Toni Morrison: Rezitativ

Zwei Mädchen, eines schwarz, eines weiss, aus schwierigen familiären Verhältnissen werden von der staatlichen Fürsorge für einige Monate in ein Kinderheim eingewiesen, in dem sonst hauptsächlich Waisenkinder sind. Sie werden in dasselbe Zimmer eingeteilt, lernen sich kennen und respektieren und – da sie sich von den anderen Kindern deutlich unterscheiden und wie nicht dazugehören – sie lernen zusammenzuhalten.

In ihrem weiteren Leben treffen sie sich mehrmals wieder, jedes Mal rein zufällig, es sind beliebige Zusammentreffen, ohne Bedeutung und nachfolgende Verpflichtung. Bei fast jeder Begegnung rückt die Erinnerung an ihre gemeinsame kurze Zeit im Kinderheim in den Mittelpunkt, und vor allem die Szene mit Maggie. An Maggie machen sie die Erfahrung vom ‚inneren Menschen‘: „[…] dass darinnen noch jemand war […]. (12) Diese Szene prägt ihre Begegnungen, ihr Leben und schliesslich ihre Haltung (ethos). Ihre Haltung einander gegenüber soll wieder jene nicht hinterfragbare Offenheit erreichen, die bei ihrer ersten Begegnung so grundlegend gewesen ist.

Das Rezitativ ist ein Sprechgesang, der Übergang von einer Arie zur nächsten, der Handlung ist oder Haltungen und Meinungen kundtut, ein Streitgespräch, das Spannung erzeugt und auf die Folter spannt. – Das Rezitativ ist weder Sprechen noch Singen, diese formale Unentschiedenheit wird für Toni Morrison’s Schreiben wesentlich.

Handelt es sich bei der Wahl um Werte und Vorstellungen, die eine Sache oder eine Person positiv oder negativ bestimmen oder charakterisieren (was bestimmt jemanden als ‚schwarz‘ oder ‚weiss‘?), so besteht bei der Entscheidung eine Freiheit, die im Falle dieser Geschichte die andere Person ohne Vorurteile anerkennt.

Das umfassend erhellende Nachwort von Zadie Smith betont, dass Toni Morrison’s Kunst des Schreibens in einer minutiösen Durcharbeitung ihres Tests bestehe, nichts dem Zufall überlassen werde und Reden und Beschreibungen auselaboriert seien. (48) Dann aber wird „Rezitativ“ zu einer Herausforderung an die Leserschaft, bei sich selbst Werte und Vorstellungen, sprich: Vorurteile offen zu legen und sich einzugestehen. Dieser Text ist ein kreatives und methodisches Experiment, mit den eigenen Vorurteilen aufzuräumen.

Toni Morrison: Rezitativ. Rowohlt, Hamburg 2023

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