Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus

Eine Rezension von Julia Rüegger

Jeder Text ist präzise geschliffen wie eine Murmel, in deren Innenleben sich verschiedene Orte und Zeiten durchdringen; von der Kindheit der Grossmutter, die überleben musste, „während die anderen rundherum qualvoll starben“ über den tristen Alltag in der Sowjetzeit bis zur Majdan-Revolution 2013/14 und zur Gegenwart des Krieges, die dem Band eine traurige Aktualität verleiht. Zusammen spannen die Texte ein Netz vom früheren Ostgalizien über westukrainische Provinzen, nach Jalta ans Schwarze Meer und in die sibirischen Straflager, bevölkert von Vorfahrinnen und Zeitgenossen, unter denen sich so unterschiedliche Figuren wie der Zionist und Esperanto-Erfinder Lejzer Zamenhof und ein namenloser Ukrainer antreffen, der „für den Krieg zu alt [ist], für Demenz zu jung.“

Die Autorin dieser geschichtsträchtigen und oft tragischen Murmeln, Tanja Maljartschuk, wurde 1983 in Iwano-Frankiwsk in der Ukraine geboren; in derselben Stadt wie die Schriftsteller-Legende Juri Andruchowytsch. 2011 emigrierte sie nach Wien und veröffentlichte bisher die zwei vielgepriesenen Romane Blauwal der Erinnerung und Biografie eines zufälligen Wunders. Das 2022 erschienene Buch Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus versammelt nun 21 Texte, die die Autorin zwischen 2014 und 2022 geschrieben hat; in der Zeit zwischen der Annexion der Krim, dem (Euro-)Majdan-Aufstand und dem Beginn von Putins Angriffskrieg im Februar letzten Jahres. Ein Jahrzehnt, dessen Ereignishaftigkeit und Tragik für eine ganze Epoche ausreicht.

Wie in ihren Romanen eröffnen Maljartschuks Essays aus diesem zerrissenen Jahrzehnt eine Kartografie der ukrainischen Seele, ihrer Sehnsüchte und ihrer Traumata. Voller eindringlicher Bilder, persönlicher Anekdoten und scharfsinniger Reflexionen erzählt sie davon, was es bedeutet, wenn die Psyche eines Landes durch die historischen Umstände zu einem Borderline-Fall wird, und was es heisst, verstehen und erinnern zu wollen, was lange Zeit vor der eigenen Geburt geschehen und unter unzähligen Schichten von Terror und Verdrängung begraben ist. So lesen wir schon auf der ersten Seite: „Mein Urgrossvater hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, aber ich weiss nicht, gegen wen. Zwanzig Jahre später hat sein Sohn im Zweiten Weltkrieg gekämpft, aber ich weiss nicht, gegen wen.“ Ähnlich wie der ukrainisch-deutschen Autor*in Sasha Marianna Salzmann geht es nämlich auch Maljartschuk darum, sich von der Scham angesichts der eigenen Herkunftsgeschichte nicht ersticken zu lassen; jener Scham, die die Täter und ihre Nachfahr*innen ebenso befällt und lähmt wie die Opfer. So lautet eine der wiederkehrenden Fragen im Buch:  „Wie kann man der Generation, die in der Sowjetunion geboren und sozialisiert wurde, helfen, die eigenen Geschichten ohne Scham zu erzählen?“ – auf die sogleich die skeptische Nachfrage folgt, ob „wir diese Geschichten überhaupt hören [wollen]“.


Es gibt Texte, zum Beispiel „Erinnerungen an das Sinnliche“, die sich wie ein Fotoalbum mitsamt der Negative lesen. Auf wenigen Seiten lassen sie längst verstorbene Charaktere und vergangene Landschaften wiederauferstehen, bergen Knochen zerstörter jüdischer Grabstätten oder die buchstäblich hinter Fassaden verborgenen Fresken eines mittelalterlichen katholischen Klosters in Kyjiw, das von der russischen Kaiserin Katharina der Grossen aufgelöst und in ein Irrenhaus umfunktioniert wurde. Andere Texte bringen die Schrecken des Stalinismus ins Gedächtnis zurück und illustrieren Maljartschuks Einsicht, dass der Kommunismus entgegen aller Hoffnungen und Beteuerungen kaum ehrenhafte Heldengestalten hervorbrachte, sondern vor allem Menschen, die dazu gezwungen wurden, gewissenlos zu sein. So etwa, wenn sie im Text „Schlummernde Schande des Kommunismus“ an Hryhir Tjutjunnyk erinnert, einen Autor „rührender Erzählungen über Bauern und Kinder“, der zwar nicht zu den gerade mal dreissig Dissidenten des damaligen ukrainischen Literaturbetriebs gehörte, aber so bitterarm war, dass er seine Texte auf dem Fenstersims schreiben musste, und der sich eines Abends im Jahr 1980 in seiner Toilette erhängte. Er ist nur einer von vielen ukrainischen Literat*innen, an die sich heute kaum noch jemand erinnert.

