Textzitat: Turia+Kant

Jörg Kreienbrock: Sich im Weltall orientieren. – Philosophieren im Kosmos 1950 – 1970.

Losgelöst von der Erde….

Die Erde erscheint in Mahlers Lied [Lied der Erde] nur im Rückblick. Winzig-Ephemer ist sie dem Menschen ferngerückt, zeigt sie sich verrückt als Sinnbild des Exzentrischen. Der Mensch wird in dieser Lage, wie es Friedrich Nietzsche in der Genealogie der Moral mit Verweis auf Kopernikus notiert, «zufälliger, eckensteherischer, entbehrlicher in der sichtbaren Ordnung der Dinge.» In einem nachgelassenen Fragment heisst es: «Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Centrum ins X.» Er wird zum leeren Statthalter, zum blossen X, einem Kreuz bzw. einer Kreuzung ohne Substanz. Während die kopernikanische Wende für Nietzsche die Gefahr der nihilistischen Selbstverkleinerung des Menschen emblematisiert, erscheint für Adorno im Verrückten, Ex-zentrischen die Schönheit des Ephemeren im Bild der ferngerückten Erde. Die substanzlose Schönheit von Mahlers Lied der Erde liegt in einer Sprache, die sich von dieser Erde verabschiedet hat. In der «sichtbaren Ordnung der Dinge» kann ihr kein bestimmter Ort zugewiesen werden, sie klingt entfernt. In einem «Wörter aus der Fremde» betitelten Aufsatz aus den Noten zur Literatur imaginiert Adorno in diesem Sinne eine Utopie der Sprache, die «ohne Erde, ohne Gebundenheit an den Bann des geschichtlich Daseienden» zu denken sei, oder, wie es im Mahler-Essay heisst, einer «Erde ohne Erde.»

(Seite 8-9)