Buchempfehlung: Roberto Simanowski – Todesalgorithmus – Das Dilemma der künstlichen Intelligenz

‹Todesalgorithmus› meint jene Künstliche Intelligenz (KI), die selbstbestimmend entscheidet, ob ein automatisiertes Auto, das in eine Unfallsituation verwickelt wird, eher die unbeteiligten Insassen oder den alkoholisierten Fahrer auf der Gegenfahrbahn, den vorschnellen Velofahrer oder aber die in Gedanken versunkene Passantin opfern soll. Die ursprüngliche Programmierung – etwa «der schwächere Verkehrsteilnehmer muss geschont werden» – bestimmt jeweils die fortlaufende Selbstbestimmung der KI.

Im globalen Massstab bestimmt ein vermessen gewordener Mensch, bestimmen in ihrer Macht entgrenzte Menschen über das Schicksal des Planeten. Geht die „Fahrt“ in derselben Weise weiter wie bisher, werden alle Menschen Opfer des Klimakollapses. Warum also nicht die Regierung an eine KI übergeben, die jetzt schon und immer besser imstande ist, die für ein Überleben aller Menschen notwendigen Bedingungen vorzugeben und rettende Massnahmen durchzusetzen? Allerdings setzt die Herrschaft der KI Sicherheit und Gehorsam gegen Freiheit und Entscheidung, nachdem in der Entscheidungsfreiheit die Verantwortung verspielt worden ist für mehr Profit, mehr Unterhaltung, mehr Macht.

Roberto Simanowski gelingt auf beängstigende wie herausfordernde Weise eine Analyse unserer allgemeinen aktuellen Klimakrise. Er geht dabei von der Extremsituation aus, in der wir uns jetzt befinden, und setzt ihr das andere Extrem entgegen: eine totalitäre KI-Herrschaft (die in China bereits im Gange ist …). Unausweichlich und ohnmächtig ordnen sich die Menschen unter. Das neue proklamierte Gute (die Rettung der Erde) ist das Ziel, und unser gehorsamer Gang ist der Prozess hin zu einer besseren Welt. – Kehrt der Mensch so in einen quasi paradiesischen Zustand zurück, vor seine Erkenntnisnahme?

Simanowski versteht es, aktuelle politische Szenarien und Situationen mit beinahe science-fiktionalen Konstruktionen zu verflechten. Gekonnt spinnt er uns ein in seine vielfältigen Spekulationen zur Moral der KI. Dabei dienen Theoriestücke aus der Philosophie und Religionsgeschichte dazu, dem neuen Reich der KI recht gute Grundmauern zu schaffen. Simanowskis Buch entlässt seine Leser nicht, sondern spannt sie ein im Sinne einer «List der Vernunft» (Hegel).

Matthias Staub

Rezension: Ernst Hubeli – Die neue Krise der Städte: Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert

Rotpunktverlag, Zürich 2020

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Diese Rezension enstand im Rahmen des Bands Nr. 75 des Widerspruch Magazins.

Die romantische Sehnsucht nach der selbstbestimmten Stadt

Am 23. April 2020 wurde nach zwei Tagen Diskussionen im Grossen Rat von Basel-Stadt eine verwässerte Umsetzung der Wohnschutzinitiative vom Juni 2018 angenommen. Die Sozialdemokratische Partei, das Grüne Bündnis und der Mieter*innenverband Basel kündigten unmittelbar darauf ein Referendum an, da die Umsetzung ihrer Meinung nach nicht den Forderungen der von 61.9 Prozent der Stimmbevölkerung angenommenen Initiative entspricht. Die Annahme selbst war bereits eine willkommene Überraschung und zeigt, dass die Wohnungsnot mittlerweile in grossen Teilen der städtischen Bevölkerung angekommen ist. Oder zumindest auch jene, die sich bis anhin vor Mieterhöhungen und Massenkündigungen geschützt sahen, erkennen, dass die Wohnungskrise nicht vor dem sogenannten Mittelstand halt macht.

Eine etwas progressivere Ausprägung desselben Wandels zeigt sich in Berlin, seit Jahren ein Brennpunkt von Immobilienspekulation und Wohnungskrise. Die Enteignung, das ehemalige Schreckgespenst der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, ist mit der Bewegung „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Auch hier ist der Berliner Senat nicht so bewegungsfähig wie die Bevölkerung: einen Monat nach dem Basler Grossratsentscheid, am 18. Mai, reichte die Enteignungs-Initiative Klage gegen den Berliner Senat ein, weil die Prüfung des mit 77’000 Unterschriften eingereichten Volksbegehrens nunmehr bereits fast ein Jahr dauert.

