Thomas Weiss.
Klöpfer&Meyer, 2016.
Diese Biografie enthält mindestens fünf Biografien. Eine mit den äusseren Lebensdaten Oberlins, eine über seinen Weg ins Steintal, wo er 43 Jahre lang gewirkt hat, eine über seine spirituelle Entwicklung, eine über seinen eigenen Tod und dann eine, die eine Bilanz seines Lebens zieht. – Sein irdischer Werdegang ist also gut verzeichnet und bekannt. (Und für alle, die mehr wissen wollen, gibt es das Musée Oberlin in Waldersbach.)
Diese Biografie aber will mehr – sie will ein Leben konjekturieren, das er nicht aufgezeichnet hat und ein Leben projizieren, von dem er selbst nichts geahnt hat.
Johann Friedrich Oberlin, der elsässische Pfarrer und Sozialpädagoge, steht in der Tradition der Philosophie von Swedenborg; und hat sich mit den religiösen Ansätzen der Herrnhuter und Graf Zinzendorf auseinandergesetzt. Deren Haltungen pflegen eine Frömmigkeit, die den Menschen von innen heraus schult, ihn von innen zur Arbeit an den Menschen und an Gott anhält. Und gleicherweise malt diese Frömmigkeit ein irdisches und ein überirdisches Bild des Lebens – beide in den sinnlichen Farben dieser Welt. Diese beiden sind offen und nützlich zueinander. Die Verstorbenen erscheinen in der Nacht, sie beraten und bekennen — mit ihrer Hilfe erziehen die Lebenden sich selbst und einander zu einem gottgefälligen Leben.
Ein Vorfall in seiner Steintaler Zeit stellt sein ganzes Leben und Wirken, und auch seinen Glauben, in Frage. Ein jüdischer Händler wird im Steintal erschlagen aufgefunden — sein Mörder? Nicht ermittelt. Dieser Vorfall erlaubt die Möglichkeit zu denken, dass ein Steintäler sich habe versuchen lassen. Er könnte Unrechtes getan haben, ja sogar, getötet haben, wenn einer sich „als Gottes oder des Volkes Feind erweist“ (S. 98).
Dann sprach es sich herum – der “Nachtheil” soll der Täter gewesen sein. Wer ist der Nachtheil? „Der Nachtheil ist kein bestimmter Mensch, der irgendwann einmal gelebt hat. Zum Nachtheil kann ein jeder werden, heisst’s, wenn er bloss bereit ist, ohne Gewissen mit den Leben von anderen zu spielen. (…) Er achtet keinen Gott mehr, keine Sitte und keine Moral“ (S. 122 ff). Die alte Sage des Nachtheil rüttelt an Oberlins klarer Scheidung von Gut und Böse. Und sie lebt weiter, trotz zivilisatorischer Entwicklung und moralischer Erziehung. Die Sage vom Nachtheil bedeutet, dass jeder Mensch die Wahl hat sich für oder gegen sein Gewissen zu entscheiden, und dies während des gesamten Lebens.
Der Dichter J.M.R Lenz war 1778 für zwei Wochen zur Pflege bei Oberlin in Waldersbach. Aufgrund seiner Anfälle von Wahnsinn wurde er jedoch wieder weggebracht. Oberlins feste Glaubensgrundsätze konnten Lenz nicht helfen. So kritisierte Lenz’ Oberlin, denn Oberlin hätte die Menschen lehren sollen zu wählen, während Oberlin die Menschen hat lenken und leiten wollen durch seine eigenen Überzeugungen.
Doch dann hat Lenz eine Vision (Lenz, ebenso wie Oberlins früh verstorbene Frau erscheinen Oberlin häufig und regelmässig in der Nacht; mit ihnen führt er Zwiegespräche, die er nie aufgezeichnet hat…): Eigentlich schaut er vom Steintal nur über den Berg ins nächste Tal, aber 150 Jahre voraus. Dort sieht Lenz die Lagerszenen von Struthof und beschreibt sie Oberlin: „Die Hölle, die mich zu Tode erschreckt hat, die ist nicht so weit fort von dem Himmel, den du hier zu schaffen versuchst.“ (S. 165)
Das Gute und das Böse liegen nicht nur nahe beieinander, sondern es gibt aufgrund von Lenz’ Dämonie, Erschütterungen und Zweifel auch nicht mehr jenes Absolute, das sie klar trennte, es gibt nicht mehr Gott, der die Ordnung innehat, sondern stattdessen eine Leere. Angesichts dieser Leere muss der moderne Mensch sich entscheiden – für das Gute oder das Böse. Oberlins Gewissheit bleibt ebenso wenig unerschüttert wie umgekehrt sein Glaube davon gänzlich unberührt zu sein scheint.
Eine Erzählung, in dem Zeit eine treibende Kraft ist und doch irgendwie keine Rolle spielt.