Dieter Henrich: Furcht ist nicht in der Liebe

Die menschliche Liebe gründet im UnbedingtenZu Dieter Henrichs Furcht ist nicht in der Liebe

von Benedikt Koller

Seine letzte Schrift widmete Dieter Henrich der Liebe. In seiner philosophischen Auslegung eines Satzes des Evangelisten Johannes zeigt er, wie sich durch eine Analyse des Selbstbewusstseins ein rein rationales Verstehen menschlicher Liebe gewinnen lässt. Doch diese Liebe bleibt ein Geschenk, begründen lässt sie sich nicht – weil sie ihren Grund wie das Selbstbewusstsein im Unbedingten hat.

»Furcht ist nicht in der Liebe.« Diesen Satz aus dem ersten Brief des Johannes ließ der damals dreißigjährige Dieter Henrich 1957 in den Grabstein seiner verstorbenen Mutter meißeln. Seither hat die Sentenz den deutschen Philosophen nicht mehr losgelassen. Nun, 65 Jahre später und kurz vor seinem eigenen Tod am 17. Dezember 2022, ist eine Schrift erschienen, in der Henrich den Satz philosophisch auslegt. Es ist das letzte Buch dieses wirkmächtigen Denkers geworden.

In dem 70-seitigen Bändchen beleuchtet der christlich erzogene und theologisch versierte Henrich nicht bloß die Bedeutung des Satzes im Kontext von Johannes’ Gotteslehre. Vielmehr versucht er mittels eines philosophischen Verfahrens für den Satz eine Bedeutung zu erschließen, »die in allgemeiner menschlicher Erfahrung bewährbar ist«. Denn der Satz weise »auf eine Erfahrung hin, die in jeder Liebe […] gemacht werden kann«. Henrich will mit seiner Auslegung des Satzes also das Geheimnis menschlicher Liebeserfahrung ergründen, wohingegen Johannes’ Satz im christlichen Lehrzusammenhang primär als eine Aussage über die eigentümliche Kraft der Gottesliebe verstanden wird.

Henrichs Verfahren ist philosophisch, da es die Geltung des Satzes sola ratione und damit ohne den Rückgriff auf christliche Glaubensvoraussetzungen erweisen will. Denn letztere würden von Nicht-Gläubigen schlichtweg zurückgewiesen. Wer wie Henrich auch säkulare Menschen von der Evidenz des Satzes überzeugen möchte, dass in der Liebe keine Furcht sei, muss dies allein mit rationalen Argumenten zuwege bringen.

Nachdem er zunächst verschiedene Auslegungsmöglichkeiten der johanneischen Aussage anführt, deren Unvereinbarkeit aufzeigt und damit die »Komplexion der Problemlage« konzediert, legt Henrich »in der lockeren Form einer Skizze« seine eigene philosophische Betrachtung dieses höchst ausdeutungsfähigen Satzes aus dem Johannesevangelium dar.

Bezeugt nicht allein schon die Erfahrung liebender Menschen die Evidenz von Johannes’ Satz? In der Innigkeit zweier Liebender scheint die Furcht vor den Widerfahrnissen des Daseins einstweilen abwesend, die Sorge um die Selbsterhaltung – zumindest vorübergehend – in den Hintergrund gerückt. Einer der möglichen Einwände gegen die Furchtlosigkeit in der Liebe lautet darauf, dass doch gerade aus der Liebe selbst eine neue Furcht erwachse: die Furcht um die geliebte Person, die als verletzliches Wesen jederzeit den Gefährdungen des Lebens ausgesetzt bleibt. Henrich gibt zwar zu, dass vollständige Furchtfreiheit den Menschen nicht versprochen werden kann. Doch im Folgenden sollen »weiter ausgreifende philosophische Überlegungen ganz anderer Art« zeigen, dass »die Furchtlosigkeit in der Liebe« und also die menschliche Liebeserfahrung selbst von den vorgebrachten Einwänden gar nicht getroffen wird. Denn jene Einwände verkennen die Eigenart der Liebe und ihre Singularität unter den menschlichen Erfahrungen.