Dass in Deutschland offen über Enteignung diskutiert und in der Schweiz per Initiative das „Recht auf Wohnen“ in der Kantonsverfassung Basels verankert wird, zeigt: die Wohnungsfrage hat eine neue Dringlichkeit erreicht. Doch das Problem ist keineswegs neu und so sind auch die Lösungen, die heute vorgeschlagen werden, bereits vielfach diskutiert worden. 1872/73 veröffentlichte Friedrich Engels seine Analyse der damals grassierenden Wohnungsnot als eine Replik auf eine Reihe von Artikeln in der Zeitung Volksstaat. Er kritisiert die Vorstellung, die Wohnungsfrage isoliert von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen lösen zu können, da das Wohnen untrennbar mit unserer Vorstellung von Gesellschaft und mit den bestehenden Eigentums-, Produktions- und Arbeitsverhältnissen verbunden ist. „Erst durch die Lösung der sozialen Frage“, schreibt Engels (2015: 77), „wird zugleich die Lösung der Wohnungsfrage möglich gemacht. […] Zunächst wird aber jede soziale Revolution die Dinge nehmen müssen, wie sie sie findet.“

In diesem Sinne ist auch das Buch des Architekten und Städteplaner Ernst Hubeli, Die neue Krise der Städte, geschrieben, welches sich bereits im Untertitel als eine Aktualisierung von Engels’ Text zu erkennen gibt. Hubeli versucht, die Dinge, wie er sie findet, auszuloten und betrachtet dabei nicht nur die aktuellen Eigentumsverhältnisse am Wohnungsmarkt, sondern zunächst ganz allgemein die Vorstellung vom Wohnen in unserer Gesellschaft. Und die damit einhergehenden Träume vom Eigenheim, die in krassem Gegensatz nicht nur zur Realität einer Bevölkerung stehen, die zum überwiegenden Grossteil aus Mieter*innen besteht, sondern auch zur ökonomischen Realität. Denn in dieser geht mit dem Besitz des Eigenheims nicht Selbstbestimmung einher, sondern ein „Schuldenberg, der zum eigenen Gefängnis wird“ (S. 32). Das über Hypotheken finanzierte Eigenheim der Mittelklasse gliedert diese ins eigentumsideologische Geschäftsmodell ein, in die Armee aller Eigentümer*innen, die die Interessen der grossen Eigentümer*innen verteidigen soll. Die Subprime-Krise, die 2008 zur Weltwirtschaftskrise führte, machte freilich klar, dass die „Gemeinschaft der Eigentümer“ eine eingebildete war, deren Interessen letztlich vor allem institutionellen Grossanlegern dienten.

Hubeli erkennt darin ein Auseinanderdriften der Begriffe Wohnen und Gesellschaft, welches sich auch in den Wohnungen selbst offenbart, in der „Diskrepanz zwischen heterogenen Lebensformen und homogenen Wohnformen“ (S. 37–38). Im Segment der leistbaren Wohnungen führt das chronische Unterangebot zum Bau immer derselben, anachronistischen Raumkombinationen – „Wo Knappheit herrscht, ist alles begehrt.“ (S. 43) Und die Knappheit wird nicht weniger werden – seit Jahrzehnten ist die Zuwanderung zu den Städten konstant und aus der Gesamtoptik gibt es heute weltweit keine Alternative zu den Städten. Wie also ist die Stadt zu gestalten?

Zunächst ist diese Frage im Grunde nicht trennbar von der Wohnungsfrage. Allgemein kann gesagt werden: wichtig ist ein gesundes Stadtgefüge, das Richtungen festlegt aber weich genug ist, um sich seinen Bewohner*innen anzupassen. Hier gibt Hubeli einige interessante städtebauliche Betrachtungen und legt beispielsweise dar, wie mit Mikroverdichtungen in Baukostenmiete eine weitaus geeignetere Form der Wohnungsbeschaffung zur Verfügung steht als bei Wohnbauförderprogrammen für grosse Neubauprojekte in der Agglomeration.

