyse einen fundamentalen Beitrag sowohl zur Erkenntnisphilosophie als auch zu politischer Philosophie und Ethik, und nicht zuletzt zu gesellschaftlichen Debatten darüber, wer worüber sprechen kann; wem wir aus welchen Gründen nicht nur zuzuhören, sondern auch zu glauben bereit sind – und wem wir diese grundlegende Form der Anerkennung verweigern.
Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des WIssens. C. H. Beck, München 2023.
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