Nur: Wie lässt sich die Eigenart der menschlichen Liebeserfahrung adäquat bestimmen? Laut Henrich eben durch jene »Überlegungen ganz anderer Art«, die »der Philosophie als solcher zugänglich sind«. Henrich zufolge haben diese Überlegungen ihren Platz »im Fundierungsbereich der Ethik und damit zugleich in der Grenzregion der Vernunft, für die der Titel ›Metaphysik‹ umzuwidmen gewesen ist«. Und so plausibilisiert Henrich sodann mittels metaphysischer Überlegungen, dass »die Liebe auch im Forum der endlichen Rationalität etwas ganz anderes bedeuten kann als ein intensives Gefühl und das Grundmuster einer sozialen Verhaltensweise der Menschen«. Wie sonst müssen wir die menschliche Liebe also verstehen?

Das Besondere an Henrichs metaphysischem Argumentationsgang besteht nun darin, dass er zeigt, wie sich ein rein rationales Verstehen der menschlichen Liebeserfahrung aus einer Analyse des Selbstbewusstseins gewinnen lässt. Denn für jegliches Verstehen – und somit auch für das Verstehen der menschlichen Liebeserfahrung – sei das Selbstbewusstsein »der unhintergehbare Ausgangspunkt«, insofern endliche Subjekte, die wir Menschen sind, allererst durch ihr Selbstbewusstsein ausgezeichnet sind. Henrich fasst dieses Wissen von sich selbst, das jeglichem Wissen von Gehalten vorausgesetzt ist, als eine gegebene Faktizität auf – im Sinne einer eingesetzten Aktivität, über die endliche Subjekte immer schon verfügen. Das seiner selbst bewusste Subjekt ist somit weder der Urheber seines Selbstbewusstseins, noch entsteht dieses erst im Umgang mit anderen Subjekten. Und da dieses Wissen von sich selbst eine Faktizität darstellt, die von nirgends hergeleitet werden kann, vermag sich das selbstbewusste Subjekt seinen eigenen Ursprung oder Grund auch nicht durchsichtig zu machen. Letzterer ist ihm schlechthin vorausgesetzt. Oder in anderen Worten: Das seiner selbst bewusste Subjekt ist endlich, weil es seinen Grund in einem anderen hat – dem Unbedingten. Eben diese Eigenschaft, nicht sein eigener Grund zu sein und diesen darum auch nicht mit den Mitteln des (endlichen) Bewusstseins verstehen zu können, ist denn auch das Kennzeichen von Endlichkeit.

Das solcherart endliche Subjekt ist sich in seiner eingesetzten Aktivität seiner bewusst, bleibt jedoch nicht allein auf sich bezogen. Es ist überdies dazu disponiert, ein Bewusstsein von Gehalten auszuprägen, wobei dem Selbstbewusstsein hierbei eine Orientierungsfunktion zukommt. Anders ausgedrückt: Endliche Subjekte gehen auf Sachgehalte in der Welt und sind damit offen für andere ihrer selbst bewusste Subjekte, mit denen sie Umgang pflegen. So führen Menschen ein bewusstes Leben, deren Subjekt sie sind. In ihrem Lebensvollzug navigiert ihr Selbstbewusstsein sie durch die von ihnen bewusst erlebte Welt und befestigt sie in ihrer Subjektstellung.

Die Verfassung seines Selbstbewusstseins, nämlich dass es sich über seinen Ursprung notwendig unsicher sein muss, impliziert allerdings, dass ein endliches Subjekt sich auch seiner Orientierung im bewussten Leben nie vollends gewiss sein kann. Kurzum: Menschen bleiben stets unsicher und gefährdet. Doch ihre Offenheit Sachgehalten und Subjekten gegenüber ermöglicht es ihnen, mit anderen Personen eine vertiefte Verbindung einzugehen, die durch gegenseitiges Interesse, wechselseitige Hilfe, Zuwendung und die Anerkennung des Gegenübers als Subjekt seiner eigenen Lebensführung geprägt ist. Eine solche zur Lebensform sich ausprägende Verbindung zwischen Menschen nennt Henrich »reife Liebe«. In ihr erfahren Liebende zusammen eine »Befestigung ihrer Subjektstellung« und ihrer »Weise der Bemühung um Orientierung«. Henrich schreibt: »Die Liebe […] hat die singuläre Eigenschaft, dass die Sorgen des Alltags und vor der Zukunft ihre bedrängende Realität verlieren.« In ihr bilden Liebende ein gemeinsames »Bewusstsein eines Erhobenseins aus alltäglicher Bedrohung und von einem Geschehen, das in einem Unbedingten fundiert ist.«