Es folgt ein Abschnitt des Buches zur Frage der Enteignung, um neuen, leistbaren Wohnraum zu schaffen oder zu erhalten. Am Beispiel Berlins zeichnet Hubeli die diskurshistorische Wende nach, die letztlich dazu geführt hat, dass in Berlin die Enteignung von grossen Immobilienfirmen mehrheitsfähig geworden ist. Daran schliesst sich die Frage an, in welche Hände die so dem Markt entzogenen Wohnungen überführt werden sollen. Ein solidarisches Wohnungswesen kann nicht einfach jenen gehören, die die Immobilien zufällig bewohnen, denn „ohne rechtlich bindende Gemeinwohlorientierung gibt es keine Pflicht zum sozialen Vermieten“ (S. 107). Ein Blickwinkel, unter welchem es sich lohnen würde, auch das hiesige Wohngenossenschaftswesen mit seiner Gemeinnützigkeit einmal näher zu betrachten. Die Enteignungsbestrebungen in Berlin haben den weiteren Vorteil, dass sie privaten Boden rekommunalisieren und daher der Spekulation entziehen würden. Das ist vor allem in innerstädtischen Lagen relevant, wo die Bodenpreissteigerung ein Vielfaches mehr an Rendite verspricht als die Mieteinnahmen, was zu unbewohnten Luxuswohnungen in Stadtzentren führt, die lichterlos auf ihre Wertsteigerung warten. Neben einem mittlerweile in Berlin eingeführten Mietendeckel, der den Markt automatisch entlastet, spricht sich Hubeli hier auch für eine hohe Besteuerung von Bodeneigentum aus, dessen Wertzuwachs Eigentümer*innen heute leistungsfrei abschöpfen.

Der letzte Abschnitt des Buches trägt den Titel „Aneignung,“ und versucht das Wesen des Wohnens zu ergründen, das als Grundlage für eine geistige Rückeroberung der Städte dienen soll. Der Abschnitt enthält eine Fülle an Verweisen, von Lukács „transzendentaler Obdachlosigkeit“ zu Netflix’ Reality-TV-Show „Aufräumen mit Marie Kondo“ und ist etwas schwerer zu fassen als die Kapitel, die sich konkreteren Beispielen widmen. Dennoch macht es eine der grossen Stärken des Buches deutlich: Hubeli ist als Autor nie nur Architekt oder nur Städteplaner; er ist in seinen Ausführungen immer auch Soziologe und Philosoph. Das macht sein Buch auch dann interessant, wenn es bereits Bekanntes zusammenfasst und verleiht dem Text eine Spannung, die grundsätzlich anhält, wenngleich sie in den verschiedenen Abschnitten unterschiedlich ausgeprägt ist. Durch diese Art zu schreiben und zu denken wird Hubelis Buch mehr zu einer Streitschrift als zu einer Analyse. Und es gibt den Leser*innen Denkanstösse, die sich nicht im Bereich der Realisierungschancen, im gesetzlich oder ökonomisch Machbaren aufhalten, sondern die die Stadt und das Wohnen in einem offeneren, poetischen Rahmen denken lassen. Oder in Hubelis Worten: „Die romantische Sehnsucht erhellt die Grenzen der Vernunft. Sie stellt den ungebrochenen Glauben an das Machbare und Beherrschbare infrage; das Vernünftige wird gewissermassen verunreinigt, kommt zu sich selbst und kann sich verweltlichen.“ (S. 127)

Jürgen Buchinger

Werner Busch – Die Künstleranekdote

‘Anekdote’ meint wörtlich das ‘Nicht-Herausgegebene’, das bewusst Zurückgehaltene. Sie ist also nicht eine öffentliche, sondern eher eine private und intime Mitteilung, nicht eine allgemeine Aussage, sondern ein geheimes Bekenntnis, nicht eine Norm-, sondern eine Gegendarstellung. In diesem Sinne gehört die Anekdote eher zur Biografik als zu einer Geschichtsdarstellung.

