Tagesanbruch

Hans-Ulrich Treichel
Suhrkamp, 2016.

In Hans-Ulrich Treichels Tagesanbruch erfahren wir von einer älteren Erzählerin, die auf dem Bett sitzt und den Kopf ihres soeben verstorbenen Sohnes auf dem Schoss hält, von ihrem Leben. In den etwa zwei Stunden des Tagesanbruchs spricht sie zuerst mit ihrem toten Sohn über die Vergangenheit, über ihre Flucht aus ehemaligen ostdeutschen Gebieten 1945, über ihr schwieriges Ankommen in der neuen Heimat, über ihren Mann, über das Geschäft, über die Nachbarn, über Alltäglichkeiten und immer auch wieder über die Art und Weise, wie man Dinge zu machen hat, wie es sich gehört. Schliesslich geht das «Gespräch» über ihn einen inneren Monolog und die namenlose Erzählerin beginnt, ein lange zurückliegendes Trauma zu rekapitulieren und aufzuschreiben. Auf der Flucht wurde sie von drei russischen Soldaten vergewaltigt, während ihr Mann zusehen musste. Dieses Erlebnis veränderte die Beziehung zwischen den beiden radikal. Und schliesslich wussten sie auch nicht, ob der Sohn, der 9 Monate später zu Welt kam, nicht doch einen russischen Vater hatte.
In einem unaufgeregten Stil erfährt man die mitreissende und tragische Geschichte dieser Familie. Nüchtern und dennoch ehrlich erzählt uns hier eine Gezeichnete von ihren Erlebnissen. Es scheint so, als wolle sie eine der letzten Gelegenheiten nutzen, sich alles von der Seele zu reden. Eine feine und dennoch anregende Lektüre.