Der Roman «Im Menschen muss alles herrlich sein» von Sasha Marianna Salzmann erzählt von der Suche nach Gemeinsamkeit, Liebe und Identität in Umbruchzeiten. Dabei treffen die Perspektiven zweier Mütter und ihrer Töchter aufeinander. Am längsten und zunächst chronologisch bleibt die Erzählstimme bei Lena, später wird der Roman – durch eine grossartig zusammengefügte Montage – um drei weitere Perspektiven ergänzt.
Zu den wenigen sorglosen Momenten gehören die Sommer, die Lena Anfang der 1970er Jahre bei ihrer Grossmutter in der Haselnusssiedlung in Sotschi verbringt. Hier hat Lena einen Wohlfühlort, ein Zimmer für sich allein, und eine wichtige Aufgabe: mit Grossmutter Haselnüsse zu verkaufen.
Später ersetzen die Eltern die Ferien bei Grossmutter kurzerhand durch das Pionierlager «Kleiner Adler». Wütend und betrübt über diese Entscheidung begegnet Lena dann Aljona mit den zwiebelgoldgelben Augen. Gemeinsam lernen die beiden, sich dem Kollektiv möglichst zu entziehen, und sie geniessen die kleinen Freiheiten, die man sich als Aussenseiter*in erlauben kann. Zwischen Lena und Aljona entsteht eine innige Zuneigung und Verbundenheit. Nach Jahren wird Lena erfahren, dass sich die Spuren ihrer Freundin in der Zwangspsychiatrie verloren haben.
Feinfühlig und präzise spürt Sasha Marianna Salzmann den Lebensrealitäten der letzten zwei Jahrzehnte sowjetischer Herrschaft in der heutigen Ostukraine nach: das Gefühl der Beengtheit, das beim generationsübergreifenden Zusammenwohnen in einer winzigen Plattenbauwohnung entsteht; die Zermürbung durch das stundenlange Schlangestehen früh am Morgen; die schmerzhafte Erkenntnis, dass die beachtlichen Summen an Bestechungsgeldern überhaupt nichts bewirkt hatten.
«Fleischwolfzeit» nennt Lena das, was in den Jahren der Perestrojka um sie herum geschieht. Immer mehr Menschen leben in sichtbarer Armut. Auf ihrem Arbeitsweg sieht Lena, wie unter der Brücke täglich mehr Pappkartonsiedlungen entstehen. Gleichzeitig stellen andere ihren Reichtum extravagant zur Schau. Die Korruption, die Lena einst so wütend und ohnmächtig gemacht hat, holt sie wieder ein. Nun ist sie diejenige, der unauffällig Fellhandschuhe, Bernsteingemälde oder Umschläge mit Geldscheinen zugesteckt werden. Sie kann sich nicht entziehen, zu sehr hat die Gesellschaft Bestechung verinnerlicht.
«Im Menschen muss alles herrlich sein» – das sind in Fiktion verpackte Alltagserfahrungen, wobei die Autor*in die Mikroebene von Geschichte und Gegenwart auslotet. Grundlage des Romans bilden Erfahrungsberichte von Frauen, die im Gebiet der heutigen Ostukraine aufgewachsen und später als sogenannte «Kontingentflüchtlinge» nach Deutschland gekommen sind. Sasha Marianna Salzmann hat sie interviewt, ihnen zugehört, und mit ihren Stimmen entstanden die sorgfältig herausgearbeiteten Romanfiguren.
Nicht zuletzt ruft der Roman an einigen Stellen in Erinnerung, dass die Ostukraine sich nun seit zehn Jahren im Krieg befindet. Die Städte und Orte der Kindheit von Lena und Tatjana haben massivst gelitten. Aktuell befinden sich Gorlowka und Mariupol unter russischem Besatzungsregime.
Die Gewalt, die sich in die einzelnen Biographien des Romans eingeschrieben hat, stammt aus einer anderen Zeit. Es sind individuelle und kollektive Traumata, die an einigen Stellen durchdrücken, beispielsweise die Erinnerung an den Holodomor, den lange totgeschwiegenen Hungerkrieg Stalins. Die gesamten Ernten, alles Korn und Vieh wurden gewaltsam nach Moskau abtransportiert, und die Menschen vor Ort verhungerten. Anderswo kommen die Verachtung und Gewalt zur Sprache, der schwangere und gebärende Frauen in sowjetischen Spitälern ausgesetzt waren. «Ein bisschen so wie bei allen» benennt eine Frau ihre eigene Erfahrung, als sie ihrer schwangeren Tochter zum ersten Mal davon erzählt.
Eine besondere Stärke des Romans ist die empathische und treffende Darstellung von Mütter-Töchter-Beziehungen. Sasha Marianna Salzmann beschreibt, wie Mütter ihre Töchter lieben und was sie alles für sie tun würden. Auch die Töchter möchten von ihren Müttern gesehen und geliebt werden. Doch sie schauen aneinander vorbei und finden nicht die Worte, um Gemeinsamkeit wiederherzustellen. Diese Sprachlosigkeit zwischen den Generationen ist dort besonders stark, wo die Töchter eine komplett andere Sozialisierung als die Mütter erfahren haben.
Mit Lenas Tochter Edi betritt eine zaghafte Draufgängerin und queere Berlinerin die Bühne. Sie versucht, ihr Leben in geordnete Bahnen zu bringen und Journalistin zu werden. Sie liest gerade Oksana Sabuschkos Buch «Feldstudien über ukrainischen Sex» und macht sich Gedanken, wie sie sich der Geburtstagsfeier ihrer Mutter – eine glanzvolle Fete in der jüdischen Community von Jena – möglichst entziehen kann. Schliesslich werden dann auf dieser Party die Wege der vier Frauen zusammenführen, deren Biographien Sasha Marianna Salzmann mit sprachlicher Brillanz und erzählerischer Genauigkeit verwebt. Die Bilder sind atmosphärisch spürbar und die einzelnen Szenen und Dialoge grossartig aufgebaut und leicht nachzuempfinden. Es ist ein bisschen wie mit der Giraffe des georgischen Künstlers Niko Pirosmani: Auch wenn wir etwas nicht gesehen haben, können wir uns ein Bild davon machen.
Eine Rezension von Luzia Böni
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