Mit Biografischem befasst sich die Künstleranekdote im 18. Jahrhundert – Thema und Inhalt des neuen Werks von Werner Busch (u.a. «Das sentimentalische Bild»). Die Anekdote beschreibt «den geglückten unmittelbaren Naturzugriff des Künstlers» (8), ganz in der Tradition von Plinius. Zugleich jedoch steht sie im Wandel einer Geschichtsauffassung, die sich im 18. Jahrhundert ablöst vom ‘Exemplum’, hin zu einer Geschichtsschreibung, die von einem Studium der Quellen ausgeht. Darstellung und Beschreibung von geschichtlichen Ereignissen sind in der Folge konstruierbar, der Wahrheitsgehalt der historischen Erkenntnis ist relativiert. (8)

Die Anekdote ist also ein kleines Stück Dichtung und Wahrheit, das sich historischer Daten bedient, nur um etwas Richtiges und Wahres über die Person in ihrer Zeit auszusagen. (23)

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Buchempfehlung: Zeitsprünge – Basler Geschichte in Kürze

Das Historische Museum Basel feierte im letzten Jahr sein 125-jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass wurde die gleichnamige Ausstellung mit vielen eindrücklichen Exponaten eröffnet.

Aber das Buch ist nicht nur Begleiter dieser Ausstellung, sondern ein ganz besonderes Werk für Alle an Basels Geschichte Interessierten.

Das Besondere ist die Art der Präsentation. In beeindruckenden Bildern auf jeder Seite und angenehm kurz gehaltenen Beschreibungen wird die Geschichte unserer Stadt in Schlaglichtern, im Überblick von frühen menschlichen Spuren bis in die heutige Zeit, dargestellt.

„Zeitsprünge“ ist kein Geschichtsbuch im herkömmlichen Sinne, es verfolgt keine chronologische Abfolge. Der Schwerpunkt liegt, nach kurzen Rückblicken auf die ferne Vergangenheit, eher auf der jüngeren Zeit, der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, und städtebaulichen Entwicklung unserer Stadt während der letzten zwei Jahrhunderte. Kurz gefasst, spannend und aufschlussreich!

Esther Stich, Hofstetten, 02.10.2020

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Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abschieds.

In einer langsam voranschreitenden Erzählung schildert Melitta Breznik die letzten Tage ihrer Mutter: Vom Zerfall des Körpers, den inneren Kämpfen von Mutter und Tochter, aber auch vom immer wieder aufblitzenden Schalk der Sterbenden sowie vom gemeinsamen Erinnern an ein gutes als auch schlechtes Früher. Stimmungsvoll fängt Breznik die Szenerie ein und wird dem Thema mehr als gerecht. Die Lektüre vermittelt sachte die zunehmende Langsamkeit und Schwäche des Körpers, die sich bemerkbar machen. Genauso wie dem physischen wird auch dem psychischen Aspekt gedacht. Ängste, Gewissensbisse und Stress, die nur allzu gut nachvollziehbar sind, werden eindrucksvoll geschildert. Und dennoch kippt das Ganze nie in etwas Effekthascherisches. Die Wirkung ist auch so gegeben. Die vermittelte ruhige Art und Weise ist es schliesslich, die am Ende der Lektüre dazu führen kann, dass trotz des schweren Themas etwas Gutes bleibt: Trost.

Melitta Breznik: Mutter. Chronik eines Abschieds. Luchterhand 2020.

Patrik Svensson – Das Evangelium der Aale

Hanser, München, 2020

Diese sehr persönlich geprägte Geschichte des Aals versammelt vier verschiedene Umgangsweisen mit ‚Naturgeschichte‘.

(1) Eine autobiografische: Die Beziehung des Autors zum Vater erschliesst ihm die Beziehung zum Aal und der Natur, der Natur am Ort seines Vaters. Und umgekehrt bestimmt dann seine intensive Beschäftigung mit der Geschichte des Aals die Beziehung zum Vater.

(2) Eine historische: Alle Quellen einer wissenschaftlichen und literarischen Beschäftigung mit dem Aal, von Aristoteles über Freud und Günter Grass zu Boris Vian, sind erwähnt und ausführlich beschrieben; sie tragen wesentlich zur Geschichte des Aals bei.

(3) Eine philosophische: Der Philosoph Thomas Nagel verneint ein identifizierendes Bewusstsein zweier verschiedener Wesen. Ich kann mir erklären, wie ein anderes Wesen wahrnimmt, aber unmöglich vorstellen wie das ist und sich anfühlt. Insofern kann der Aal für den Menschen auch immer etwas Geheimnisvolles bewahren.

