Debüt: Schöner als überall

Kristin Höller: Schöner als überall. Suhrkamp Nova 2019

Dieses Buch über unseren Webshop bestellen

Die Autorin der Rezension: Annina Afshari

«… wieso sollte ich mir eine Landschaft ansehen, wenn ich auch in ein Gesicht schauen kann?»
Noah und Martin sind auf dem Land aufgewachsen, eigentlich in einem Vorort, nicht richtig Stadt, nicht richtig Land, dafür stündlich ein Zug in beide Richtungen, eine Tankstelle und ein Bauernhof – aber nicht, wie man sich einen Bauernhof vorstellt, sondern eckig und mit viel Beton. Die Idylle wird von den Bewohner_innen der Reihenhaussiedlung trotzdem hochgehalten, denn: wo könnte es schöner sein als zuhause? Seit die beiden Freunde vor zwei Jahren nach München zogen, sind sie selten zurückgekehrt. Als sie allerdings eines Nachts diesen Speer der Münchner Athene – in einer betrunkenen Kletteraktion aus Versehen abgebrochen – entsorgen wollen, fahren sie intuitiv ins Dorf ihrer Eltern.
Dort ist alles wie immer, und während sich Noah bereitwillig wieder in dieses Gefüge aus Nestwärme und Fassadenspiel gibt, entdeckt Martin, dessen Gedankenstrom wir im Roman folgen, überall Erinnerungen an Mugo, seine erste grosse Liebe. Mugo, die immer einen Schritt voraus war und voller Wut auf die Welt, die sich damals auch Martin zu eigen gemacht hat.

«Ich habe mir oft gedacht, Noah geht mit einer Unbedarftheit durch die Welt, die kann man nur haben, wenn man eine Regendusche im Badezimmer hat.»
Obwohl sich Martin noch gut an den Ekel erinnert, mit dem er auf die, von Kristin Höller hyperrealistisch modellierte, mittelständische Reinlichkeit, die wohlgeordnete Kleinstadtfäulnis, geblickt hatte, als er selbst noch da wohnte, hat er doch eine unbestimmte Sehnsucht nach dieser Vergangenheit, denn nie war er weniger allein. Doch jetzt will alles nicht mehr so recht klappen: Mugo will nicht mehr in die von ihm zugeschriebene Heldinnenrolle passen, zwischen seiner Welt und jener seiner Eltern klafft eine unüberwindliche Lücke und sein bester Freund Noah befremdet ihn zusehends.

«Die versuchen doch auch nur irgendwie glücklich zu sein.»
Es ist manche Unbeholfenheit zu spüren zwischen den Menschen und gleichzeitig gibt es da eine Wärme, die sich eben in den unbedarften Gesten ausdrückt. Es ist beeindruckend, wie es Kristin Höller gelingt, diese flüchtigen Momente sprachlich zu binden.
Wir begleiten Martin in einem Lernprozess, in dem er sich zum ersten Mal seine wirklich eigene Meinung bildet in dem Raum, der sich zwischen den beiden Positionen von Mugo und Noah auftut. Ein kurzer aber emotionaler Aufstieg zu dem Punkt, an dem Martin, der sich meistens in erster Linie nach seinen Beziehungspersonen gerichtet hat, sagen kann: «Ich habe mich jetzt selber.»

«… dass alles, jede Mutter, jede Situation wirr ist und komplex wie ein unlösbares Puzzle, bei dem von Anfang an ein Teil fehlt»
Kristin Höller zeichnet in ihrem gelungenen Debüt ein Bild davon, wie schwierig es ist, sich gegenseitig zu verstehen, und wie unumgänglich es manchmal ist, loszulassen. Wie wichtig es ist, nicht nur ein Auge, sondern auch ausreichend Verständnis für die menschlichen Widersprüche zu entwickeln. Es ist eine feine Hommage an die Menschen, die eben seit immer zu einem gehören, auch wenn man sie irgendwann zurücklässt – an die Zuneigung und Liebe, die jenseits geteilter Meinungen und Realitäten steht. Mögen Handlung und Figuren manchmal gar harmlos scheinen, so ist das doch das Besondere an Martins Erzählweise, die umsichtige Versöhnlichkeit mit der er die verschiedenen Menschen betrachtet, auch wenn ihre Lebensentwürfe und Pläne für ihn selber zu eng sind.
Schöner als überall sticht durch die präzise Beobachtungsgabe der Autorin und ihr feines Gespür für die kleinen zwischenmenschlichen Gesten und die ihnen innewohnende Komik (und Tragik) hervor.
Dieser Roman ist all jenen zu empfehlen, die vom Dorf sind – und wir sind irgendwie alle vom Dorf.