Selbstredend bleiben endliche Subjekte auch in reifer Liebe verletzliche Menschen und als solche stets den Unwägbarkeiten des Lebens ausgesetzt. Doch so, wie das Selbstbewusstsein den Menschen eine Orientierung im bewussten Leben ermöglicht und sie so in ihrem Selbstsein stabilisiert, so befestigt auch die Liebeserfahrung zweier oder mehrerer Menschen ihre Subjektstellung. Denn in reifer Liebe bestätigen und anerkennen sich Menschen als das, was sie sind: selbstbewusste endliche Subjekte, die nicht ihr eigener Grund sind. Dieses wechselseitige Anerkennungsgeschehen erfahren sie gleichsam als eine »Verankerung« ihres notwendig unsicheren Selbst, indem sie gemeinsam die Überzeugung machen, »in einem Grund, der unverbrüchlich, weil Unbedingtem zugehörig, verwurzelt zu sein.« Kurzum: Sie erfahren die Liebe selber als ein Geschehen des Unbedingten. Henrich schreibt sogar, dass das Unbedingte als Grund im Vollzug der Endlichkeit (als Liebesgeschehen) wirklich wird.

Die Furchtlosigkeit in der Liebe herrscht insofern, als Menschen in dieser eigenartigsten aller humanen Erfahrungen gewahr werden, dass die Liebe ebenso ein vom Unbedingten herrührendes Geschenk (ein Gegebenes) ist wie das unhintergehbare Selbstbewusstsein, das sie als endliche Subjekte grundlegend konstituiert. Daher zeitige die menschliche Liebeserfahrung denn auch das Gefühl der Dankbarkeit, wie Henrich schreibt. So erfahren Menschen in der reifen Liebe ihre Zugehörigkeit zum Unbedingten, das ihnen zwar nicht durchsichtig werden kann, und doch sowohl der annehmbare Grund ihres Selbstbewusstseins als auch ihrer Liebe ist.

Zur Person:

Das für Subjekte fundamentale Selbstbewusstsein war so etwas wie Dieter Henrichs Lebensthema. Der 1927 in Marburg geborene und später in Berlin, Heidelberg und München lehrende Philosophie-Professor avancierte nach seiner Habilitation 1956 über Kants praktische Philosophie schnell zu einem der einflussreichsten Interpreten der klassischen deutschen Philosophie. Er, der trotz intensivster Beschäftigung mit Hegels Systemphilosophie zeit seines Lebens Kantianer geblieben ist, nutzte das metaphysische Denken selbst dann noch zur ständigen Neuaneignung und -interpretation der nachkantischen Philosophie, als Habermas’ Diktum von der Notwendigkeit »nachmetaphysischen Denkens« längst zur vorherrschenden akademischen Praxis geworden war. Ob er nun über Kants Sittenlehre (Selbstbewusstsein und Sittlichkeit, 1956) oder Fichtes ursprüngliche Einsicht (1967) schrieb, die Gemeinsamkeiten im Denken Hölderlins und Hegels herausstellte (Hegel im Kontext, 1971; Der Grund im Bewusstsein, 1992) oder die Summe seiner Theorie der Subjektivität zog (Denken und Selbstsein, 2007), stets suchte er nach dem Grund von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, von Subjektivität und Wissen. Dabei verdeutlichte er immer wieder von Neuem, dass diese Grundbegriffe der menschlichen Erkenntnis ihren Grund nicht in einem Endlichen haben können, sondern im Unbedingten, dem Absoluten wurzeln. Und so bleibt der am 17. Dezember 2022 im Alter von 95 Jahren verstorbene Dieter Henrich als einer von wenigen großen metaphysischen Denkern in einer angeblich nachmetaphysischen Welt in Erinnerung.

Dieter Henrich: Furcht ist nicht in der Liebe. Philosophische Betrachtungen zu einem Satz des Evangelisten Johannes. Klostermann Verlag: Frankfurt am Main 2022.

BESTELLEN