(4) Eine anthropomorphische: Im Gegensatz zu Thomas Nagel versuchte die Wissenschaftlerin Rachel Carson eine Methode, die eher der Fabel und dem Märchen eignen, eine Art Verpersönlichung des anderen Wesens. Nicht der analytische Verstand, sondern eine vermenschlichende Einbildungskraft ermöglicht, IN den Aal hineinzudenken und dann aus ihm die Welt wahrzunehmen – ihm näher zu kommen.

Die Erfahrungen und Erlebnisse des Aalbiografen Patrik Svensson gingen hingegen stets ins Gegenteilige. Je näher er dem Aal gekommen zu sein glaubte, desto mehr hat sich der Aal entzogen, solange, bis der Autor selbst ihn schliesslich ins Unerforschliche ziehen liess.

Aktuell er- und verhärtet sich diese Tendenz zur Tatsache. Der Aal stirbt aus und entschwindet (uns).

Der Titel des Buchs indes weist auf eine noch andere Geschichte – gleichsam auf eine geheime und mögliche Wiederkunft des Aals. Und es sind der Ton und der Stil dieser anderen Geschichte, in denen uns Patrik Svensson mit dem Aal vertrauter macht.

Lisa Taddeo, Three Women – Drei Frauen

Aus dem Amerikanischen von Maria Hummitzsch. Piper 2020, 416 Seiten

Lisa Taddeo erzählt in ihrem Roman die Geschichten der drei Frauen Sloane, Lina und Maggie: Um sich selbst und ihren Mann zu befriedigen, geht Sloane mit anderen Männern ins Bett und filmt sich dabei. Lina löst sich aus ihrer leidenschaftslosen Ehe mit Ed, um sich in eine heisse Affäre mit ihrer Jugendliebe Aidan zu stürzen. Maggie verliebt sich als Siebzehnjährige in ihren High-School-Lehrer Aaron Knodel, der mit ihr ein Verhältnis beginnt. Vier Jahre später zeigt sie ihn an wegen Verführung Minderjähriger – und der «Lehrer des Jahres» wird in allen Anklagepunkten freigesprochen.

Ganz ehrlich: Zeitweise würde man das Buch gerne weglegen, weil die Erzählungen nichts auslassen und teilweise tieftraurig und abscheulich sind. Und doch fesseln die Worte Taddeos ganz ungemein. Ihr ist es gelungen, in ihren Kapiteln drei ganz unterschiedliche Erzählstile zu gestalten, so gelingt es einem noch besser, sich in die Frauen hineinzuversetzen.

Nochmals: Nein, das sind keine angenehmen Geschichten zum Lesen, und doch zeigen sie auf erschreckende Weise exemplarisch auf, wie sehr das weibliche Begehren und die Sexualität dieser drei Frauen geprägt ist von ihren Biografien, den damit verbundenen Abhängigkeiten und der Bewertung der Gesellschaft – und zwar gleichermassen von Männern wie von Frauen!

Das Buch wurde seit seinem Erscheinen sehr kontrovers diskutiert: Manchen war es nicht divers genug (keine homoerotische Beziehung), für manche nicht feministisch genug (2x Klitoris, 23x Penis), für manche bedeutete es gar ein Rückschritt in Sachen Emanzipation. Ich persönlich finde, dass es ein wichtiges Buch ist. Es ist ein Weckruf, ein Zeichen, dass in Sachen Gleichstellung und Solidarität unter Frauen tatsächlich noch einiges zu tun ist. Besonders erschreckend ist vielleicht, dass Sloane, Lina und Maggie vor allem von anderen Frauen für ihr Begehren verurteilt und nicht gesehen werden. Taddeo schreibt im Epilog: «Selbst wenn Frauen Gehör finden, müssen es die richtigen Frauen sein, damit man ihnen zuhört. Weisse Frauen. Reiche Frauen. Schöne Frauen. Junge Frauen. Am besten all das in einem.» Und: «Wir dürfen sagen: Wir wollen vögeln, wen wir wollen. Wir dürfen aber nicht sagen: Und wir glauben, dass uns das glücklich macht.» Ja, das ist unbequem. Aber es lohnt sich, darüber nachzudenken!