Auch in der Gegenwart spürt Maljartschuk (west- und osteuropäische) Orte und Szenen auf, an denen die Wunden des 20. Jahrhunderts und seiner totalitären Systeme wie Heimsuchungen brennen. So gesteht die Autorin, die beim Zusammenbruch der Sowjetunion gerade mal neun Jahre alt war, dass sie zusammenzuckt, wenn sie in der Frankfurter Allee in Berlin die Spuren des Kommunismus auch ausserhalb der Ukraine entdeckt. Sie beschreibt den schmerzhaften Wunsch vieler Ukrainer*innen nach Zugehörigkeit zu Europa und ihre Verbitterung, als 2004 gleich zehn Länder, die sich grösstenteils im ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion befunden hatten – unter anderem Polen und Ungarn –, in die Europäische Union aufgenommen wurden, die Ukraine aber nicht. Und sie fragt, ob die Traumata, die für den heutigen Zustand der Ukraine verantwortlich sind, nicht eigentlich allgemeineuropäische Traumata sind und die Ukraine das Unterbewusstsein Westeuropas bildet.

Fast zwangsläufig kulminieren die immer wieder düster aufblitzenden Vorahnungen im kurzen Text „Anno Belli“, dem Text über den Kriegsausbruch im Februar vor einem Jahr, mit dem über Nacht eine neue Zeitrechnung begann: „Alles, was davor geschah, wird ausschliesslich als Vorkriegszeit bezeichnet, weit entfernt, in einem anderen Leben, in einer anderen Welt.“ Die Zäsur, die die Nacht der Invasion markiert, ist umso bitterer und bedrohlicher, da sie für die Autorin mit der Ahnung einhergeht, „dass das gerade Geschehene meine und die Zukunft meiner Landsleute für sehr lange bestimmen wird, dass wir, wenn wir es überleben, uns Jahrzehnte damit werden beschäftigen müssen.“

Dabei ist die Gegenwart des Krieges schwer genug auszuhalten, selbst aus der sicheren Distanz von Wien: Maljartschuk hält die Internetseite, auf der man alle Luftalarmausbrüche in Echtzeit verfolgen kann, nun konstant offen, und mitten in der Nacht schreibt ihr ihre Kindheitsfreundin Natalka SMS mit der Aufforderung, sofort und intensiv für ihren Ehemann an der Front zu beten. Derweil reist ihre Nichte Sofia mit dem Zug von Wien in die Ukraine, um ihren Vater zu besuchen, der es nicht übers Herz bringt, das Haus, an dem er sein Leben lang gebaut hat, zu verlassen, um sich selbst in Sicherheit zu bringen.

Kein Wunder, fragt sich Maljartschuk, wie sie in dieser Zeit noch Schriftstellerin sein kann, wie sie es anstellen könnte, schreibend „in dieser Realität bleiben zu dürfen“, in der ihre fast siebzigjährige Mutter nach einem Schutzbunker googelt, in der sie durch Österreich, Deutschland und die Schweiz fährt und an etwa fünfzig „Kriegsauftritte[n]“ teilnimmt, bis sie völlig ausgebrannt ist. Und in der sie dennoch weiterschreibt.

Die vielleicht beeindruckendste Leistung dieser Essays ist daher auch, dass sie beides zugleich schaffen: uns teilhaben zu lassen an der ukrainischen (und damit auch der europäischen) Geschichte, die abwechslungsweise stillsteht, rast, sich über Nacht verkehrt – und uns dennoch immer wieder ein kurzes Aufatmen zu verschaffen: wenn wir die Usambaraveilchen der Mutter der Autorin vor uns sehen, während im Baumarkt Flugblätter mit der Anleitung zum Packen eines Fluchtkoffers verteilt werden, oder wenn die Autorin zufällig herausfindet, dass viele der fremd klingenden Worte in der Sprache ihrer Eltern in Wirklichkeit jiddische Worte sind, die wie Schmuggelware einen Weg durch die Zeit gefunden haben, die so viele ihrer Sprecher*innen ausgelöscht hat.

Und so liegt, bei aller Furcht vor den vergangenen Zeiten, ihren Abgründen und Katastrophen, auch ein Schimmer Hoffnung darin, zurückzuschauen, zumindest für einen Moment wie den, als Maljartschuk im Text „Beten und Schimpfen“ an die Aufbruchszeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erinnert: Damals, als die kleine westukrainische Provinzstadt Iwano-Frankiwsk zu einem Mekka der ukrainischen Avantgarde-Literatur wurde, zu jenem Karneval, „der auf den Ruinen der Sowjetunion begonnen hatte und über die frisch unabhängigen und durchaus tristen Neunzigerjahre hinweg dauerte“, und deren Protagonist*innen, einschliesslich Andruchowytsch, sie Jahre später bei der Revolution der Würde auf dem Majdan wiedertrifft.

Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus. Kiepenheuer & Witsch 2022.

BESTELLEN