R.D. Precht «Von der Pflicht – Eine Betrachtung»

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Das Thema der Pflicht erscheint mir in der seit zwei Jahren aktuellen Covid-Situation als das wesentlichste und brennendste überhaupt. Gäbe es einen Diskurs über Covid-Diskurse, dann mit dem Thema der Pflicht. Richard Precht unternimmt lobenswerterweise den Versuch, darüber zu reflektieren. Sinnigerweise nennt er seine Erwägungen «Eine Betrachtung» und stellt damit klar, dass er nicht nur unbeteiligter Augenzeuge, sondern teilnehmender Beteiligter IN der aktuellen Situation ist.

Die aktuelle Situation ist durch den Ausnahmezustand, durch Medien und Massenmedien und durch einen in der Menschheitsgeschichte erst- und einmaligen globalen Schwung total/totalitär regiert und organisiert. Nichtsdestotrotz betreibt Richard Precht eine Historisierung von rechtlichen und staatlichen Konstitutionen, eingebunden darin eine Geschichte der Hygiene und der Infektionen resp. Epidemien. Aufgeklärt und überzeugend betrachtet er Grundrechte, gegenseitige (Staat – Bürger) Verantwortungen und Pflichten, Verhältnismässigkeit der Massnahmen. Angemessenheit wird für ihn zum «Schlüsselkriterium legitimen staatlichen Handelns.» (88)

Dieses Kriterium verwiese auf eine Relativierung, die der Form der Betrachtung eigentlich und eingegeben ist. Diese Position vermisse ich an diesem Buch. So verbleibt seine «Pflicht» als eine Moral mit einer festen Unterscheidung (Befürworter – Gegner, Verschwörer) und im Rahmen, obwohl dieser global ist.

Es gibt keine Moral (gut – böse), keine Medizin (gesund – nicht-gesund), keine Politik (gesetzlich – ungesetzlich), die diese Unterscheidungen klarstellte, Gewissheit von Sicherheit bieten und globale Verantwortung übernehmen könnte. Womit gesagt sein soll, dass es darum geht, Unterscheidungen – kritisch – zu prüfen (gemäss Judith Shklar). Kritik fände dann statt mit und zwischen den beiden extremen Positionen ‘Totalitarismus (totalitäre Massnahmen)’ und ‘Anomie, die Demokratie im Zustand der Unregierbarkeit’. (168)

Es wäre spannend, eine Kritik an Prechts Pflichtbuch zwischen Mill und Baudrillard zu verspannen. «Der Kampf zwischen Freiheit und Autorität ist der bezeichnendste Zug […] Unter Freiheit verstand man den Schutz vor der Tyrannei der politischen Herrscher […].« (Mill, J.St.: Über die Freiheit. – Reclam, Stuttgart 20202, S.11 ff.) Baudrillard («Das radikale Denken». Matthes & Seitz, Berlin 2013, S.5 ff.) richtet seine provokative Kampfansage an die Realität und an die Existenz, aus dem Bewusstsein einer Parteinahme für die objektive Illusion der Welt und gegen den Glauben, «die Realität als seine Art Lebensversicherung einzusetzen oder als Konzession auf Lebenszeit, als eine Art Menschenrecht oder alltägliches Konsumgut.» Die Kritik hätte ihre Ausrichtung am Pflichtbuch von Simone Weil: «Die Pflicht ist allein nicht auf Bedingungen angewiesen. Sie hat ihren Platz in einer Sphäre, die über allen Bedingungen liegt, weil sie über dieser Welt liegt.» («Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber.» – Diaphanes, Zürich 2011, S. 7)