Michael Hampe: Die Wildnis, die Seele, das Nichts. Über das wirkliche Leben

Hanser

Die Welt befindet sich im Ausnahmezustand. Draussen herrscht Chaos, die Versorgungslage ist prekär, die Zukunft ungewiss. Aaron Fisch, Verleger und Liebhaber der schönen Künste und des guten Essens, sitzt in seinem Haus fest, die Vorratskammer hat er in weiser Voraussicht mit Nahrungsmitteln vollgestopft. Nun versucht er sich an einer Biographie über seinen verstorbenen Freund und Dichter Moritz Brandt. Dabei kann er auf die Hilfe seiner intelligenten Computersoftware Kagami zählen. Sie hat nicht nur Zugriff auf ein enzyklopädisches Archiv, sondern auch auf Brandts Nachlass, bestehend aus Tagebucheinträgen, Notizen und drei ausführlichen philosophischen Essays.

Die oft sehr ausgreifenden Dialoge zwischen Aaron und Kagami werden von den drei Themen angestossen, die sowohl dem Buch als auch den drei Essays von Brandt den Titel geben. In unterschiedlichen Phasen seines Lebens hat sich Brandt ausführlich mit der Wildnis, der Seele und dem Nichts auseinandergesetzt. Von Hampe im Nachwort als «philosophischen Roman» bezeichnet, verbindet das Buch geschickt Erzählung und reflektierte Vertiefung. Da sind beispielsweise Tagebuchnotizen Brandts aus der Zeit, als er in Cambridge bei der berühmten Philosophin Dorothy Cavendish studiert. In Gegenüberstellung mit Notaten Cavendishs und den Essays ergeben diese ein detailreiches Bild der beteiligten Charaktere und machen Dringlichkeit und Triebkräfte der jeweiligen Denkwege nachvollziehbar.

Im Verlauf des Buches wird mehr und mehr klar, dass Brandts Schreiben von der Frage nach dem wirklichen Leben motiviert war. Was versprechen sich Menschen von der Konfrontation mit der Wildnis? Welchen Ursprungs ist die Vorstellung einer Seele? Wie geht man mit der Unausweichlichkeit des Todes um? Hinter all diesen Fragen steckt das Bedürfnis sich zu verändern und die Vorstellung, es müsste so etwas wie ein echtes, authentisches Leben geben. Doch – so eine implizite These Hampes – genau dieses Bedürfnis hält uns oft davon ab, unser wirkliches Leben zu meistern. Denn, so die ebenso implizite These: Unsere Gedankenausflüge sind immer in der uns umgebenden Welt und unserem Charakter verankert.

Hampes Buch ist unterhaltsam und ernst zugleich. Und obwohl philosophische Positionierung und Wertung weitgehend in die Figuren gelegt wird, offenbaren sich bei der Lektüre doch gewisse Ansichten über Philosophie oder zumindest deren akademische Formen. So zeigt sich der Konflikt unvereinbarer Positionen – der Kampfplatz endloser Streitigkeiten – als scheinbar grundlegende Konstellation philosophischer Auseinandersetzung. Oder wie Brandt in einem seiner Essays sagt: «Philosophie wird da interessant, wo es um unvereinbare Grundvoraussetzungen des Denkens, Handelns und Bewertens geht. Denn genau an solchen Stellen gerät sie an die Grenzen der Argumentation.» Die argumentativ abgestützte Behauptung kann hier nichts mehr beitragen.

Ein ähnlicher Gedanke findet sich bereits in vorangegangenen Büchern Hampes; so etwa im systematischer angelegten «Die Lehren der Philosophie – Eine Kritik». In Abgrenzung zu einer doktrinären Philosophie, wie sie an den Universitäten verbreitet ist, wird dort eine narrative Philosophie vorgeschlagen. Hampes neues Buch ist in dieser Hinsicht eine gelungene Probe aufs Exempel. Gelungen auch deshalb, weil der allzu menschliche Drang nach Vereindeutigung ebenfalls zu seinem Recht kommt. Denn selbst wenn, wie Aaron Fisch nahelegt, der Chor daraus entspringender (Selbst-)Behauptungen meist einem Jahrmarkt der Eitelkeiten gleichkommt, so scheint doch klar, dass das nicht zwingend so sein müsste.

