U.J. Wenzel: ZEIT – in Gedanken erfasst

Philosophische Glossen. – Schwabe Verlag, Basel 2020

Was heisst Philosophieren? Kann man Philosophieren lernen oder lehren?

Die im neuen Band von UJW versammelten Essays – es sind ausgewählte Feuilleton Beiträge aus seiner NZZ-Zeit, die er hier „Glossen“ nennt – machen genau dies: sie philosophieren.

Lesen wir diese syntaktisch und gedanklich perfekt gestalteten Texte genauer, dann vermögen wir, natürlich im Modus des  Als-Ob, nachvollziehen oder sogar selbst vollziehen, wie wir in der Philosophie, gemeint ist, in der Durchquerung der Philosophie fortschreiten, wie die Philosophie durch ihre Geschichte fortschreitet und mit (jeweils) ihrer ‚Contemporaneität‘  immer wieder neu anhebt.

Am Beispiel eines Essays (hier S. 43ff: „Besitzt der Mensch die Tugend – oder besitzt sie ihn?“) könnte das Philosophieren wie folgt beschrieben werden:

Klassische Positionen der Philosophie fungieren als Grundbausteine für das Gebäude einer philosophischen Idee oder eines philosophischen Begriffs. Sie bilden eine Norm und bilden zugleich keine Norm, indem mit ihrer Setzung oder Behauptung ihre Entgegensetzung oder Verneinung gegeben wird [„Tugend neigt zur Dummheit“]. In der weiteren Untersuchung der Entgegensetzung erweisen sich Elemente ihrer Bildung als Bedingung oder sogar als Ursache zur Bestimmung der (ersten) Setzung. Die Tugend besitze den Menschen und nicht umgekehrt, woraus dann folgt, dass der tugendhafte Mensch keine Wahl habe. Diese Neu-Setzung dient dazu, die Verneinung zu verneinen [„Dumm – soll der [tugendhafte] Mensch hinwiederum auch nicht sein“]. Als Begründung dient wiederum ein Grundbaustein (philosoph. Idee oder Begriff) – [‚Die Freiheit zur vernünftigen Selbstbestimmung‘]. Nun erfolgt eine neue Definition: „Die Tugend ist immer im Fortschreiten und hebt doch auch immer von vorne an“. Damit erhebt sich die Tugend in eine gleichsam immerwährende Form, der sofort ihre Grenze im Als-Ob gewiesen wird [Es ist denn doch nur so, als-ob die Tugend den Menschen besitze]. In kritischen Situationen weiss auch die Tugend nicht weiter. Die neue Antinomie verweist die Tugend auf den Menschen. In der Beschränkung auf die Conditio Humana gilt, dass der Mensch die Tugend besitzt, indem die Tugend ihn (doch) nicht besitzt.

Nur in der Dichtung gibt es den Neuen, den von und aus Tugenden geschaffenen Menschen, während „der alte, freie Mensch noch die Demut am Arm [spürt]“.