Debüt: Schöner als überall

Kristin Höller: Schöner als überall. Suhrkamp Nova 2019

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Die Autorin der Rezension: Annina Afshari

«… wieso sollte ich mir eine Landschaft ansehen, wenn ich auch in ein Gesicht schauen kann?»
Noah und Martin sind auf dem Land aufgewachsen, eigentlich in einem Vorort, nicht richtig Stadt, nicht richtig Land, dafür stündlich ein Zug in beide Richtungen, eine Tankstelle und ein Bauernhof – aber nicht, wie man sich einen Bauernhof vorstellt, sondern eckig und mit viel Beton. Die Idylle wird von den Bewohner_innen der Reihenhaussiedlung trotzdem hochgehalten, denn: wo könnte es schöner sein als zuhause? Seit die beiden Freunde vor zwei Jahren nach München zogen, sind sie selten zurückgekehrt. Als sie allerdings eines Nachts diesen Speer der Münchner Athene – in einer betrunkenen Kletteraktion aus Versehen abgebrochen – entsorgen wollen, fahren sie intuitiv ins Dorf ihrer Eltern.
Dort ist alles wie immer, und während sich Noah bereitwillig wieder in dieses Gefüge aus Nestwärme und Fassadenspiel gibt, entdeckt Martin, dessen Gedankenstrom wir im Roman folgen, überall Erinnerungen an Mugo, seine erste grosse Liebe. Mugo, die immer einen Schritt voraus war und voller Wut auf die Welt, die sich damals auch Martin zu eigen gemacht hat.

«Ich habe mir oft gedacht, Noah geht mit einer Unbedarftheit durch die Welt, die kann man nur haben, wenn man eine Regendusche im Badezimmer hat.»
Obwohl sich Martin noch gut an den Ekel erinnert, mit dem er auf die, von Kristin Höller hyperrealistisch modellierte, mittelständische Reinlichkeit, die wohlgeordnete Kleinstadtfäulnis, geblickt hatte, als er selbst noch da wohnte, hat er doch eine unbestimmte Sehnsucht nach dieser Vergangenheit, denn nie war er weniger allein. Doch jetzt will alles nicht mehr so recht klappen: Mugo will nicht mehr in die von ihm zugeschriebene Heldinnenrolle passen, zwischen seiner Welt und jener seiner Eltern klafft eine unüberwindliche Lücke und sein bester Freund Noah befremdet ihn zusehends.

«Die versuchen doch auch nur irgendwie glücklich zu sein.»
Es ist manche Unbeholfenheit zu spüren zwischen den Menschen und gleichzeitig gibt es da eine Wärme, die sich eben in den unbedarften Gesten ausdrückt. Es ist beeindruckend, wie es Kristin Höller gelingt, diese flüchtigen Momente sprachlich zu binden.
Wir begleiten Martin in einem Lernprozess, in dem er sich zum ersten Mal seine wirklich eigene Meinung bildet in dem Raum, der sich zwischen den beiden Positionen von Mugo und Noah auftut. Ein kurzer aber emotionaler Aufstieg zu dem Punkt, an dem Martin, der sich meistens in erster Linie nach seinen Beziehungspersonen gerichtet hat, sagen kann: «Ich habe mich jetzt selber.»

«… dass alles, jede Mutter, jede Situation wirr ist und komplex wie ein unlösbares Puzzle, bei dem von Anfang an ein Teil fehlt»
Kristin Höller zeichnet in ihrem gelungenen Debüt ein Bild davon, wie schwierig es ist, sich gegenseitig zu verstehen, und wie unumgänglich es manchmal ist, loszulassen. Wie wichtig es ist, nicht nur ein Auge, sondern auch ausreichend Verständnis für die menschlichen Widersprüche zu entwickeln. Es ist eine feine Hommage an die Menschen, die eben seit immer zu einem gehören, auch wenn man sie irgendwann zurücklässt – an die Zuneigung und Liebe, die jenseits geteilter Meinungen und Realitäten steht. Mögen Handlung und Figuren manchmal gar harmlos scheinen, so ist das doch das Besondere an Martins Erzählweise, die umsichtige Versöhnlichkeit mit der er die verschiedenen Menschen betrachtet, auch wenn ihre Lebensentwürfe und Pläne für ihn selber zu eng sind.
Schöner als überall sticht durch die präzise Beobachtungsgabe der Autorin und ihr feines Gespür für die kleinen zwischenmenschlichen Gesten und die ihnen innewohnende Komik (und Tragik) hervor.
Dieser Roman ist all jenen zu empfehlen, die vom Dorf sind – und wir sind irgendwie alle vom Dorf.

Nur einmal

Kathleen Collins:  Nur einmal, Storys, Aus dem Amerikanischen von Autor Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg, Kampa Verlag 2018.

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Die Autorin der Rezension: Annina Afshari

«Entweder man will etwas, oder man will es nicht. Begründungen sind wie Lächeln, Mann, sinnloses Getue»
Kathleen Collins ist nicht die erste Frau, die bisher in der Kanonbildung übergangen wurde. Es ist umso wichtiger, dass ihre Storys nun übersetzt und endlich auf deutsch veröffentlicht wurden.
Kathleen Collins wurde 1942 in New Jersey geboren. 1962 schloss sie sich dem SNCC (Student Nonviolent Coordinating Committee) an. Später studierte sie Filmgeschichte an der Sorbonne. Ab 1974 hatte Collins eine Professur am City College of New York inne und war nebst ihrer literarischen Arbeit auch als Regisseurin tätig.
In «Nur einmal» sind Storys versammelt, die Kathleen Collins 1988 bei ihrem frühen Tod zurückgelassen hat. Davon wurde zu Lebzeiten Collins’ nur eine einzige veröffentlicht und dies, wie es im Nachwort zur Ausgabe heisst, in «einem obskuren Literaturmagazin». Weder ihre literarischen noch ihre cineastischen Werke fanden Beachtung, bis 2016 endlich die Storys erschienen und Collins’ Spielfilm «Losing Ground» (aus dem Jahre 1982) erstmals in die Kinos kam.

«Es gehörte zu den schöneren Momenten, als ich begriff, dass kein Mensch den Qualen der Einsamkeit entkommt.»
Collins’ Texte sind bisweilen gnadenlos ehrlich, es ist hier eine Autorin am Werk, die sich nicht vor den menschlichen Abgründen scheut. Viele der Texte lassen einen autobiographischen Bezug vermuten, legen dabei aber auch offen, wie persönliche Geschichten immer mit den politischen Umständen verwoben sind. Die Bürgerrechtsbewegung, der Kampf gegen Rassismus und Segregation, sind dauernd präsent – prallen dabei aber nicht nur auf den Widerstand weisser Rassisten, sondern auch auf die als konservativ-ängstlich beschriebene Stimmung einer Schwarzen Mittelschicht. Kathleen Collins Literatur entzieht sich einer zu schlichten Lesart und wehrt sich gegen allzu platte Er- oder Bekenntnisse.

«Er fuhr mit ihr zu ihren Eltern nach New Jersey, wo sie ihm im Garten die Rosen ihres Vaters zeigte… ihm ihre Kindheit zeigte und alles, was pikste und wehtat und schwer zu verzeihen war.»
Die Geschichten sind gleichzeitig geprägt von einer starken Sehnsucht nach einer «echten» Liebe, immer neue Anläufe bringen immer neue Formen von Hindernissen und Enttäuschungen hervor. Liebe, die sich an der rauhen Oberfläche elterlicher Engstirnigkeit zerschrammt, an den gesellschaftlichen Verhältnissen seine Unmöglichkeit erprobt, an plumpem Narzissmus scheitert oder ganz profan in einer Lichtregie-Anweisung der Autorin langsam ausgedimmt wird. Ein Vokabular des Scheiterns und zugleich eine immer wieder vor Kraft strotzende Sprache, ein energisches Aufschwingen zu den Höhepunkten, in ihrer ganzen Vergänglichkeit.

«Eine Zeitlang verstanden sich die Menschen. Innerhalb des «Eine Zeitlang verstanden sich die Menschen. Innerhalb des Schmelztiegels. Innerhalb des Schmelztiegels.»
Kathleen Collins’ Storys entwickeln innert kürzester Zeit einen starken Sog, sie sind literarisch so klug und pointiert arrangiert, dass beim Lesen bisweilen eine ungeahnte Mischung an Gefühlen evoziert wird. Es ist ein sehr dialogisches Erzählen, in dem wir viele Gespräche von Figuren mitverfolgen können, ebenso oft fühlt der/die Leser_in sich jedoch selbst hineingezogen in das Gespräch, das sich über die Kontinente, über die Zeit hinweg auftut. Wer bereit ist, diesen Stimmen zuzuhören, kann dabei nicht nur einiges über die Vergangenheit, sondern auch viel für die Zukunft lernen.